Am 12. November fand in Chile erneut ein landesweiter Generalstreik statt. Die Gewerkschafterin Tamara Muñoz Valenzuela erläutert, warum die Bewegung auf der Straße bleibt, obwohl die Regierung Zugeständnisse gemacht hat.
marx21: Wie viele Menschen waren an dem Generalstreik beteiligt?
Tamara Muñoz Valenzuela: Rund vier Millionen. Davon etwa 90 Prozent der Beschäftigten im öffentlichen Dienst und 60 Prozent der Beschäftigten im privaten Sektor.
Was bedeutet diese Beteiligung im Vergleich zum letzten Generalstreik?
Das bedeutet einen großen Fortschritt für die Arbeiterklasse. Nicht nur in Bezug auf die Größe und die Masse der Bewegung, sondern auch in Bezug auf die gesellschaftlich sehr breit aufgestellten Forderungen.
Generalstreik mit vier Millionen
Es standen nicht nur Gewerkschaftsforderungen auf der Tagesordnung. Dies hängt auch mit der Arbeit zusammen, die wir bei der CUT leisten. Wir öffnen uns und arbeiten mit anderen sozialen Organisationen zusammen.
In welchen Regionen fand der Generalstreik statt?
Der Streik war landesweit.
Wo waren die größten Demonstrationen?
Im Allgemeinen waren sie überall sehr groß, aber aufgrund der politischen Struktur des Landes sind sie in den großen Städten am sichtbarsten. Man muss auch berücksichtigen, dass in 15 der 16 Regionen des Landes für diesen Tag der Ausnahmezustand ausgerufen und eine Ausgangssperre verhängt worden war.
Welche Teile der Arbeiterklasse waren besonders stark vertreten?
Der öffentliche Sektor mit einer Teilnahme von 90 Prozent der Beschäftigten am Streik. Außerdem waren im privaten Sektor Handel, Einzelhandel, Dienstleistungen und der Transportsektor stark vertreten. Im produzierenden Sektor waren es strategisch wichtige Bereiche wie Häfen und Energiewirtschaft und zu einem geringeren Teil bestimmte Sektoren des Bergbaus.
Was fordern die Gewerkschaften in der Protestbewegung?
Eine Sozialagenda mit zehn Forderungen; darunter ein Monatsgehalt von mindestens 500.000 Pesos, eine gleichwertige Rente, ein Warenkorb mit Grundbedürfnissen an Dienstleistungen wie Strom, Wasser, Gas, Telefon, und so weiter, ein Recht auf Wohnen, Bildung und Gesundheit, eine konstituierende Versammlung für eine neue Verfassung, um nur einige zu nennen.
Wie hat die Regierung auf den Generalstreik reagiert?
Sie hat die Repression verschärft.
Und wie reagieren die Gewerkschaften ihrerseits auf die Polizeibrutalität ?
Selbstversorgung und Selbstverteidigung. Wir haben Informationskanäle über Verletzungen der Menschenrechte institutionalisiert und wir unterstützen Betroffene von Gerichtsverfahren.
Haben die Gewerkschaften von Anfang an an den Protesten teilgenommen?
Ja, wir haben schon im letzten Jahr aktive Streiks begonnen, um später einen Generalstreik auszurufen.
Wie hat sich die gewerkschaftliche Beteiligung während der Proteste entwickelt?
Sie ist beständig gestiegen. Dieser Generalstreik fand erst in der dritten Woche der Mobilisierungen statt.
Was bedeutet die Teilnahme der Arbeiterklasse an den Protesten?
Alles in Allem ist das einer der Faktoren, die der Bewegung ihre Breite verliehen haben, da die gesamte Struktur der Arbeit in Frage gestellt wird. Von dem Zeitpunkt an, zu dem man ein aktiver Beschäftigter wird, bis zum Ruhestand. Ein Beispiel dafür sind die Renten und das monatliche Mindesteinkommen.
Welche Folgen hat der 40-jährige Neoliberalismus für die Arbeiterklasse?
Ein permanenter Rückschritt beim Arbeitsrecht und eine ständige Zunahme der prekären Beschäftigung, die zeigen, dass Chile eine Vorreiterrolle bei der Automatisierung der Arbeit gespielt hat, die bereits vor etwa zehn Jahren in der Industrie und jetzt allgemein im Dienstleistungssektor umgesetzt wurde.
Und für die Arbeiterbewegung?
