Vor achtzig Jahren reagierte Pablo Picasso mit einem Kunstwerk auf die Zerstörung der baskischen Stadt Guernica. Es ist eines der beeindruckendsten Antikriegsbilder und Ausdruck eines neuen Kunstverständnisses.
Es ist der 26. April 1937, gegen 16:30 Uhr als die erste deutsche Bombe auf die baskische Stadt Guernica (heute Gernika) fällt. An diesem Montag sind viele Bewohnerinnen und Bewohner der Nachbarstädte in der Stadt, um den Markt zu besuchen. Viele Einwohner kämpfen zu diesem Zeitpunkt im spanischen Bürgerkrieg, deshalb halten sich hauptsächlich Frauen, Kinder und rund 3.000 Kriegsflüchtlinge in der Stadt auf.
Nach einer ersten Bombenwelle warten die Piloten der Wehrmacht, bis die Bevölkerung ihre Verstecke verlässt, um sich um die Verwundeten zu kümmern. Als die Menschen aus ihren Luftschutzbunkern kriechen, beginnt eine zweite längere Bombardierung. Begleitet wird das Bombardement von tieffliegenden Flugzeugen, aus denen mit Maschinengewehren auf Menschen geschossen wird.
Der Angriff, den Wolfram von Richthofen befehligt, dauert mehr als drei Stunden. Fünfzig Tonnen hochexplosives Material sowie Brandbomben werden abgeworfen. Drei Viertel aller Gebäude der Stadt werden komplett zerstört. Der britische Kriegskorrespondent George Steer berichtet in »The Times«: »Während der Nacht fielen die Häuser, bis die Straßen zu langen, roten, undurchdringlichen Trümmerhaufen geworden waren.«
»Es gibt keine Helden«
Wer das Bild »Guernica« ohne Vorwissen betrachtet, erfährt wenig über die Ereignisse, die in der baskischen Stadt gleichen Namens geschahen. John Berger, der kürzlich verstorbene Biograf Pablo Picassos, beschrieb das Bild folgendermaßen: »Es gibt keine Stadt, keine Flugzeuge, keine Explosionen, keine Bezugnahme auf die Tageszeit, das Jahr, das Jahrhundert oder den Teil Spaniens, in dem es passiert ist. Es gibt keine Feinde zu beschuldigen. Es gibt keine Helden.«
Man erkennt aber sofort: Es geht um Schmerz und Elend, um Leid und Tod. Wie kaum ein anderes Kunstwerk, eine Ausnahme ist vielleicht »Der Schrei« von Edvard Munch, liefert »Guernica« keine historischen Fakten, sondern zeigt die puren Emotionen der Opfer eines Massakers. Auf dem Bild ist eine Frau mit nach oben gedrehtem Gesicht zu sehen. Sie heult hilflos, ihr totes Baby in den Armen. Ein Pferd schreit vor Angst. Verstümmelte Körperteile liegen herum. »Wir werden gedrängt, ihren Schmerz nachzufühlen«, erklärt John Berger die Wirkung des Kunstwerks. Es ist nur monochrome Angst zu sehen. Der Verzicht auf Farben war eine bewusste Entscheidung Picassos. Er war der Meinung, dass ein farbiges Bild nicht die gleiche Wirkung entfaltet hätte, da Farben von den Schrecken ablenken würden. Deshalb funktioniert es als Kunstwerk auch so gut. Es spricht unsere Emotionen mit Mitteln an, die sich nicht in Worte fassen lassen. »Guernica« artikuliert Horror, indem es Horror darstellt.
Einige Interpreten des Kunstwerks verwendeten viel Mühe darauf, die besonderen Bedeutungen einzelner Figuren herauszuarbeiten: Was bedeutet dieser Stier oder jenes Pferd? Warum weint diese Frau? Dieses Vorgehen ist legitim, aber meiner Meinung nach verfehlen sie den Kern von »Guernicas« Großartigkeit.
