Altkanzler Helmut Kohl ist tot. Er war vor allem ein Kanzler des deutschen Kapitals. Ein Nachruf von Klaus-Dieter Heiser
Am 16. Juni 2017 ist Helmut Kohl 87-jährig in Ludwigshafen gestorben. Für in den 1970er Jahren Geborene waren »Kohl« und »Bundeskanzler« lange Zeit Synonyme. Sie kannten nur diesen Kanzler. Von 1982 bis 1998 war er in diesem Amt. Er hat sich als CDU-Politiker um die Interessen des deutschen Kapitals verdient gemacht.
Von der Adenauer-CDU geprägt
Er war 16, als er 1946 CDU-Mitglied in Rheinland-Pfalz wurde und in seiner Heimatstadt die Junge Union gründete. Er wollte in der Politik mitmischen. Insofern gehörte er zu jenen, die nach ihren Erfahrungen in der Nazi-Zeit etwas Neues wollten. Er war wie viele seines Jahrgangs noch in den letzten Kriegsmonaten als Flakhelfer eingezogen worden und war froh, überlebt zu haben.
Weggefährten aus dieser Zeit beschreiben ihn als »Anführertyp«. Er sammelte Freunde um sich, begann erste Netzwerke aufzubauen. Bereits 1951 nahm er erstmals an einem Bundesparteitag der CDU teil. Während seiner frühen Parteikarriere gab er den Unangepassten, was ihm Aufmerksamkeit in der Union einbrachte, die immer mehr zum Kanzlerwahlverein wurde. Es war die Zeit der Restauration des Kapitalismus in der Bundesrepublik, der unter den Schlagworten »Soziale Marktwirtschaft« und »Wirtschaftswunder« optimale Profitbedingungen bot. Diese »Unions-Republik« prägte Kohl.
Helmut Kohl, ein Bundeskanzler des Kapitals
Bereits während seines Studiums suchte Helmut Kohl die Nähe zur Industrie und stieg nach einem kurzen Zwischenspiel in einem Metallbetrieb als Referent beim rheinland-pfälzischen Landesverband der Chemischen Industrie in Ludwigshafen ein. Mit dem Einkommen, das er dort bekam, finanzierte er seine politischen Aktivitäten in der CDU. Über seine Tätigkeit im Chemieverband lernte er als Nachwuchspolitiker Wirtschaftsgrößen auch über Rheinland-Pfalz hinaus kennen, die er in sein informelles Netzwerk einbaute. Und er zeigte sich erkenntlich. Hans Leyendecker von der Süddeutschen Zeitung berichtet: »Dem Vorsitzenden des Chemieverbandes, Giulini, der ihm die großzügigen Arbeitsbedingungen erlaubt, verschafft Kohl später ein Bundestagsmandat, und das Wohlergehen der chemischen Industrie liegt ihm auch als Kanzler besonders am Herzen.«
In dieser Zeit lernte Kohl auch die besondere Parteienfinanzierung der CDU praktisch kennen und für seine Aktivitäten zu nutzen. Der Name der Staatsbürgerlichen Vereinigung e.V. als Geldwaschmaschine für verschleierte Parteifinanzierung taucht immer wieder auf; auch viele Jahre später im Zusammenhang mit der sogenannten Flick-Affäre, in der illegale Millionenspenden zur »politischen Landschaftspflege« vor allem an CDU und FDP aufflogen. Und schließlich war auch das politische Ende Helmut Kohls mit »schwarzen Kassen« der CDU verbunden.
Aber soweit ist es noch nicht. Kurz bevor Willy Brandt vor dem Hintergrund der 1968er-Bewegung zum ersten SPD-Kanzler gewählt wurde, wurde Kohl 1969 Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz, 1973 CDU-Bundesvorsitzender. Hier reorganisierte er die ziemlich marode gewordene CDU-Bundespartei, formierte sie nach seinen Interessen und strukturierte sie für sein Netzwerk. Die 1970er-Jahre waren zunächst von den Auswirkungen von 1968 geprägt, ab 1974 setzte sich der zweite SPD-Kanzler Helmut Schmidt unter anderem mit dem Nato-Doppelbeschluss zu Nachrüstung davon ab. 1982 verließ die FDP die Koalition mit der SPD und ermöglichte Kohl die Wahl zum Bundeskanzler. Er hatte sein Ziel erreicht: »Macht finde ich attraktiv.« Bis 1998 konnte er sich trotz zwischenzeitlicher Turbulenzen dort halten.
