Frankreichs Präsident Macron hat die Lebensarbeitszeit per Dekret verlängert. Das hat die Bewegung gegen sein Rentengesetz nur angestachelt. Um es noch zu stoppen, wäre ein unbefristeter Generalstreik nötig – und möglich. Von John Mullen
Am Donnerstag, den 23. März, fand der neunte Aktionstag gegen Macrons Plan, die Lebensarbeitszeit um zwei Jahre zu verlängern, statt. Millionen von Demonstrant:innen protestierten in hunderten von Städten, mehr als in den vorangegangenen Wochen. Es waren viel mehr junge Menschen zu sehen als zuvor. Viele demonstrierten zum ersten Mal, wütend darüber, dass Macron das Gesetz ohne eine Abstimmung im Parlament durchgesetzt hat.
Die Hälfte der öffentlichen Verkehrsmittel des Landes und die Hälfte der Schulen wurden bestreikt. Mehrere Universitäten und hunderte von Gymnasien wurden blockiert. Wichtige Touristenattraktionen wie der Eiffelturm und das Schloss Versailles wurden bestreikt. Der öffentlich-rechtliche 24-Stunden-Nachrichtensender France-info spielte am Donnerstagmorgen Rockmusik, da seine Journalist:innen die Arbeit niedergelegt hatten. Auch die Mitarbeiter von »Le Monde«, der angesehensten der überregionalen Tageszeitungen, hatten sich dem Streik angeschlossen. »Wir müssen alle unsere Kräfte in die Schlacht werfen«, erklärte der Anführer der radikalen Linken Jean-Luc Mélenchon. »Das Volk wird nicht aufgeben, Herr Präsident.«
Strom für Krankenhäuser statt für Rathäuser
Die Streiks der Müllabfuhr in mindestens 15 Städten gegen die Rentenreform gehen in die zweite Woche. In den Straßen von Paris stapeln sich 10.000 Tonnen Müll. Die Streiks in den Häfen und Flughäfen sowie bei Energieversorgern und anderen lassen nicht nach. Im ganzen Land wurden Blockaden von Autobahnen, Treibstoffdepots, Busgaragen, Großhandelszentren, Steuerzentren, Kraftwerken, Müllverbrennungsanlagen, Häfen und Bahnlinien organisiert. Energiearbeiter haben unter der Bezeichnung »Robin Hood« in einigen Gebieten die Stromverteilung übernommen und organisieren Stromabschaltungen für die Rathäuser der Macronisten oder die regionalen Polizeipräsidien sowie kostenlosen Strom für Krankenhäuser und ähnliche Einrichtungen.
Am Mittwochabend wurde das vornehme Premierenpublikum einer zeitgenössischen Tanzvorstellung im renommierten Pariser Théâtre du Châtelet von Demonstrierenden der Theatergewerkschaft gestört, die Transparente schwenkten und Lieder sangen (ein Teil des Publikums verließ angewidert den Saal). Am Donnerstagmorgen blockierten Kolonnen von Traktoren in einigen Regionen die Hauptstraßen, während eine Gruppe von 300 Schauspieler:innen und Persönlichkeiten aus Kultur und Unterhaltung einen offenen Brief veröffentlichte, in dem sie Macron aufforderten, das Gesetz zurückzuziehen.
Der Generalstreik hat noch nicht stattgefunden
Die ganze Woche über gab es jeden Abend in zahlreichen Städten nächtliche Demonstrationen, bei denen Tausende von jungen Demonstrant:innen von gewalttätigen Polizisten gejagt und Mülltonnen in den Straßen angezündet wurden. Donnerstagnacht wurden die Türen des Rathauses von Bordeaux und Teile einer Polizeistation in Lorient in Brand gesetzt. Bei einer Demonstration in Rouen wurde einer Lehrerin der Daumen durch eine Polizeigranate weggesprengt.
Es ist unmöglich, all die verschiedenen Streiks und Proteste aufzuzählen, aber es ist wichtig festzustellen, dass der Generalstreik, den wir brauchen, noch nicht stattgefunden hat.