Picasso erklärte seine Wahl der Figuren seines Kunstwerks so: »Dieser Stier ist ein Stier und dieses Pferd ist ein Pferd (…) Wenn Sie bestimmten Sachen in meinen Bildern einen Sinn geben, kann es richtig sein, aber es ist nicht meine Intention, ihnen diese Bedeutung zu geben. Ihre Ideen und Schlüsse habe ich auch erhalten, aber instinktiv, unbewusst. Ich male für das Malen. Ich male die Objekte für das, was sie sind.«
Der Angriff auf Guernica
Seit dem Luftangriff auf Guernica haben Anhänger Francos sowie seine deutschen Unterstützer immer wieder argumentiert, dass dieser eine militärische Bedeutung gehabt hätte. Die Beweise hierfür sind allerdings sehr dünn. Es gab in der Tat zwei Rüstungsbetriebe am Stadtrand. Aber keiner der beiden wurde durch die Bombardierung beschädigt.
Viel wahrscheinlicher ist es, dass Guernica bombardiert wurde, um eine baskische Kriegsbeteiligung zu verhindern. Die baskischen Parteien ließen sich während des spanischen Bürgerkriegs nicht eindeutig einem Lager zuordnen. Im Oktober 1936 gründete sich unter Beteiligung linker Parteien eine autonome baskische Regierung mit dem Christdemokraten José Antonio Aguirre als Präsident.
Diese Regierung unterstützte die Spanische Republik, war aber gleichzeitig dazu bereit, Kompromisse mit Franco einzugehen. So hatte sie zum Beispiel nach dem Verlust der Stadt Bilbao den Pakt von Santoña (auch als »Verrat von Santoña« bekannt) unabhängig von den republikanischen Kräften verhandelt.
Der Angriff auf Guernica vertiefte die Spaltung zwischen den Basken im Norden und den Republikanern im Süden. Mit dem Luftangriff demonstrierte General Franco, dass er bereit war, auch baskische Zivilistinnen und Zivilisten zu töten, sollte ihre Regierung die Spanische Republik unterstützen.
Der Kommunist Picasso
Seit 1901 lebte Picasso im französischen Exil. Einige Kunsthistoriker stellten sein Leben dort als eine unpolitische Phase dar, obwohl sich auch während dieser Zeit einige linke Aktivistinnen und Aktivisten in seinem Freundeskreis befanden. Er selbst sympathisierte während des Exils mit der Kommunistischen Partei Frankreichs und trat ihr 1944 auch bei.
Im Januar 1937 schuf Picasso sein erstes eindeutig politisches Werk: »Traum und Lüge Francos«. Es handelt sich dabei um 18 (ursprünglich 14) Radierungen, die Franco in lächerlichen Posen und Verfremdungen zeigen. Ursprünglich sollten die Radierungen als Postkarten im spanischen Pavillon der Weltausstellung in Paris 1937 verkauft werden, um Geld für die Spanische Republik zu sammeln. Diese Idee wurde nach der Bombardierung Guernicas verworfen. Nun wurde im Pavillon das nach der Stadt benannte Gemälde gezeigt. Die Reaktionen auf diesen Entschluss waren nicht alle positiv. Viele linke Kritiker waren kaum beeindruckt von dem Kunstwerk. In »L’Humanité«, der Zeitung der Kommunistischen Partei Frankreichs, berichtete der linke Dichter Louis Aragon von der Weltausstellung, ohne Picassos Bild überhaupt nur zu erwähnen. Trotzdem wurde »Guernica« auch eine praktische politische Rolle zuteil. Nach der Pariser Weltausstellung tourte das Bild durch Skandinavien, England und die USA. Der Eintrittspreis für die Ausstellung war in der Regel ein Paar gebrauchte Stiefel. Diese Stiefel wurden direkt an die republikanische Armee geschickt.
