Wenn frustrierte Kleinbürgerinnen und -bürger sich zu gewalttätigen Parteien und Bewegungen zusammenschließen, droht eine besondere Form der Unterdrückung, meint Jan Maas
»Der Faschismus lebt« lautete die Überschrift einer Kolumne von Jakob Augstein auf »Spiegel online« anlässlich der Gewalt gegen Geflüchtete im vergangenen Herbst. Und schon 2014 beschrieb Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble den französischen Front National nach seinem Erfolg bei den Europawahlen als »faschistisch«. Der Begriff des Faschismus scheint eine Wiederbelebung zur Beschreibung gegenwärtiger politischer Parteien und Bewegungen zu erleben – und das ist gut so.
Denn um zu beschreiben, was sich derzeit – beispielsweise in der AfD – abspielt, ist es nötig, über den Begriff des Rassismus – den auch CSU-Chef Horst Seehofer schürt – hinauszugehen. Den Begriff des Faschismus in die Gegenwart zu holen, ist aus zwei Gründen wichtig: Erstens um eine Vorstellung davon zu bekommen, in welche Richtung eine Partei wie die AfD oder eine Bewegung wie Pegida sich entwickeln könnte. Zweitens weil der Charakter einer Partei oder Bewegung entscheidend dafür ist, welche Strategie gegen sie wirksam sein kann.
Faschismus als Bewegung
Allerdings gibt es eine ganze Reihe von Definitionen des Faschismus, die sich zum Teil widersprechen und zum Teil ergänzen. Eine relativ umfassende stammt von dem linken Historiker und Sozialforscher Karl Heinz Roth aus dem Jahr 2004: »Der Faschismus war eine gegenrevolutionäre Bewegung der herrschenden Klassen, Mittelschichten und proletarischen Randgruppen, die nach dem Ersten Weltkrieg in den meisten europäischen Ländern gegen die sozialen Massenaufstände der Arbeiter, Kleinbauern und einfachen Soldaten gerichtet war und eine radikale wie gewalttätige ›Neugründung‹ ihrer jeweiligen Nation vorantrieb. Sie verbreiterte sich in der Weltwirtschaftskrise, eroberte (…) teilweise die politische Macht und führte danach zu einem in seiner Qualität neuartigen Raub- und Vernichtungskrieg nach innen und außen. Die ›volksgemeinschaftlich erneuerte‹ Nation sollte zum Kern einer restaurierten oder neu geschaffenen imperialistischen Herrschaftssphäre gemacht und eine spezifische Phase der ›endlosen Kapitalakkumulation‹ eingeleitet werden. In diesem Sinn haben wir zwischen Bewegungs-, System- und Kriegsfaschismus zu unterscheiden.«
Wie hier wird der Begriff des Faschismus heute oft rein historisch verwendet, also für das italienische Regime der Jahre 1922 bis 1945, höchstens noch für die NS-Diktatur 1933 bis 1945. Dies erweckt den Eindruck, als sei der Faschismus nur eine Erscheinung der Vergangenheit. Die unauslöschlichen Bilder von Massenaufmärschen, Krieg und Holocaust verstärken diese Tendenz noch. Das kann dazu führen, faschistische Tendenzen in gegenwärtigen rassistischen und nationalistischen Bewegungen und Parteien zu übersehen.
Inflationäre Verwendung
Auf der anderen Seite neigen manche dazu, den Begriff des Faschismus fast inflationär zu benutzen. Teile der Linken bezeichnen beispielsweise auch Militärdiktaturen wie in Chile unter General Augusto Pinochet von 1973 bis 1990 als faschistisch. Der maoistische Kommunistische Bund erkannte im Westdeutschland der 1970er Jahre eine »schrittweise Faschisierung von Staat und Gesellschaft«. Und in der linken kurdischen Bewegung ist es derzeit verbreitet, die türkische AKP als faschistisch zu bezeichnen.
Auch wenn wahrscheinlich nicht beabsichtigt ist, auf diese Weise die faschistischen Verbrechen zu relativieren – auf alle Fälle wird der Begriff des Faschismus so seiner Trennschärfe beraubt. In seiner Schrift »Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats« von 1932 warnte der russische Revolutionär Leo Trotzki: »Es genügt nicht, das Wesen des Faschismus zu begreifen. Man muss ihn als politisches Phänomen, als bewussten und hinterlistigen Feind einschätzen können.«
Faschismus als bewusster Feind
Trotzki meinte damit, dass es nicht ausreicht, Merkmale, Programmpunkte oder Organisationsformen zu verallgemeinern und dann bestehende Parteien und Bewegungen daraufhin abzuklopfen. Der Faschismus ist dazu zu anpassungsfähig. Was ihn ausmacht, sind Ziele, Methoden und soziale Basis. Hier hilft ein kurzer Blick auf den Weg des Faschismus an die Macht. Historisch geht der Begriff zurück auf die Bewegung der Schwarzhemden unter Benito Mussolini in Italien.
