Der erstmals 1974 erschienene Roman »Heißer Sommer« von Uwe Timm ist eines der wenigen literarischen Zeugnisse der westdeutschen Studentenproteste von 1967/68. Er sollte unbedingt wieder gelesen werden, meint David Paenson
»Plötzlich richtete sich Ingeborg auf. Die Sprungfedern unter der Matratze quietschten. Er drehte den Kopf zu ihr hinüber. Unter ihren Augen die schwärzlichen Tränenspuren. Als sie etwas sagen wollte, sagte er: Hör auf.«
Ullrich, die Hauptperson des Romans, hat soeben mit seiner Freundin Schluss gemacht. Währenddessen übt sein Mitbewohner und Kommilitone Lothar im Nebenzimmer Geige und verspielt sich wieder mal. Warum er mit Ingeborg Schluss gemacht hat, weiß Ullrich selbst nicht. Soll er sie zurückrufen? Soll er zu ihr gehen? Als das Telefon im Flur mehrmals klingelt, hebt er dann doch nicht ab.
Revolte an der Uni
Uwe Timms Roman ist sehr persönlich, teilweise autobiographisch. Es ist die Erzählung eines jungen Mannes, der 1967 an der Münchner Uni studiert. Dort herrscht strenge Disziplin. Im Hörsaal darf nicht gehustet werden. Der Professor betritt den Raum stets umgeben von seinen Assistenten, die ihm den Stuhl zurechtrücken.
Das ändert sich schlagartig, als Studierende eine Vorlesung sprengen. Zum ersten Mal ist der Hörsaal rappelvoll. Der Professor verliert die Fassung und flüchtet. Die Vorstellung, man könne über die Seminarinhalte gemeinsam diskutieren, ist ihm fremd.
Ullrich erfährt aus dem Radio, dass in Berlin Benno Ohnesorg ermordet wurde, und nimmt spontan an der Protestdemonstration in der Münchner Innenstadt teil. Er erfährt das Gefühl der Solidarität und bekommt eine vage Vorstellung davon, dass sich die Dinge doch verändern lassen.
Quer durch die Republik
Der Roman führt uns von München nach Hamburg. In München hat Ullrich den Termin für seine letzte Vorprüfungsleistung verstreichen lassen. Das Prüfungsthema interessierte ihn einfach nicht.
In Hamburg macht Ullrich neue politische Erfahrungen. Er nimmt an den Diskussionen und Aktionen des SDS teil. Ein Höhepunkt ist die erfolgreiche Blockade der Auslieferung der BILD-Zeitung, die mit ihrer gezielten Hetze mitverantwortlich war für den Mordanschlag auf den SDS-Aktivisten Rudi Dutschke.
Die Geschichte wird linear erzählt und endet mit der Rückkehr Ullrichs nach München, wo er sich für das Grundschullehramt entscheidet. Denn Kindererziehung ist auch ein wichtiger Beitrag zur Gesellschaftsveränderung. Er nimmt wieder Kontakt mit Ingeborg auf, die aktiv in der GEW ist und ihn einlädt, den Laden richtig umzukrempeln.
Die Geschichte einer Generation
Durch Ullrichs Gedankensprünge und Gespräche mit anderen werden wir auch in die Vergangenheit und an andere Orte transportiert. Die geschmacklosen Witze seines Vaters, der schon 1931 der SA beitrat, versetzen uns plötzlich ins letzte Kriegsjahr zurück.
Einmal muss Ullrich auf einem brachliegenden Feld schwarzarbeiten, um das Geld für Ingeborgs Abtreibung zusammenzukriegen. Beim Ausheben einer überlangen Grube in der unerträglichen Sonne dieses heißen Sommers erleidet ein türkischer Medizinstudent einen gefährlichen Hitzschlag, obwohl die Türken doch an das Wetter gewöhnt sein müssten, so Ullrichs fauler Kumpel Gert.
»Heißer Sommer« enthält viele Momente der Sehnsucht, des Witzes, der politischen Debatten, der Hoffnungen und der Enttäuschungen der 1968er-Generation. Der Roman bietet einen literarischen Zugang zum Vergangenen, ist eine wahre Fundgrube und ein stilistisches Meisterwerk.
Das Buch:
Heißer Sommer
Uwe Timm
DTV
München 1998
352 Seiten
9,90 Euro
Foto: Ludwig Binder Haus der Geschichte
Schlagwörter: 1968, Buch, Buchrezension, Rezension, Roman, SDS, Studentenproteste