Robert Habecks Videoansprache zur Staatsräson wird als große staatsmännische Rede gefeiert. Sie ist ein Dokument der Heuchelei und Verlogenheit, wie sie seit langem die veröffentlichte Meinung in Deutschland gegenüber dem Palästina-Konflikt kennzeichnet. Wir kommentieren seine wichtigsten Aussagen
- Habeck: »Während es schnell große Solidaritätswellen gibt, etwa wenn es zu rassistischen Angriffen kommt, ist die Solidarität bei Israel rasch brüchig. Dann heißt es, der Kontext sei schwierig. Kontextualisierung aber darf hier nicht zu Rechtfertigung führen.«
Habecks Behauptung, dass es schnell zu »großen Solidaritätswellen bei rassistischen Angriffen kommt«, stimmt leider nicht. Umgekehrt: Seine Regierung gibt den Angriffen der AfD auf Geflüchtete und Asylsuchende Deckungshilfe mit ihrer Verschärfung des Asylrechts und der Abschiebepolitik gegen Geflüchtete. Der Aufschwung der rassistischen AfD stützt sich auch auf die Stimmungsmache der Ampel-Regierung gegen Geflüchtete.
Die von Habeck und der Bundesregierung seit langem unterstützte Formel, Israel und Judentum gleichzusetzen, führt zur Stärkung des Antisemitismus. Sie lädt dazu ein, den gerechten Kampf der Palästinenser:innen gegen Unterdrückung, Vertreibung und jetzt auch gegen einen drohenden Genozid im Gazastreifen mit einem Kampf gegen das Judentum schlechthin – also als Antisemitismus – zu verfälschen.
Habeck warnt vor der »Kontextualisierung« des Krieges. Er möchte den Angriff von Hamas-Truppen auf Israel als singulären Akt aus seinem historischen Kontext lösen und den Widerstand der Palästinenser:innen gegen ihre Vertreibung im Sinne der Judenvernichtung durch die Nazis in Europa umdeuten. Der Aufstieg der Hamas und ihr Krieg ist überhaupt nicht zu verstehen ohne die Tatsache, dass Israel in den besetzten Gebieten jeden Tag unschuldige Zivilist:innen, Kinder und Alte tötet. Allein seit 2007 hat die israelische Armee laut UN-Statistik bis vor dem jetzigen Krieg über 6000 Menschen im Gazastreifen getötet. Wir verurteilen die gezielte Ermordung von Zivilist:innen durch Hamas. Aber wir unterstützen uneingeschränkt das Recht der Palästinenser:innen auf Widerstand gegen ihre Unterdrückung und Vertreibung durch Israel.
Mit der Keule der Abschiebung will die Bundesregierung die Solidaritätsbewegung mit Palästina schwächen
- Habeck: »Das Verbrennen von israelischen Fahnen ist eine Straftat […] wer kein Deutscher ist, riskiert außerdem seinen Aufenthaltsstatus. Wer noch keinen Aufenthaltstitel hat, liefert damit einen Grund, abgeschoben zu werden.«
Habeck fürchtet zu Recht einen Aufschwung antikolonialer und antiimperialistischer Proteste in Deutschland. Er sieht, dass Israels Politik der Vertreibung und Vernichtung der Palästinenser:innen in großen Teilen der Welt auf Ablehnung stößt und zu wachsenden Protesten führt. Mit der Keule der Abschiebung will er die Solidaritätsbewegung schwächen und abwürgen.
- Habeck: »Ja, das Leben in Gaza ist ein Leben in Perspektivlosigkeit und Armut. Die Siedlerbewegung in der Westbank schürt Unfrieden und nimmt Palästinensern Hoffnung und Rechte und zunehmend auch Leben.«
Habeck hat Recht: Die Siedlerbewegung im Westjordanland und Ostjerusalem nimmt den Palästinenser:innen »zunehmend auch Leben.« Seit Beginn des Hamas Überfalls wurden im besetzten Westjordanland in nur einem Monat 140 Palästinenser:innen von Militär und bewaffneten Siedler:innen getötet. Der faschistische Minister für nationale Sicherheit, Ben Gwir, bewaffnet seine Anhänger:innen unter den Siedler:innen, die ihrerseits brandschatzend und marodierend durch palästinensische Siedlungen ziehen. Trotzdem warnt Habeck vor »Antisemitismus in Teilen der politischen Linken.« Er warnt: »Antikolonialismus darf nicht zu Antisemitismus führen.« Was meint Habeck damit? Er bleibt den Beweis für die Richtigkeit seiner Vorwürfe schuldig.
