Der Holocaust lässt sich nicht mit Profitinteressen erklären. Dennoch bietet die marxistische Theorie überzeugende Antworten, wie es dazu kommen konnte. Von Jürgen Ehlers
Das Buch von Horst Haenisch, das der Frage nachgeht, ob der Marxismus den Holocaust erklären kann, schließt eine Lücke. Es liefert auf Grundlage einer marxistischen Analyse eine Erklärung für ein monströses Verbrechen, das weder der Kriegsführung noch den Profitinteressen der Kapitalistenklasse in Deutschland diente. Der Aufbau der Vernichtungslager, die Deportation von Millionen Menschen in ganz Europa, um sie dann umzubringen, band in der entscheidenden Kriegsphase wichtige Transportkapazitäten und Personal. Der Judenhass der Nazis gefährdete damit den militärischen Erfolg. Die ab 1942 von den Nazis angestrebte »Endlösung der Judenfrage« geriet in Widerspruch zu den Profitinteressen der Kapitalistenklasse, die Hitler vor 1933 massiv unterstützt hatte. In ihm sahen sie den einzigen Mann, der in der Lage war, die Arbeiterbewegung zu zerschlagen, um bereits zwei Jahrzehnte nach dem Gemetzel im Ersten Weltkrieg einen erneuten Krieg zu führen.
Industrieller Massenmord trotz Kriegsmaschinerie
Dieses politische Motiv der herrschenden Klasse in Deutschland, mittels der Nazis einen erneuten Krieg zu führen, um ökonomische Interessen durchzusetzen, kann gut marxistisch erklärt werden, denn es wird ein Zusammenhang von ökonomischen und politischen Entwicklungen hergestellt. Wobei das Ökonomische nicht das einzige, aber letztlich das entscheidende Moment ist, das politischen Entscheidungen und Entwicklungen zugrunde liegt. Der große Aufwand der Nazis, um sechs Millionen Menschen zu ermorden, steht im Widerspruch dazu.
Zahllose Publikationen haben sich immer wieder mit den entsetzlichen Verbrechen der Nazis beschäftigt. Dabei stehen verständlicherweise immer die Suche nach dem Motiv für die Vernichtung der Jüdinnen und Juden sowie die Ursachen für den Zweiten Weltkrieg im Vordergrund. Die angebotenen Erklärungen reichen von psychologischen Ursachen, die mit der deutschen Geschichte in Verbindung gebracht werden, bis hin zum Verweis darauf, dass der Kapitalismus den Krieg in sich trägt, »wie die Wolke den Regen«. Mit diesem Bild wird auf das Streben nach Profit um jeden Preis als Motor des Kapitalismus angespielt. Das ist eine entscheidende Erklärung für die Ursachen von Kriegen, sagt aber nichts darüber aus, warum ein Staat als »ideeller Gesamtkapitalist« das Erreichen von Kriegszielen, so wie die Nazis mit dem Holocaust, gefährdet.
Ein Überblick auf die Frage nach dem »Warum« des Holocaust
Um eine Antwort auf diese Frage geht es dem Autor. Dabei steht die bereits von Marx und Engels herausgearbeitete »relative Unabhängigkeit« des Staates gegenüber den Interessen der herrschenden Klasse im Mittelpunkt. Horst Haenisch seziert in seinem Buch die verschiedenen Erklärungsansätze für den Holocaust sehr akribisch. Die Leser:innen erhalten so einen umfassenden Überblick aller Theorien zu der Frage nach dem Warum. Es ist nicht immer leicht, alle Aspekte seiner Argumentation auf Anhieb nachzuvollziehen. Aber die Anstrengung lohnt sich.
Haenischs Buch ist auch ein wichtiger Beitrag, um zu zeigen, dass es sich beim Marxismus nicht um eine tote Ideologie, sondern um eine wissenschaftliche Herangehensweise an gesellschaftliche Entwicklungsprozesse handelt, die tiefe Einblicke in gesellschaftliche Prozesse ermöglicht. Der Marxismus ist deshalb immer noch ein sinnvolles Werkzeug, um die Ursachen von Kriegen und Völkermord zu erkennen und durch die Überwindung des Kapitalismus zu beseitigen. (Lies hier den marx21-Artikel »Ausloten der Abgründe – Marxismus und der Holocaust«.)
»Kann der Marxismus den Holocaust erklären?« ist eine überarbeitete und erheblich erweiterte Neuausgabe des 2017 in der edition aurora erschienen Buches: »Faschismus und der Holocaust – Versuch einer Erklärung«. Diese Publikation hatte Diskussionen ausgelöst. Die damit verbundenen zahlreichen Anregungen und Fragen haben in dieser erweiterten Neuauflage ihren Niederschlag gefunden.
Das Buch
Kann der Marxismus den Holocaust erklären? Kapitalismus, Staat, Völkermord
337 Seiten
16,50 Euro
Schlagwörter: Holocaust, Marxismus