In Großbritannien musste die Zentralbank, die Bank von England, massiv in die Finanzmärkte eingreifen, um einen größeren Zusammenbruch zu verhindern. Ökonomen befürchten, dass das nur der Vorbote einer neuen Weltfinanzkrise ist. Wir haben deshalb ein Interview dazu mit dem marxistischen Ökonomen Joseph Choonara übersetzt. Übersetzung Thomas Weiss
Zentralbanken wie die Bank von England, die US-Notenbank und die Europäische Zentralbank beeinflussen über die Zinssätze, wie billig oder teuer es ist, sich Geld zu leihen. Sie tun dies, indem sie den Zinssatz ändern, zu dem sie den Geschäftsbanken, die Einlagen bei ihnen halten, Zinsen zahlen.
Zurzeit erleben wir Inflation. Die Nachfrage, die sich während der Covid-Lockdowns aufgestaut hatte, stieß auf ein durch diese Lockdowns gestörtes Angebot. Dazu kam der russische Einmarsch in die Ukraine und die vom Westen verhängten Sanktionen. Die Unternehmen geben die höheren Kosten in den Preisen weiter, um so ihre Profite zu halten.
Die Zentralbanken wollen die Kreditaufnahme verteuern, indem sie die Zinssätze anheben. Dann wächst die Wirtschaft langsamer und die Preise steigen nicht mehr so stark. Dies ist aber ein ziemlich plumpes Instrument, wenn die Inflation durch steigende Energiekosten importiert wird.
Diese Methode ist auch deshalb problematisch, weil in den letzten anderthalb Jahrzehnten der Kapitalismus von den sehr niedrigen Zinsen abhängig geworden ist. Es gibt inzwischen viele hoch verschuldete Unternehmen. Eine Erhöhung der Zinssätze wird viele davon zum Scheitern bringen. Davon wird die Wirtschaft leiden. Womöglich lösen die Zentralbanken eine tiefe und langanhaltende Rezession aus. Es gibt einige Anzeichen dafür, dass dies in Großbritannien bereits geschieht.
Warum gefällt den Märkten die Politik der Konservativen nicht?
Die Politik von Premierministerin Liz Truss und Schatzkanzler Kwasi Kwarteng stellt eine Abkehr von früheren konservativen Regierungen dar. Zur Zeit von Premierminister David Cameron und Schatzkanzler George Osborne sorgte die Bank von England für extrem niedrige Zinsen und kaufte Wertpapiere auf. Diese Maßnahmen, kombiniert mit brutalen Sparmaßnahmen zum Abbau des Haushaltsdefizits und der Staatsverschuldung, führten die Wirtschaft aus der Rezession von 2008/2009 wieder heraus.
Auch unter Premierminister Boris Johnson und Schatzkanzler Rishi Sunak blieben die Zinssätze niedrig. Aber es gab auch massive staatliche Eingriffe in die Wirtschaft. Während der Pandemie unterstützte der Staat etwa ein Drittel der Arbeiter:innen. Johnson war kein fanatischer Verfechter der Sparpolitik. Ihm ging es eher darum, ärmere Wähler in ehemaligen Labour-Gebieten für sich zu gewinnen. Johnson und Sunak waren bereits zur Finanzierung ihrer Politik auch die Steuern zu erhöhen.
Schuldenfinanzierte Steuersenkungen
Truss und Kwarteng haben einen ganz anderen Ansatz. Sie wollen, dass der Staat eine geringere Rolle in der Wirtschaft spielt. Dafür sind sie bereit eine höhere Staatsverschuldung zur Finanzierung der Notmaßnahmen hinzunehmen. Zu ihrem Programm gehören die Deckelung der Energiepreise und, noch wichtiger, Steuersenkungen für die Reichsten. Sie setzen auf so genannte angebotsseitige Reformen, um das Wachstum anzukurbeln.
Das heißt, sie meinen es sehr ernst, wenn sie Deregulierung, Steuersenkungen, Angriffe auf die Gewerkschaften und mehr durchsetzen wollen in der Hoffnung, die Profite der Unternehmen zu steigern. Die meisten Menschen aus der herrschenden Klasse halten es jedoch für keine gute Idee, eine Vielzahl von ungedeckten Steuererleichterungen für die Superreichen zusammen mit einem äußerst kostspieligen Energiepreisbegrenzungsprogramm einzuführen. Sie meinen, dass die Staatsausgaben keine feste dauerhafte Grundlage haben. Aus diesem Grund sind die Märkte nach der Veröffentlichung von Kwartengs Haushaltsplan zusammengebrochen. Selbst der Internationale Währungsfonds (IWF) hat das Vorgehen der Regierung verurteilt.
Das heißt nicht, dass der IWF sozialistisch ist. Es gibt nur unterschiedliche Meinungen darüber, welche Art von kapitalistischer Politik zur Sicherung der Rentabilität funktioniert.