Grob umrissen: Nach dem Ersten Weltkrieg erlebte Italien eine Arbeiterbewegung mit massenhaften Fabrikbesetzungen. Dagegen gründeten sich ab 1919 antisozialistische Kampfgruppen ehemaliger Soldaten und Unteroffiziere unter dem Namen »Fasci«. Im Jahr 1920 hatte die sozialistische Bewegung die Chance verpasst, eine andere Gesellschaft aufzubauen. Gleichzeitig glaubten Teile der Herrschenden nicht mehr, dass der demokratische Staat sie vor einer starken Arbeiterbewegung schützen könne.
Ende 1920 überfielen hunderte bewaffnete Faschisten die erste Sitzung des sozialistischen Gemeinderats von Bologna. Nach diesem Muster griffen Faschisten in den folgenden Monaten links regierte Gemeindeverwaltungen und Institutionen der Linken überall im Land an. Ein Jahr darauf gründeten Faschisten die Partito Nazionale Fascista (Nationale Faschistische Partei, PNF). Ende 1922 machte der italienische König ihren Führer Mussolini zum Ministerpräsidenten einer rechten Koalitionsregierung. Ab dem Jahr 1925 herrschte Mussolini dann als Diktator.
Faschismus und Kapitalismus
Die deutsche Variante des Faschismus speiste sich aus ähnlichen Quellen. In Kurzform: Nach der Novemberrevolution 1918 bildeten ehemalige Soldaten und Unteroffiziere die antisozialistischen Freikorps, aus denen kleine Parteien hervorgingen. Aus einer von ihnen wurde später die NSDAP. Während der Weltwirtschaftskrise ab dem Jahr 1929 gelang es der Partei, die Wut eines wachsenden Teils der Bevölkerung über Massenarbeitslosigkeit und Verelendung gegen die Linke und das Judentum zu richten.
Die bewaffnete »Sturmabteilung« der NSDAP agierte Ende der 1920er Jahre als brutale Bürgerkriegsarmee. Ab 1931 unterstützte eine nennenswerte Minderheit der deutschen Herrschenden Adolf Hitlers NSDAP. Nachdem die konservativen Regierungen Brüning, von Papen und Schleicher es nacheinander nicht geschafft hatten, die Krise zu überwinden, unterstützten die deutschen Herrschenden schließlich Hitler und machten ihn 1933 zum Reichskanzler.
Das Zusammenspiel von Kapital und Nazis veranlasste den Sozialphilosophen Max Horkheimer schon 1939 zu der Bemerkung: »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen.« Womit Horkheimer allerdings nicht nur die Unterstützung der deutschen Herrschenden für Hitler meinte, sondern auch die Verwüstungen der Weltwirtschaftskrise, welche die Voraussetzungen für den Aufstieg der Nazis geschaffen hatte.
Faschismus an der Macht
In seinem »Porträt des Nationalsozialismus« von 1933 fasste Trotzki zusammen: »Der deutsche wie der italienische Faschismus stiegen zur Macht über den Rücken des Kleinbürgertums, das sie zum Rammbock gegen die Arbeiterklasse und die Einrichtungen der Demokratie zusammenpressten. Aber der Faschismus, einmal an der Macht, ist alles andere als eine Regierung des Kleinbürgertums […] Dem Faschismus gelang es, [seine Politik] in den Dienst des Kapitals zu stellen.«
Trotzki unterscheidet zwischen der sozialen Basis des Faschismus als Bewegung – das Kleinbürgertum – und des Faschismus an der Macht – das Kapital. Lange waren Theorien verbreitet, die Faschisten vor allem als Marionetten der Herrschenden verstanden. Sie gehen zurück auf den Vorsitzenden der Komintern, Georgi Dimitrow, der den Faschismus an der Macht als »offene, terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals« ansah.