- Habeck: »Die hier lebenden Muslime haben Anspruch auf Schutz vor rechtsextremer Gewalt.«
Auch hier täuscht Habeck etwas vor, was seine Regierung nicht gewährt. Muslime, ihre Kulturzentren und Moscheen haben selten Polizeischutz. Brandanschläge auf Moscheen sind in den letzten Jahren angestiegen, der Zentralrat der Muslime in Deutschland fordert seit langem von den Sicherheitsbehörden stärkeren Schutz. Die gezielte Verhinderung der vollständigen Aufklärung der NSU-Morde und der Morde von Hanau werfen ein Licht auf die diskriminierende Behandlung von Muslimen durch die Strafverfolgungsbehörden und Innenminister. Ohne DIE LINKE Landtagsfraktion im Hessischen Landtag wäre die Aufklärung der NSU-Morde noch halbherziger ausgefallen.
- Habeck: »Zusammen mit unseren amerikanischen Freunden machen wir Israel immer wieder deutlich, dass der Schutz der Zivilbevölkerung zentral ist.«
Die Wahrheit ist, dass die deutsche und die US-Regierung den drohenden Genozid an den Palästinenser:innen im Gaza-Streifen mit Waffenlieferungen unterstützen. Olaf Scholz redet vom Recht auf Selbstverteidigung des Staates Israel. Weder die Bundesregierung noch »unsere amerikanischen Freunde« haben Israel unter Druck gesetzt, ihre Annexionspolitik in den 1967 besetzten Gebieten aufzugeben oder gar rückgängig zu machen. »Unsere amerikanischen Freunde« rüsten Israel ohne Ende auf und haben selbst in Irak, Libanon, Afghanistan und Libyen Staaten und ganze Regionen mit Kriegen destabilisiert.
Alle israelischen Regierungen haben von Beginn an eine Zweistaatenlösung abgelehnt
- Habeck: »Ein friedliches Miteinander von Israel und seinen Nachbarn, von Juden und Muslimen, die Perspektive einer Zweistaatenlösung – all das wollen die Hamas und ihre Unterstützer […] nicht.«
Alle israelischen Regierungen haben von Beginn an eine Zweistaatenlösung abgelehnt. Die heute herrschende Likud-Partei von Netanyahu hat 1977 in ihrem Parteiprogramm den Anspruch Israels auf ganz Palästina formuliert. Eine Zweistaatenlösung wurde von keiner israelischen Regierung wirklich unterstützt. Das Osloer Abkommen (1993-95) führte zur Gründung eines palästinensischen Ministaates in vollständiger politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit von Israel auf nur 7 Prozent der besetzten Westbank.
Wann hat Habeck als deutscher Minister je die israelische Regierung ernsthaft unter Druck gesetzt, ihre Annexionspolitik von palästinensischem Land zu beenden? Wann hat er gegen die gezielten Tötungen von Palästinenser:innen in Gaza oder der Westbank protestiert. Der Aufstand der Hamas-Truppen ist nur als Reaktion auf die Politik einer fortgesetzten Vertreibung und Vernichtung des palästinensischen Volkes zu verstehen.
- Habeck: »Putin lässt sich mit Vertretern der Hamas […] fotografieren und bedauert die zivilen Opfer im Gaza-Streifen, während er zivile Opfer in der Ukraine schafft.«
Habeck kritisiert zu Recht die verlogene Politik Putins, der selbst in der Ukraine gewaltsame Annexionspolitik betreibt, das heißt Aneignung ukrainischer Landesteile an Russland. Aber Habeck steht der Verlogenheit und Heuchelei eines Putins in nichts nach, weil seine Regierung die gleiche Politik, nämlich die der gewaltsamen Aneignung fremder Landesteile in den besetzten Gebieten durch den Staat Israel unterstützt.
- Habeck: »[Es ist] nicht verboten […], für die Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser und auch ihr Recht auf einen eigenen Staat einzutreten. Aber der Aufruf zur Gewalt gegen Juden und das Feiern der Gewalt gegen Juden sind verboten – zurecht!«
Die Bundesregierung und Habeck wollen es verbieten, das Recht der Palästinenser:innen auf bewaffneten Widerstand gegen ihre Vertreibung und Vernichtung zu unterstützen. Aber sie unterdrücken auch Aufrufe zur friedlichen Solidarität und Widerstand. So wird die Unterstützung der BDS-Kampagne, die zum Boykott israelischer Waren aufruft, offiziell von der Bundesregierung als »antisemitisch« eingestuft.
Nicht die Sicherheit Israels, sondern der Frieden in Nahost sollte deutsche Staatsräson sein
- Habeck: »Wer die Hoffnung auf Frieden in der Region nicht aufgegeben hat, wer am Recht der Palästinenser auf einen eigenen Staat und eine wirkliche Perspektive festhält – und das tun wir –, der muss jetzt in diesen Wochen der Bewährung differenzieren. Zur Differenzierung gehört, dass die Mordtaten der Hamas Frieden verhindern wollen. Die Hamas will nicht die Aussöhnung mit Israel, sondern die Auslöschung von Israel.