Macron ist politisch isoliert
Nachdem Macron am 16. März sein Rentengesetz per Dekret durchgesetzt und damit eine Abstimmung im Parlament vermieden hatte, die er verloren hätte, und nachdem er mit neun Stimmen einen Misstrauensantrag im Parlament überstanden hatte, der die Regierung und ihre Premierministerin Elizabeth Borne gestürzt hätte, wandte sich Macron am Mittwoch, den 22. März, in einem großen Mittagsinterview an die Nation. Er warnte sein Publikum vor den Gefahren des »Aufruhrs« und versuchte, die jungen Demonstrant:innen, die diese Woche in den Straßen von Paris Mülltonnen verbrannten, mit Trumps rechtsextremen Putschist:innen zu vergleichen, die am 6. Januar 2021 das Kapitol angriffen. Er bestand darauf, dass seine Reform notwendig sei, um unser Rentensystem zu retten.
Das mindeste, was man sagen kann, ist, dass er praktisch niemanden überzeugt hat. Meinungsumfragen haben ergeben, dass 61 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, dass sein Interview zu mehr Wut geführt hat. Sieben Prozent waren der Meinung, dass es zur Beruhigung der Lage beitragen würde, und 27 Prozent waren der Meinung, dass es nichts ändern würde. Selbst die Mainstream-Presse äußerte sich sehr kritisch. »Es wird schwer sein, jetzt einen Ausweg aus der Situation zu finden«, schrieb ein großer Leitartikel. Laurent Berger, der Vorsitzende des am wenigsten kämpferischen der großen Gewerkschaftsbünde (derjenige, der vor vier Jahren Macrons früheren, gescheiterten Versuch, die Renten zu kürzen, unterstützt hatte), beschuldigte Macron der Lüge und erklärte, die Bewegung müsse weitergehen.
Es ist noch möglich, Macrons Gesetz zu Fall zu bringen
Die Polizeigewalt nimmt zu. Die Regierung hat sogar versucht, die Beschäftigten der Ölraffinerien zur Arbeit zu zwingen, was noch mehr Wut hervorgerufen und andere Gruppen veranlasst hat, sich den Streiks anzuschließen. Es gibt also keine Anzeichen für eine Beruhigung der Bewegung. Doch gleichzeitig weigern sich die nationalen Gewerkschaftsführer, die die regelmäßigen Aktionstage festgelegt haben, weiterhin, zu einem unbefristeten Generalstreik aufzurufen. Angesichts des derzeitigen Ausmaßes der Wut und der Tatsache, dass 90 Prozent der Beschäftigten gegen die Rentenreform sind, sollte dies die offensichtliche Option sein.
Es ist nicht leicht, in die Zukunft zu blicken. Macron hat jetzt technisch das Recht, sein Gesetz nächste Woche zu unterzeichnen. Unter normalen Umständen ist es viel schwieriger, Widerstand gegen ein Gesetz zu organisieren, das bereits in Kraft getreten ist. Aber dies sind keine normalen Umstände, und dies ist Frankreich. Im Jahr 2006 wurde ein Gesetz zur Verschlechterung der Arbeitsbedingungen für Jugendliche unter 21 Jahren und zur Einführung einer zweijährigen Probezeit für junge Menschen in der Arbeitswelt verabschiedet und unterzeichnet, bevor der damalige Premierminister Juppé aufgrund eines gewaltigen sozialen Aufruhrs den Rückzug antrat und Präsident Chirac gezwungen war, sein Gesetz in den Papierkorb zu werfen.
Druck auf Gewerkschaften für Generalstreik
Macron scheint keinen Plan mehr zu haben, der über die polizeiliche Repression und die Beschuldigung der Linken für das »schreckliche Chaos auf unseren Straßen« hinausgeht. Drei Millionen Menschen haben am Donnerstag demonstriert, und am Donnerstagabend wurden 172 von der Polizei verhaftet. Nicht gerade die Apokalypse.
Wir müssen so viel Druck wie möglich auf die nationalen Gewerkschaftsführer ausüben, damit sie sehr bald einen unbefristeten Generalstreik ausrufen. Sie wollen das nicht tun, weil sie die Welt mit den Augen professioneller Verhandlungsführer sehen. Aber der Generalstreik ist notwendig, und kein anderes Gremium hat das Prestige und die Autorität, um ihn durchzusetzen. Es ist noch alles möglich. Der nächste Aktionstag ist für Dienstag, den 28. März geplant. Wir tun alles dafür, dass er größer wird als der letzte.
John Mullen ist ein revolutionärer Sozialist, der in der Region Paris lebt und die France Insoumise unterstützt. Seine Website lautet randombolshevik.org
Bildquelle: John Mullen
Schlagwörter: Frankreich, Generalstreik, Macron, Rentenreform