Sinnbild für Kriegsverbrechen
Die Zerstörung von Guernica wird oft als die erste gegen die Zivilbevölkerung gerichtete Bombardierung gewertet. Das ist genau genommen falsch. Bereits 1914 haben deutsche Zeppeline Antwerpen bombardiert und zehn Zivilisten getötet. In den 1920ern entwickelten die Briten Winston Churchill und Arthur »Bomber« Harris die tödliche Strategie der Flächenbombardements gegen die revoltierende irakische Bevölkerung. Auch während des spanischen Bürgerkriegs zerstörten deutsche und die spanische Luftwaffe bewohnte Gebiete in Madrid, Barcelona und Valencia. Später kamen weitere Städte hinzu: Coventry, Dresden, Hiroshima und in jüngster Zeit Gaza und Aleppo. Guernica war weder der erste noch der schwerste Fall eines Flächenbombardements, aber dank Picasso steht es stellvertretend für alle diese Kriegsverbrechen – und den Widerstand gegen sie. Während des Irakkriegs hing eine Teppichreproduktion von »Guernica« im UN-Gebäude. Bevor der US-Außenminister Colin Powell und dessen Stellvertreter John Negroponte dort sprachen, stellten UN-Beamte einen blauen Vorhang vor das Bild, um die Kriegstreiber nicht in Verlegenheit zu bringen.
Von Theodor W. Adorno stammt der Ausspruch: »Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch«. Damit meint er, dass die Dichtung, und die Kunst im Allgemeinen, weder Auschwitz noch Guernica verhindern konnten, aber auch, dass es unmöglich ist, die unvorstellbaren Schrecken in Form von Kunst direkt zu reproduzieren. Aus diesem Grund sagte der Architekt Peter Eisenman über das von ihm entworfene Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin: »Es ist ein bisschen zu ästhetisch. Es sieht ein wenig zu gut aus. Nicht, dass ich etwas Hässliches wollte, aber ich wollte nichts, das nach Design aussieht. Ich wollte das Gewöhnliche, das Banale.«
Kampf gegen den Tod der Kunst
Einige der Auswüchse des Spätkapitalismus, vor allem der Holocaust, aber auch Hiroshima und die Bombardierung Guernicas, sind kaum fassbar. Für viele Künstlerinnen und Künstler reicht es seitdem nicht mehr aus, einfach den Horror zu beschreiben, sie müssen auch involvierender darauf reagieren können. Aus dieser Erkenntnis entstand die künstlerische Bewegung des Modernismus. Das Theater Brechts, die Romane von James Joyce und die Kunst Picassos waren der Versuch, eine Kunst für eine Zeit zu entwickeln, in der die Reproduktion von schönen Landschaften nicht mehr ausreicht.
»Guernica« ist eines der besten und überzeugendsten Kunstwerke der Moderne. Genau die Abwesenheit von Konkretheit und Helden im Bild erlaubt es, den Horror darzustellen, den jeder Krieg verkörpert, und uns damit auch eine starke Systemkritik anzubieten. Während Picasso »Guernica« malte, sagte er: »Mein ganzes Leben als Künstler war nichts mehr als ein kontinuierlicher Kampf gegen die Reaktion und den Tod der Kunst. In dem Bild, das ich male, drücke ich mein Entsetzen über die militärische Kaste aus, die Spanien jetzt zu einem Ozean des Elends und des Todes machten.«
Seine Abscheu gegen die Verderbtheit dieser Kaste hat sein Leben lang angehalten und wird von seinen Nachfolgern in der neuen Spanischen Linken fortgeführt in ihrem Kampf gegen das Vergessen und gegen neue Guernicas.
Zum Autor: Phil Butland hat Philosophie und Literatur studiert und schreibt regelmäßig über Kunst und Kultur für marx21. Er ist Gründungsmitglied der Gruppe KünstlerInnen gegen Krieg Berlin.
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Foto: cerromijares
Schlagwörter: Baskenland, Bürgerkrieg, Franco, Guernica, Hitler, Kultur, Kunst, Luftangriff, Moderne, Picasso, Spanien, Spanische Revolution, Wehrmacht, Weltkrieg