In Griechenland können sich viele keine Krankenversicherung mehr leisten. Medizinisches Personal und Hilfswillige organisieren eine solidarische Krankenversorgung für sie. marx21-Leser Peter Oehler berichtet von seinen Erfahrungen als Helfer
Wer in der Esopou, einer Straße in Fußnähe zum Hauptbahnhof von Thessaloniki, an der Hausnummer 24 vorbeikommt, wird nicht vermuten, dass sich dahinter – im ersten Stock – eine Einrichtung der Solidarität und Selbstorganisation befindet, so unscheinbar das ganze Entrée. Das Logo neben der Tür erinnert eher an eine Kindertagesstätte, mit dem darunter stehenden Namen »Koinoniko Iatreio Allileggyis« fängt ein Nichtgrieche auch nichts an.
Das umliegende Viertel wirkt nüchtern und sachlich, dabei in keinster Weise verarmt, hier ist auch das Zentrum der Lederwarenfachgeschäfte Thessalonikis. Nebenan liegen faule Hunde eingerollt auf dem Bürgersteig, man hat ihnen Decken hingelegt, damit sie es auch bequem haben.
»Koinoniko Iatreio Allileggyis« heißt auf deutsch »Soziale Klinik der Solidarität«. Im November 2014 habe ich dort für drei Wochen ehrenamtlich mitgearbeitet. Der Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ) aus Maintal hatte mich mit Vasilis Tsapas in Kontakt gebracht, einem Arzt, der hauptberuflich auf der Intensivstation eines großen Krankenhauses in Thessaloniki arbeitet, sich aber auch sehr in der KIA engagiert, und so kam meine Mitarbeit dort zu Stande.
Gegründet im Hungerstreik
Die Gründung der KIA liegt schon einige Jahre zurück. Im Januar/Februar 2011 machten in Griechenland 300 maghrebinische Flüchtlinge einen Hungerstreik, mit dem sie für einen legalen Aufenthaltsstatus kämpften. 50 von ihnen waren in Thessaloniki interniert. Im dortigen Arbeiterzentrum betreuten einige Engagierte die Hungerstreikenden medizinisch.
Nach Beendigung des Hungerstreiks kam die Idee auf, eine soziale Krankenstation für Flüchtlinge aufzubauen. So entstand im November 2011 die soziale Klinik der Solidarität in Thessaloniki mit dem Ziel, Flüchtlingen ohne Papiere eine kostenlose Gesundheitsversorgung inklusive kostenloser Medikamente anbieten zu können. Sie ist somit eine der ersten sozialen Kliniken in Griechenland.
Aber schon sehr schnell zeigte sich, dass der Bedarf einer medizinischen Grundversorgung bei der griechischen Bevölkerung eher noch größer ist, da immer mehr Menschen keine Krankenversicherung mehr haben. Man spricht von über 30 Prozent. Über 50 Prozent der Kranken stammen heute aus Griechenland.
Mit Hilfe der Gewerkschaften
In Thessaloniki ist die KIA in Räumlichkeiten untergebracht, die der Gewerkschaftsdachverband GSEE zur Verfügung gestellt hat. Da es sich hierbei nur um wenige Behandlungszimmer handelt, erinnert die KIA eher an eine Arztpraxis oder Krankenstation als an eine Klinik sprechen. Auffällig sind die beiden Zahnarztstühle im größten Behandlungszimmer.
Zur KIA in Thessaloniki gehören mehrere hundert Personen, viele Ärztinnen und Ärzte unterschiedlichster Fachrichtungen, aber auch Menschen, die beruflich sonst gar nichts mit dem Gesundheitswesen zu tun haben und sich hier unentgeltlich und mit hohem persönlichen Einsatz engagieren.
Insbesondere die Ärztinnen und Ärzte arbeiten meist hauptberuflich in Krankenhäusern oder ihren Praxen, ihr Engagement bei der KIA findet also zusätzlich zu ihren oftmals schon sehr ausgedehnten Arbeitszeiten im Schichtbetrieb statt.
Versammlungen nach der Sprechstunde
Von den mehr als fünfzig Mitarbeitern der KIA, die ich bei meinem Aufenthalt kennengelernt habe, kommen die meisten ein- bis zweimal pro Woche für einen halben Tag. Es engagieren sich auch viele Rentner bei der KIA, Arbeitslose weniger. Die KIA ist geöffnet von Montag bis Freitag, jeweils von 10 bis 14 Uhr und von 18 bis 21 Uhr, wobei es abends immer richtig voll wird.
Hinzu kommen die Versammlungen der KIA, da diese basisdemokratisch organisiert ist, die oftmals bis weit in die Nacht hinein dauern. Die KIA ist dabei unabhängig von staatlichen Einrichtungen, Kirchen oder Unternehmen, und das mit voller Absicht. Sie nimmt nur Spenden von Privatpersonen, Gewerkschaften und sozialen Strukturen an, die aber auch aus Italien, Frankreich oder Deutschland kommen.
Solidarität der Praxen und Labore
Es gibt weitere Fachärztinnen und -ärzte im Stadtgebiet Thessaloniki, die zwar nicht in den Räumlichkeiten der KIA behandeln, sich aber solidarisch zeigen wollen, und deshalb in ihren eigenen Praxen kostenlose Behandlungen durchführen. Dazu kommen Laboratorien, die beispielsweise Bluttests ohne Bezahlung machen.