Was stört die Bank von England an der konservativen Regierung?
Kwarteng hat der Bank von England gewissermaßen den Krieg erklärt. Eine seiner ersten Amtshandlungen als Schatzkanzler war die Entlassung des ranghöchsten Beamten des Finanzministeriums. Und er hat die Beamten der Bank von England herausgefordert, indem er sie aufforderte, sich auf das Wachstum zu konzentrieren.
Dann kam die Veröffentlichung des staatlichen Haushaltsplans, der nach Ansicht der Bank von England das Pfund schwächen und die Inflation antreiben wird. Das bedeutet, dass die Bank von England nun unter enormem Druck steht, die Zinssätze weiter anzuheben – was ihrer Meinung nach wahrscheinlich eine Rezession auslösen wird. Dann wird die Kreditaufnahme des Staates noch teurer, was das Problem der Staatsverschuldung noch verschlimmert.
Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem, was die Regierung tut, und dem, was die Bank von England tut. Die Regierung weitet die Staatsverschuldung aus, um ihre Steuersenkungen für die Reichen und die Unternehmen zu finanzieren. Aber die Bank von England will die Zinssätze erhöhen, um die Inflation zu zähmen. Diese beiden Ansätze sind nicht miteinander vereinbar. Nun versucht die Bank von England, die Marktteilnehmer, die von Kwarteng aufgeschreckt worden waren, wieder zu beruhigen.
Rentenfonds in Gefahr
Der Wert langfristiger Staatsanleihen – die von früheren Regierungen zur Finanzierung ihrer Schulden ausgegeben worden waren – ist zusammengebrochen. Dies bedrohte allmählich die Lebensfähigkeit von Pensionsfonds [private Fonds zur Finanzierung der Renten], die eine wichtige Rolle im Finanzsystem spielen und große Mengen an Staatsanleihen halten. Die Bank von England war gezwungen, diese Staatsanleihen zu kaufen, um ihren Wert zu stützen. Das ist das Gegenteil von dem, was die Bank eigentlich tun will.
Nach der Wirtschaftskrise von 2008 bestand ein Teil des quantitativen Lockerungsprogramms der Bank darin, eine große Menge dieser Anleihen zu erwerben, um das Finanzsystem mit Geld zu fluten. Die Bank will nun dieses Programm der quantitativen Lockerung rückgängig machen, indem sie diese Anleihen verkauft, anstatt mehr davon zu kaufen.
Warum fällt das Pfund?
Seit den frühen 1970er Jahren leben wir in einer Welt mit weitgehend frei schwankenden Wechselkursen. Die Währungen stehen nicht mehr in einem festen Wechselkurs zueinander, sondern diese Kurse können schwanken. Das hängt von einer Reihe von Faktoren ab, wie der Stärke der verschiedenen Volkswirtschaften, der Inflationsrate und mehr. Seit der Veröffentlichung des neuen Haushaltsplans ist der Wert des Pfunds stark gesunken, weil Devisenhändler das Pfund abgestoßen und andere Währungen gekauft haben.
Verstärkt wird dies durch die zunehmende Stärke des US-Dollars. Der Dollar gilt als eine sichere Währung. Die USA sind der mächtigste Staat der Welt und haben die größte Wirtschaft. Der Dollar spielt eine Schlüsselrolle im globalen System.
Wenn auf den Märkten Unruhe herrscht, neigen die Menschen daher dazu, auf den Dollar zu setzen. Die US-Notenbank hat diese Tendenz noch verstärkt, indem sie die Zinssätze sehr stark angehoben hat. Dadurch werden US-Finanzwerte für Investoren viel attraktiver und der Wert des Dollars steigt.
Es gibt also eine ganze Reihe von Gründen, warum das Pfund relativ gesehen an Wert verliert. Das ist wichtig, weil wichtige Importe wie Öl und Gas in Dollar abgerechnet werden. Wenn also das Pfund an Wert verliert, werden diese Importe teurer, was die Inflation weiter anheizt. Es verstärkt auch den Druck auf die Bank von England, die Zinssätze zu erhöhen, um dem Wertverlust des Pfunds entgegenzuwirken und das Pfund für internationale Investoren attraktiver zu machen.
Was hat Karl Marx über die Macht der Finanzmärkte gesagt?
Marx schrieb zu einer viel früheren Zeit. Inzwischen hat es in der Finanzwelt viele Innovationen und Veränderungen gegeben. Aber richtig ist auch, dass Marx seine Hauptwerke über den Kapitalismus in London schrieb, das damals wie heute ein wichtiges globales Finanzzentrum war.