Die Kritik von Habeck an Hamas wäre glaubwürdiger, wenn er auch nur in einem Satz die Mordtaten der israelischen Armee und der bewaffneten Siedler:innen in der Westbank und in Gaza kritisieren würde – wenn er aussprechen würde, dass der Staat Israel seit langem eine Politik der zwangsweisen Annexion von ganz Palästina betreibt. Nicht die Auslöschung von Israel, sondern die Auslöschung von großen Teilen des palästinensischen Volkes droht jetzt. Deutschland hat in der UNO mit Billigung von Habeck nicht einmal der UN-Resolution zugestimmt, die zu einem sofortigen Waffenstillstand im Gazastreifen aufruft. Damit erhält Israel von der Bundesregierung einen Freibrief, ihren Vernichtungsfeldzug in Gaza fortzusetzen, dem jetzt schon mehr als 10.000 getötete und 25.000 verletzte Palästinenser:innen zum Opfer gefallen sind.
- Habeck: »Die Sicherheit Israels [ist] für uns als Staat notwendig. Dieses besondere Verhältnis zu Israel rührt aus unserer historischen Verantwortung: Es war die Generation meiner Großeltern, die jüdisches Leben in Deutschland und Europa vernichten wollten.«
Robert Habeck hat gefordert, es brauche, was den israelisch-palästinensischen Konflikt angehe, »Klarheit und kein Vermischen«. Dazu trägt er nicht bei – im Gegenteil. Sein Bekenntnis zur deutschen Kollektivschuld am Holocaust entspricht nicht der historischen Wahrheit. Vor der Machtergreifung der Nazis war Deutschland ein politisch tief gespaltenes Land und blieb es auch danach. Es konnte nur durch eine Diktatur zusammengehalten werden. Der auf die Ausrottung der europäischen Juden gerichtete Antisemitismus war die Ideologie einer Minderheit und konnte deshalb nur in einer Diktatur vollstreckt werden. Zur Vollstreckung des Völkermordes an den europäischen Juden waren die Nazis allein zu schwach. Ohne die Kollaboration des aus der Weimarer Demokratie übernommenen Staatsapparates wäre der Holocaust nicht möglich gewesen. Ohne Armee, Polizei, Standesbeamte, Feuerwehr, Reichsbahn usw. kein Holocaust. Das waren die Vollstrecker des Holocaust und nicht die »Generation« von Habecks Großeltern.
Erst der Völkermord des deutschen Staates an den europäischen Juden verlieh der zionistischen Idee, dass die Juden sich nur in einem eigenen wehrhaften Staat vor Verfolgung schützen können, die entscheidende Glaubwürdigkeit und Kraft. Seit der Entstehung der zionistischen Bewegung um die Jahrhundertwende bis 1932 folgten nur 150.000 Juden dem Ruf nach Palästina auszuwandern. 1947, vor der Staatsgründung lebten etwa 600.000 Jüdinnen und Juden in Palästina, die große Mehrheit war vor Faschismus und Holocaust geflohen. Ohne Holocaust keine Teilung Palästinas durch die Vereinten Nationen und ohne Holocaust keine jüdische Staatsgründung in Palästina. Das heißt aber auch: Ohne Holocaust keine Nakba, keine Vertreibung und keine palästinensischen Flüchtlingslager. Die Palästinenser:innen sind – in den Worten der Historikerin Karin Wetterau – »die sekundären Opfer des Holocaust«. Aber sie sind keine Opfer, die, wie die indigenen Bevölkerungen Amerikas oder Australiens, durch die europäischen Siedler:innen einfach beseitigt werden konnten. Ohne Holocaust keine Intifada und auch keine Hamas.
Wollte der deutsche Staat sich seiner historischen Verantwortung stellen, dann müsste er sich zu seiner Verantwortung für den Palästinakonflikt bekennen. Dann müsste nicht die Sicherheit Israels, sondern der Frieden in Nahost deutsche Staatsräson sein.
Die Unterstützung für Israel durch den westlichen Imperialismus, die USA und Deutschland eingeschlossen, hat nichts mit dem Holocaust zu tun, sondern damit, dass der Staat Israel im Nahen Osten der zuverlässigste Vorposten des westlichen Imperialismus ist. Andere Opfer des Holocausts wie die Roma und Sinti haben nie auch nur annähernd ähnliche Unterstützung erfahren.
Petition der marxistischen jüdisch-palästinensischen Organisation »Matzpen« von 1967:
»Das Recht uns gegen Vernichtung zu wehren, gibt uns nicht das Recht, andere zu unterdrücken. Besatzung führt zu Fremdherrschaft, das führt zu Widerstand, das führt zu Unterdrückung, diese zu Terror und Gegenterror. Die Opfer von Terror sind oft unschuldige Menschen. Wenn die besetzten Gebiete gehalten werden, werden wir uns in ein Volk von Mördern und Ermordeten verwandeln. – Raus aus den besetzten Gebieten jetzt!«
(Petition gegen die Besatzung, Tageszeitung Haaretz, 22. September 1967)
Foto: wikimedia / Stephan Roehl
Schlagwörter: Inland, Israel, Palästina