Die Kampagne »Genug ist Genug!« (G!G) will den Klassenkampf beflügeln. Aber wie soll das gehen? Unsere Gesprächspartnerin hat Antworten
Nora Berneis ist aktiv in der Bewegung »Genug ist Genug!« sowie in der LINKEN in Berlin-Neukölln.
marx21.de: Nora, du bist aktiv bei »Genug ist Genug!«, einer Kampagne, die bundesweit linke Proteste gegen die Krisenpolitik der Regierung aufbauen will. Das Vorbild dafür ist »Enough is Enough!« aus Großbritannien. Aber lassen sich Protestkampagnen aus anderen Ländern einfach kopieren?
Nora Berneis: Nein, sicherlich nicht eins zu eins. Aber wir können viel von den Erfahrungen in anderen Ländern lernen. »Enough is enough« ist ein sehr spannendes Beispiel dafür, wie aus verschiedenen Kämpfen und Streiks eine landesweite Massenbewegung geformt werden kann. In Großbritannien gab es riesige Proteste dagegen, dass die aktuelle kapitalistische Krise auf dem Rücken der Lohnabhängigen ausgetragen wird. So eine Bewegung brauchen wir in Deutschland auch. Und wir finden es auch richtig, dass gewerkschaftlich Aktive und ihre Kämpfe eine zentrale Rolle in der Protestbewegung spielen. Denn bei den Beschäftigten liegt ein entscheidender Machthebel, um Druck auf Politik und Bosse aufzubauen.
Anders als in Großbritannien, das dieses Jahr einen deutlichen Aufschwung gewerkschaftlicher Kämpfe erlebt, ist in Deutschland die Zahl der Streiktage aber weiter auf niedrigem Niveau. Fehlt damit nicht eine wesentliche Voraussetzung für solch eine Kampagne?
Dass die Bedingungen hier in vielerlei Hinsicht anders sind, ist richtig. Aber auch in Deutschland haben Beschäftigte in den letzten Jahren in entschlossen geführten Streiks für ihre Interessen gekämpft – etwa in den Krankenhäusern oder erst kürzlich im Hafen. An vielen Orten gibt es darüber hinaus betriebliche Kämpfe um Haus-, Firmen- oder Konzerntarifverträge, die meist unter dem Radar überregionaler Medien bleiben, aber lokal und in ihrer Summe auch bundesweit bedeutsam sind. Und es stehen große Tarifrunden an, allen voran im öffentlichen Dienst von Bund und Kommunen, aber auch bei der Deutschen Post.
Meist verlaufen große Tarifrunden in Deutschland aber doch ziemlich unspektakulär und es bleibt bei ein oder zwei Warnstreiks. Erwartest du diesmal mehr?
Ja, das tue ich. Ohne massiven Druck wird sich die Arbeitgeberseite nicht bewegen und angesichts einer Inflation von zehn Prozent bedeutet jeder einstellige Abschluss einen Reallohnverlust. Dieses Jahr sind die Reallöhne bereits so stark gesunken wie noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik. Die Beschäftigten spüren das natürlich. Und das erhöht auch den Druck auf die Gewerkschaftsführungen.
Aber die Abschlüsse in der Metall- und Elektroindustrie und auch in der Chemiebranche in diesem Herbst blieben deutlich unter der Inflationsrate und das bei langen Laufzeiten. Nach ein paar Warnstreiks ließen die Gewerkschaften sich mit Einmalzahlungen abspeisen.
Ja, der Problemdruck durch die Preissteigerungen bedeutet nicht automatisch, dass die Gewerkschaften kämpfen, um Reallohnverluste abzuwenden, oder dass große Streikbewegungen vorprogrammiert sind. Das haben die sehr sozialpartnerschaftlich orientierten Industriegewerkschaften IGBCE und IG Metall mit ihren schlechten Abschlüssen gerade erst wieder bewiesen. Schon die Forderungen der Gewerkschaften lagen hier unter der aktuellen Inflation.
Aber bei der anstehenden Tarifrunde im öffentlichen Dienst sieht es anders aus. Hier fordern die Gewerkschaften 10,5 Prozent, mindestens aber 500 Euro mehr im Monat. Das ist eine Kampfansage. Und auch bei der Tarifrunde der Deutschen Post übernimmt ver.di mit der Forderung nach 15 Prozent mehr Lohn eine Vorreiterrolle im Kampf um einen Ausgleich der Inflation für die Beschäftigten.
Erwartest du hier große Streikbewegungen?
Ich hoffe es! Sicher ist: Nur mit ein paar Warnstreiks wird kein auch nur halbwegs zufriedenstellendes Ergebnis erkämpft werden können. Deshalb gilt es jetzt, den Beschäftigten, die kämpfen wollen, den Rücken zu stärken. Eine breite Protestbewegung auf den Straßen wäre da Gold wert. Und gleiches gilt natürlich auch andersherum: Starke Streikbewegungen würden die Krisenproteste auf eine völlig neue Stufe heben. Deshalb gilt es beides zu verbinden.
Hier will »Genug ist Genug!« ansetzen und Proteste gegen die Preissteigerungen, die soziale Schieflage und die Krisenpolitik der Bundesregierung mit Lohnkämpfen und tariflichen Auseinandersetzungen verbinden. Wie soll das gehen?