Der blinde Fleck dieser so genannten Agententheorien liegt darin, dass der Faschismus gerade deswegen eine Machtoption für das Kapital ist, weil er eine gewalttätige kleinbürgerliche Massenbewegung ins Feld führen kann – auch wenn diese ihm nicht besonders attraktiv erscheint. Sowohl die italienischen als auch die deutschen Herrschenden zögerten zunächst, bevor sie sich für den Faschismus entschieden. Trotzki schrieb dazu: »Die Großbourgeoisie liebt den Faschismus ebensowenig wie ein Mensch mit kranken Kiefern das Zahnziehen.«
Terror gegen Arbeiterbewegung
Die Konstante im Faschismus als Bewegung und an der Macht ist der Terror gegen die Arbeiterbewegung. Auch das brachte der russische Revolutionär klar auf den Punkt: »Die Aufgabe des Faschismus besteht nicht allein in der Zerschlagung der proletarischen Avantgarde, sondern auch darin, die ganze Klasse im Zustand erzwungener Zersplitterung zu halten.« Die Linke und die Gewerkschaften waren unter den ersten Opfern des faschistischen Terrors.
Den Hass des Kleinbürgertums auf die Arbeiterbewegung auf der einen und das große Kapital auf der anderen Seite lenkte der Faschismus in die Bahn eines rassistischen Nationalismus. Die Funktion des Antisemitismus für die Nazis erklärte Trotzki im »Porträt« so: »Während er sich vor dem kapitalistischen System verbeugt, bekriegt der Kleinbürger den bösen Geist des Profits in Gestalt des polnischen Juden im Kaftan, der oft keinen Groschen in der Tasche hat.«
Eine ähnliche Funktion hat heute der Rassismus, beispielsweise in der Pegida-Bewegung und in der AfD, der sich in erster Linie gegen den Islam und Geflüchtete richtet. Aber auch der Hass auf die Arbeiterbewegung hat überlebt. Er zeigt sich nicht nur in den gewerkschaftsfeindlichen Positionen der AfD, sondern auch in Angriffen von Faschisten auf Gewerkschaftsaktionen, zuletzt am 1. Mai 2015 in Weimar. Auch die Wut über die Errungenschaften der Frauenbewegung ist in diesem Zusammenhang zu sehen.
Im Keim ersticken
Mit der Vorstellung des Faschismus als flexibler politischer Bewegung kommt man zu dem Schluss, dass er nach 1945 nie weg war, sondern nur verschiedene Formen angenommen hat. Heute agieren Faschisten – nicht nur – in der AfD und in Pegida. Zwar bevölkern keine Bürgerkriegsarmeen die Straßen und ebenso wenig setzen die deutschen Herrschenden auf eine Übergabe der Macht an sie, doch auch die gegenwärtigen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse sind nicht von Ewigkeit.
Auf dem Reichsparteitag der NSDAP im Jahr 1933 blickte Hitler zurück auf den Weg der Partei an die Macht: »Allmählich entstand im Staat der Demokratie der Staat der Autorität, im Reiche der jammervollen Gesinnungslosigkeit ein Kern fanatischer Hingebung und rücksichtsloser Entschlossenheit. Eine einzige Gefahr konnte es gegen diese Entwicklung geben: Wenn der Gegner (…) mit letzter Brutalität am ersten Tag den ersten Keim der neuen Sammlung vernichtete.«
Entschlossener Widerstand gegen jeden Versuch faschistischer Organisierung ist allerdings nicht nur deswegen nötig, weil in der Zukunft möglicherweise eine große Gefahr lauern könnte. Schon heute bedrohen Faschisten mit Brandanschlägen und Überfällen Leib und Leben von Geflüchteten wie organisierten Linken. Darum: Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit!
Mehr im Internet:
Leo Trotzkis Schriften über Deutschland sind im Marxists’ Internet Archive verfügbar:
www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/faschism.htm
Zu Empfehlen sind beispielsweise:
»Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats« und
»Portrait des Nationalsozialismus«
Über antifaschistische Strategie außerdem:
»Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?«
Weiterlesen:
Einen guten kurzen und kritischen Überblick über die Geschichte des Faschismus und seiner Analyse – unter bemerkenswerter Auslassung von Leo Trotzkis Beitrag – bietet:
Guido Speckmann/Gerd Wiegel
Faschismus
Papyrossa Verlag
Köln 2012
127 Seiten
9,90 Euro
Schlagwörter: Adolf Hitler, AfD, Alternative für Deutschland, Antifa, Antifaschismus, Antifaschisten, Faschismus, Faschisten, Kapitalismus, Leo Trotzki, NSDAP