Ist bei Unversicherten eine Operation notwendig, so ist es gängige Praxis, sie hierfür an der Verwaltung vorbei in ein entsprechendes Krankenhaus zu schleusen. Solcherart Aktivismus überschreitet die Grenzen der Gesetze, aber die Verhältnisse im griechischen Gesundheitswesen sind krass. Ich habe mehrfach gehört, dass Neugeborene quasi als Geiseln im Krankenhaus blieben, bis die Eltern die Kosten der Geburt bezahlt hatten.
Hilfe in der Apotheke
Da sich die KIA selbst organisiert, es also auch keinerlei Hierarchie gibt, ist es schwer, als Außenstehender Fuß zu fassen. Ich habe in den zweieinhalb Wochen, die ich vor Ort war, halbtags, also drei bis vier Stunden täglich gearbeitet, mal vormittags, mal nachmittags. Dabei habe ich kleinere elektrische Reparaturen durchgeführt, auch mal einen PC wieder zum Laufen gebracht.
In erster Linie habe ich mich in der Apotheke eingebracht. In zwei Zimmern in einem Nachbarhaus füllen Regale mit sortierten Medikamenten alle Wände. Meist arbeiten hier zwei bis fünf Personen. Sie prüfen eingehende gespendete Medikamente von Privatpersonen, die über Apotheken eingesammelt werden, bezüglich Zustand, Inhalt und Verfallsdatum sortieren sie alphabetisch.
Einmal während meines Aufenthalts kamen drei größere Pakete mit Medikamentenspenden aus Heidelberg an. Hier war es dann meine Aufgabe, deutsche Medikamente über den oder die Wirkstoffe den in Griechenland gebräuchlichen Medikamenten zuzuordnen, unter Benutzung entsprechender Tabellenbücher.
Hilfe, aber keine Alternative
Mittlerweile soll es insgesamt 35 solcher sozialen Kliniken der Solidarität im ganzen Land geben, zum Beispiel eine weitere in Thessaloniki, mehrere in Athen, eine in Larissa, in Drama und anderswo, die im Rahmen von KIA lose miteinander verbunden sind. Dazu kommen andere solidarische Einrichtungen im Gesundheitsbereich, die unabhängig von KIA arbeiten.
Die Forderung »medizinische Versorgung ist keine Ware«, das heißt ein kostenloses öffentliches Gesundheitswesen für alle, wird durch das ehrenamtliche Engagement und die kostenlose Medikamentenausgabe vorweggenommen. Dabei wird die Ausrichtung der KIA von den Mitgliedern unterschiedlich gesehen.
Die meisten sehen KIA zuallererst als eine politische Aktion, dann erst als soziale und karitative Einrichtung bzw. Unterstützung. Wenn allerdings die soziale Hilfe der KIA dazu führt, dass der Staat meint, dass doch alles so okay ist, und sich deshalb auch nichts ändert, dann wäre damit nichts erreicht.
Alle auf Augenhöhe
KIA steht auch dafür, das eigene Leben gemeinsam in die eigenen Hände zu nehmen. Das Personal der sozialen Kliniken tritt seinen Patientinnen und Patienten als Partner entgegen. Vasilis Tsapas sagte: »Wir stehen auf derselben Ebene mit unseren Patientinnen und Patienten.«
In einem Interview brachte Tsapas das klar auf den Punkt: »Wir sind keine Wohltäter. Wir sprechen von Solidarität. Wir müssen einander helfen. Wir sitzen alle in einem Boot.«
Darüber hinaus organisiert die KIA Veranstaltungen, nimmt an Demonstrationen teil, macht Aktionen in Krankenhäusern und verfasst Texte für die Presse.
Die Krise ist überall
Durch den großen Andrang bei der KIA, insbesondere in den Abendstunden, zeigt sich die wirkliche Armut Griechenlands. Viele Menschen können es sich einfach nicht mehr leisten, sich in einer regulären Praxis oder einem Krankenhaus behandeln zu lassen.
Dabei ist diese Entwicklung nicht nur auf Griechenland beschränkt. In einem anderen Interview sagte Tsapas: »Es ist sehr wichtig festzustellen, dass dieses Problem jetzt in Griechenland ist, aber dieses Problem wird nicht in Griechenland bleiben. Die Krise ist nicht eine Krise der faulen Griechen, der bösen Italiener, der Spanier, die viel zu viel Geld von den Banken geliehen haben. Der Grund der Krise ist das System, das kapitalistische System, Kapitalismus. Also wird die Krise zu allen Ländern in Europa kommen, schneller oder nicht so schnell, aber die Krise wird an jede Tür jedes Landes klopfen.«
Die wesentlichen Ziele in Griechenland hat Irene Papavassiliou, eine Mitarbeiterin in der KIA in Thessaloniki, mir gegenüber prägnant formuliert: »Bei der solidarischen Klinik geht es nicht nur um Gesundheit, sondern die Idee einer anderen Gesellschaft, die auf Solidarität, Kooperation und sozialen Leistungen wie öffentliche Gesundheitsversorgung und Bildung für alle basiert.«
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