Prekarisierung und Einschränkung der kollektiven Rechte durch Beschränkung der Möglichkeit von Kollektivverhandlungen nur auf das Unternehmen, Verbot von branchen- oder unternehmensübergreifenden Verhandlungen, Prekarisierung der kollektiven Rechte durch die rechtliche Genehmigung der Ersetzung von Beschäftigten während eines Streiks durch die alte Gesetzgebung, und in der aktuellen Gesetzgebung durch eine verdeckte Ersetzung von Beschäftigten durch die jüngste Einführung des Konzepts der Mindestdienstleistungen.
Was bedeutet es, dass in dem neoliberalen Musterland Chile so eine soziale Bewegung entsteht?
Das bedeutet, dass das neoliberale System durch die Atomisierung der Organisationen und der Menschen selbst einen Prozess vollzogen hat, durch den wir ein Bewusstsein des Einzelnen für die Auswirkungen haben, die das System auf jeden und jede hat. Durch die Demonstrationen und sozialen Bewegungen ist es gelungen, dieses individuelle Bewusstsein kollektiv zu kanalisieren, was im Fall von Chile sicherlich neu ist.
In Bolivien hat die Armee Präsident Evo Morales gestürzt. Wie groß ist das Risiko, dass die Armee noch härtere Maßnahmen gegen die Bewegung in Chile ergreifen wird?
Es ist sehr gering. Nicht, weil es nicht im Interesse der Wirtschaftsklasse läge, hier aktiv zu werden, sie haben es bereits mit dem Ausnahmezustand und dem Militär auf der Straße versucht. Aber es ist aus zwei Gründen schwierig. Der erste Grund kommt von der Bewegung selbst und liegt darin, dass zur Zeit in Chile die Existenz von zwei gegenläufigen Kräften nicht als Argument für eine militärische Intervention dienen kann.
Breite Bewegung in Chile
In Chile ist die Bewegung gesellschaftlich breit aufgestellt und dadurch legitimiert. Daher ist eine Inszenierung wie im damaligen Kontext (Anm. der Übersetzerin: antikommunistische Inszenierung Pinochets) nicht möglich. Der zweite Grund ist ein interner und liegt in der Art und Weise, wie der Übergang zur Demokratie in Chile stattgefunden hat. Die Militärs waren damals die einzigen – wenn auch nur wenige – die für die Verletzung der Menschenrechte durch die Diktatur strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden. Einige davon sind noch immer inhaftiert und das hat das Militär nicht vergessen.
Welche direkten Auswirkungen hatte der Generalstreik?
Der Streik hat dazu beigetragen, die Einheit der Bewegung zu stärken. Dies hat den Kongress und die Exekutive dazu gezwungen, die Verfassung aus der Zeit der Diktatur aufzugeben, die den Rahmen für dieses extrem neoliberale System darstellt. Kongress und Exekutive sind allerdings die am stärksten diskreditierten Institutionen, in die die Bürgerinnen und Bürger am wenigsten Vertrauen haben. Daher war ihr Vorschlag für eine neue Verfassung nicht in der Lage, die Mehrheit der Menschen auf der Straße zu erreichen, die misstrauisch sind.
Der Vorschlag der Regierung besagt, dass eine verfassunggebende Versammlung zu gleichen Teilen aus Bürgerdelegierten und Abgeordneten zusammengesetzt sein soll. Alle Artikel der neuen Verfassung bedürften der Zustimmung von zwei Dritteln der Delegierten. Dich überzeugt dieser Prozess für eine neue Verfassung nicht?
Nein.
Kannst du ein oder zwei Argumente nennen?
Erstens, weil er die sozialen Bewegungen nicht einbezieht, d.h. weder die Geschlechterparität, noch die Ureinwohnerinnen und Ureinwohner, noch LGTBI, noch soziale Bewegungen berücksichtigt. Zweitens, weil es keine Volksabstimmung gibt und weil das Zwei-Drittel-Quorum eine Hürde ist, die von den Bürgerinnen und Bürgern vorgeschlagenen Ziele überhaupt erreichen zu können.
Ganz kurz zum Schluss: Was sind die Pläne für die nächsten Wochen?
Mobilisierungen. Weitermachen mit den Cabildos (kommunale Räte).
Vielen Dank für das Gespräch.
(Die Fragen stellte Jan Maas. Übersetzung: Franziska Wöckel.)
Tamara Muñoz Valenzuela ist Vizepräsidentin für Internationale Beziehungen der CUT (Gewerkschaftsdachverband), Präsidentin der National Federation of Call Center Workers.
Foto: cameramemories (Auf dem Schild steht: Piñera ist schlecht, das ganze verdammte System ist schlecht)
Schlagwörter: Arbeiterklasse, Chile, Generalstreik, Lateinamerika, Südamerika