In Berlin haben wir Mitte Oktober eine Auftakt-Rally der Kampagne organisiert. Dort standen Beschäftigte verschiedener Branchen im Mittelpunkt, die in ihren Reden von ihrer Lage und ihren Kämpfen berichtet haben. Aus dem Publikum konnten politische Gruppen dann ihre Solidarität mit den Forderungen der Beschäftigten erklären. Am Ende stand die gemeinsame Verabredung, sich weiter zu vernetzen sowie in den Betrieben und Stadtteilen für den Aufbau linker Krisenproteste zu mobilisieren. Solche Rallys werden mittlerweile auch in anderen Städten im ganzen Land abgehalten.
»Genug ist Genug!«-Auftaktrally in Berlin
Was sind eure konkreten Forderungen?
Wir fordern 1000 Euro Wintergeld, die dauerhafte Einführung des 9-Euro-Tickets, die sofortige und konsequente Deckelung von Gas- und Strompreisen, die Sozialisierung der Energiewirtschaft, die Besteuerung der Krisenprofiteure und eine kräftige Erhöhung von Löhnen und Gehältern.
Wie ist das Verhältnis von »Genug ist Genug!« zu anderen linken Krisen-Bündnissen, die momentan versuchen, Protest auf die Straße zu tragen?
Solidarisch und ergänzend: Die Rallys, auf denen kämpferische Beschäftigte, Betroffene der Krise und Aktivist:innen zusammenkommen, sind das Kernelement und die Besonderheit unserer Kampagne. Lokale Bündnisse können das sowie auch unser Material nutzen, wenn sie das wollen. Gleichzeitig bilden sich an manchen Orten auch neue Bündnisse, die unter dem Label von »Genug ist Genug!« Proteste organisieren.
Bislang sind die Proteste von links im »Heißen Herbst« in ihrer Mobilisierungskraft noch recht überschaubar geblieben. Stattdessen sind es die AfD und andere Rechte, die teilweise im Wochentakt Zehntausende auf die Straße mobilisieren und damit den Protest gegen die Bundesregierung dominieren. Woran liegt das und wie lässt sich das ändern?
Die Mobilisierungskraft der Rechten ist zum einen eine Folge ihrer Verankerung als Protestpartei gegen die etablierte Politik – insbesondere, aber nicht nur im Osten. Viele derer, die heute den Aufrufen der AfD, »Freien Sachsen« und anderen Rechten und Nazis folgen, waren auch schon bei »Pegida« und dann bei den Corona-Protesten auf der Straße. Diese Menschen werden wir mit linken Krisenprotesten wahrscheinlich nicht mehr erreichen. Aber ähnlich wie bei den Corona-Protesten besteht auch jetzt wieder die Gefahr, dass es den Rechten gelingt, mit ihrer Protestdynamik noch weitere Teile der Bevölkerung an sich zu binden – wahrscheinlich ist diese Gefahr heute sogar noch größer, weil die Krise so viele Menschen unmittelbar betrifft. Vielerorts gibt es für Menschen, die ihren Unmut auf die Straße bringen wollen, keine Alternative zu den rechten Aufmärschen. Diese müssen wir aufbauen, um ein Abdriften immer größerer Bevölkerungsteile nach rechts zu verhindern.
Du hast es selbst gesagt: Höcke und Co. scheinen ihren neuen »Pegida«-Moment zu haben. Bräuchte es da nicht dringender breite Gegenproteste als den Versuch eines linken Gegenangebots?
Es braucht beides. Wir dürfen den Nazis und Rechten nicht die Straße überlassen und müssen dagegenhalten, wo immer sie aufmarschieren. Aber angesichts einer der tiefsten Krisen in der Geschichte der Bundesrepublik und der fatalen und unsozialen Politik der Bundesregierung, die auf eine Massenverarmung hinausläuft, können wir die Kritik und den Widerstand nicht den Rechten überlassen, sondern müssen die Regierung von links unter Druck setzen.
Wie wollt ihr euren Protest von dem der Rechten abgrenzen?
Indem wir solidarisch füreinander eintreten, indem Kolleg:innen und Aktivist:innen, die von Rassismus betroffen sind, selbstverständlich Teil jeder Veranstaltung und jeder Aktion sind. Soziale Kämpfe sind immer auch antirassistische Kämpfe, feministische Kämpfe, Kämpfe gegen Diskriminierung. Zu uns wird sich kein Rechter verirren.
Die Teilnehmerzahlen der Demonstrationen Ende Oktober in mehreren Städten, zu denen Gewerkschaften, Sozialverbände, Campact, BUND und andere aufgerufen haben – auch DIE LINKE hat mobilisiert –, sind unter den Erwartungen geblieben. Warum folgen bislang so wenige den linken Protestaufrufen gegen die Krise?
Die Leute, die von der Krise betroffen sind und bei denen es jetzt echt knapp wird, sehen mehrheitlich nicht, wie eine Demo ihnen helfen soll. Darum halten wir die Rallys für so wichtig, weil sie unglaublich Mut machen und unsere kollektive Handlungsmacht zeigen. Gleiches gilt für unseren Fokus auf Tarifauseinandersetzungen. Wir können die Inflation nicht aufhalten, aber wir können und müssen dagegen kämpfen, dass wir sie aus unseren Taschen bezahlen.
Das Interview führte Martin Haller.
Schlagwörter: Gewerkschaften, Inflation