Marx war von der Funktionsweise des Finanzwesens sowohl fasziniert als auch entsetzt. Er sah die Banken und das Finanzwesen als ein zentrales Element in der Funktionsweise des Kapitalismus, das aber auch Probleme für das System mit sich brachte. Einer der Punkte, die ich von Marx übernommen habe, ist, dass er das Kreditsystem und das Finanzwesen als Wachstumstreiber ansieht, sie treiben den Kapitalismus über seine Grenzen hinaus. Sie sind aber auch eine Quelle von Betrug und Krise.
Diese Einsicht ist in den letzten Jahrzehnten deutlicher geworden, da die Profitraten in vielen großen Volkswirtschaften auf einem relativ niedrigen Niveau lagen. Dadurch ist viel stärker in den Vordergrund getreten, dass das System auf Kredite und Finanzinnovationen angewiesen ist, um noch zu wachsen. Und das, obwohl diese Finanzaktivitäten keinen neuen Wert schaffen.
Staat muss Kapitalismus retten
Ein Großteil des Finanzsystems lebt in gewisser Weise parasitär von der Wertschöpfung, die in der so genannten »Realwirtschaft« stattfindet. Diese Entwicklungen führen zu einem aufgeblähten und anfälligen globalen Finanzsystem. Krisen weiten sich aus und verstärken sich. Wir erleben Paniken wie diejenige, die gerade die Pensionsfonds getroffen hat, bei der der Staat oder die Zentralbank rasch eingreifen müssen, um den Markt zu stützen.
Ein weiterer wichtiger Aspekt dieses Systems ist die Entwicklung von »Zombie-Unternehmen«. Dabei handelt es sich um Firmen, die weder viel Gewinn machen noch viel investieren, die aber durch billige Kredite am Leben erhalten werden. Das drückt auf die gesamte Wirtschaft. Traditionell wäre der Kapitalismus in der Lage, dies durch eine Wirtschaftskrise zu beheben, die unrentable Unternehmen zerstört. Aber heute leben wir in einer Welt riesiger multinationaler Unternehmen, die mit diesem komplexen Finanzsystem und dem Staat verflochten sind. Es ist also sehr schwer, sich eine Krise vorzustellen, die diese Probleme lösen kann, ohne dem Kapitalismus kolossalen Schaden zuzufügen. Marx hat diese sehr tiefen Widersprüche des Kapitalismus erkannt, weshalb er sich für den Sturz des Systems einsetzte.
Wie betrifft die derzeitige Situation die Menschen aus der Arbeiterklasse?
Wir mögen den Kapitalismus vielleicht nicht, aber wir leben und arbeiten unter ihm, also ist es für uns von Bedeutung, was mit dem System passiert. Viele Arbeiter:innen haben Rentensparpläne oder Hypotheken, die bei steigenden Zinssätzen sehr viel teurer werden können. Auch die Krise der Lebenshaltungskosten betrifft absolut jeden, sowohl im Sinne einer Verschärfung der Härten für die Arbeiter:innen als auch im Sinne einer Revolte gegen das System. Steht eine Rezession vor der Tür, kann dies einen Anstieg der Arbeitslosigkeit, weitere Angriffe auf die Löhne und so weiter bedeuten. Wenn der Plan von Truss und Kwarteng schief geht, könnte es auch zu einer weiteren großen Sparrunde kommen, die die einfachen Menschen am härtesten trifft.
Die zu beobachtende Spaltung an der Spitze der Gesellschaft ist ebenfalls von Bedeutung. Ich habe den Eindruck, dass Truss auf wackeligem Boden steht. Sie hat keine große Unterstützung unter ihren eigenen Abgeordneten oder in der konservativen Partei, geschweige denn in der Wählerschaft. Sie verprellt immer größere Teile der herrschenden Klasse, was ihre Regierung destabilisiert. Das gibt uns – der Linken – den Raum, unsere eigenen Alternativen von unten vorzuschlagen.
Zum Beispiel werden es viele Menschen begrüßen, dass es eine Obergrenze für die Energiepreise gibt. Sie meinen aber auch, dass es viel besser wäre, die Gewinne der Energiekonzerne zu beschlagnahmen und diese zur Senkung der Lebenshaltungskosten zu verwenden. Es wird viel über die Kontrolle von Lohnerhöhungen gesprochen, um die Inflation zu dämpfen. Aber wir sollten darauf antworten, dass die Antwort nicht in der Kontrolle der Löhne, sondern in der Kontrolle der Gewinne und Preise liegt. Solche Ideen können in der gegenwärtigen Periode sehr viel Gehör finden. Und zumindest mit einer Minderheit derjenigen, die sich für diese Ideen interessieren, kann man darüber sprechen, dass das kapitalistische System versagt und gestürzt werden muss.
Das Interview erschien am 2. Oktober 2022 im Socialist Worker.
Bildquelle: wikipedia Sergeant Tom Robinson RLC
Schlagwörter: Finanzkrise, Großbritannien, Inflation, Krise