Kanzler der europäischen Einigung?
In Nachrufen wird Helmut Kohl hervorgehoben als Kanzler der europäischen Einigung und des Euros. Mag der junge Kohl 1947 von der europäischen Idee zur Friedenssicherung überzeugt gewesen sein, als Bundeskanzler standen jenseits von Symbolpolitik die Interessen der Exportindustrie im Mittelpunkt seines Handelns.
1988 initiierte er mit François Mitterrand auf dem Europäischen Rat in Hannover eine Wirtschafts- und Währungsunion. Ihr folgte am 1. Juli 1990 mit dem Abbau sämtlicher Beschränkungen des freien Waren-, Personen-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrs die erste Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion.
Als 1998 der Bundestag über die Einführung des Euro als gesamteuropäische Währung entschied, kritisierte der damalige Vorsitzende der PDS-Gruppe Gregor Gysi: Die Integration Europas lasse sich nicht über gemeinsame Banken schaffen, die EU würde so ein »Europa für Rüstungs- und Exportkonzerne«, aber keines für kleine und mittelständische Unternehmen, Arbeitnehmer und Gewerkschaften. Um eine wirkliche Integration zu schaffen, müssten auch die Steuern harmonisiert, Löhne und Preise sowie auch soziale, ökologische und juristische Standards angeglichen werden.
So kam es, dass der »Standort Deutschland« gestärkt wurde, das heißt die bundesdeutsche Großindustrie – vor allem durch die Nachfolger Kohls mit der sogenannten Agenda 2010, die mit harten Einschnitten im Sozialsystem, Lohndumping und prekären Arbeitsverhältnissen in Europa und darüber hinaus die dominierende Rolle der deutschen Industrie ausbauten.
Kohl und der Fall der Mauer
Helmut Kohl ließ sich gern als »Kanzler der Einheit« feiern. Jedoch sein Beitrag zum Fall der Mauer war gering. Es waren die Menschen in der DDR, die die Öffnung der Grenzen durchsetzten. Am 9. November 1989 wurde Kohl bei einem Staatsbesuch in Warschau von den Ereignissen überrascht. Auch sein Empfang in Berlin am folgenden Tag vor dem Schöneberger Rathaus mit einem gellenden Pfeifkonzert war eher unfreundlich. Jedoch nutzte er die Wochen und wenigen Monate des Untergangs der DDR für die Verhandlungen zum Beitritt der ostdeutschen Länder zur BRD. So wurde über Nacht am 3. Oktober 1990 die Bundesrepublik zum Eigentümer tausender Unternehmen im Osten Deutschlands. Das Konzept der Kohl-Regierung: Privatisierung um jeden Preis. Unternehmen wurden regelrecht verscherbelt, Konkurrenten vom Markt gedrängt. Goldene Zeiten für das Kapital.
Helmut Kohl blühte im Glanz der Mächtigen, denen er zu Willen war, und er genoss es. Das Ende seiner politischen Karriere war mit der Schwarze-Kassen-Spendenaffäre und dem Verzicht auf den CDU-Ehrenvorsitz schmachvoll. Seine Partei war ähnlich zerrüttet, wie er sie am Ende der Adenauer-Ära vorgefunden hatte. Die letzten Schlagzeilen vor seinem Tod berichteten vom gerichtlichen Streit um die Autorisierung von Zitaten, die sein Ghostwriter Heribert Schwan veröffentlicht hatte, und die nicht schmeichelhaft für ihn waren. Trotzdem: Helmut Kohl war eine einflussreiche Person der Zeitgeschichte.
Foto: vfutscher
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