Vor 90 Jahren 1932/33 starben im Holodomor Millionen Menschen in der Ukraine und anderen Regionen der Sowjetunion. So setzte Stalin die Kollektivierung der Landwirtschaft durch. Klaus Henning schildert die damaligen Vorgänge
1930 setzte Stalin die allgemeine Kollektivierung der Landwirtschaft in der Ukraine durch. Die stalinistische Propaganda behauptete, die Kollektivierung sei ein »Krieg gegen das Kulakentum«. Der Begriff »Kulake« beschrieb ursprünglich wohlhabendere Bauern, doch nun wurde die Bezeichnung auf alle Bauern angewandt, die sich der Zwangskollektivierung nicht anschließen wollten. In Wahrheit war sie daher Teil eines Kriegs der russischen Bürokratie gegen die gesamte ukrainische Bauernschaft. Die Zwangskollektivierung nahm in einigen Teilen der Ukraine tatsächlich die Form eines »Klassenkriegs« mit regelrechten bewaffneten Bauernaufständen an, die sich zu einer allgemeinen Aufstandsbewegung auszuweiten drohte. Dies sollte nicht verwundern, war die Erinnerung an den bäuerlichen Widerstand gegen die Großgrundbesitzer im Bürgerkrieg noch vorhanden.
1931 wurden die Pflichtlieferungen für die Kolchosen radikal erhöht. Bauern durften nur noch 112 kg Getreide pro Person behalten, im darauffolgenden Jahr nur noch 83 kg. Es kam zu einer Hungerkatastrophe, die als »Holodomor« in die Geschichte einging. In den Jahren 1932/33 erlitten etwa 20 Prozent bis 25 Prozent der Dorfbewohner in der östlichen und südlichen Ukraine den Hungertod. Schätzungen gehen von mindesten 3 Millionen Menschenopfern aus. Es starben vor allem Kranke, Alte und Kinder. Ein Nebeneffekt der Hungersnot war daher die »Einsparung nicht verwertbarer« Menschen auf dem Land. Anders als zu Beginn der 1920er Jahre leugnete die Führung diese Hungersnot. Stalin bezeichnete sie als »Märchen«. Er organisierte keine Hilfe und wies alle Versuche ab, den Hungernden aus dem Ausland Hilfe zu bringen. Stattdessen hielt die Sowjetregierung alle Getreidelieferungen ins Ausland penibel ein, zu denen sie sich im Austausch für Industriegüter verpflichtet hatte.
Holodomor und Holocaust
Einige Autoren behaupten, dass die Hungerkatastrophe in der Ukraine auch als bewusste Waffe durch die stalinistische Bürokratie eingesetzt wurde, um den bäuerlichen Widerstand gegen die Zwangskollektivierung zu brechen. Als Argumente werden neben der unterlassenen Hilfe die Grenzschließung zu Russland und die Schließung der Städte genannt, um hungernde Bauern davon abzuhalten, in die weniger betroffenen Orte abzuwandern. Das brutale Vorgehen der stalinistischen Bürokratie hat dabei zu der von ukrainischen Nationalisten vertretenden Behauptung geführt, der »Holodomor« sei ein »Genozid« gewesen, von der Moskauer Regierung als bewusstes Instrument eingesetzt, um das ukrainische Volk zu vernichten. In Anlehnung an den Holocaust, wurde der Begriff »Holodcaust« (Holod/Голод = Hunger) verwendet.
Diese Erklärung verwechselt aber Ursache und Wirkung. Der Holocaust hatte das Ziel, Menschengruppen (vor allem die Juden) aufgrund ihrer Ethnie physisch zu vernichten. Die Hungersnot war dagegen ein Resultat der stalinistischen Kollektivierungspolitik, die das Ziel verfolgte, das Land dem Primat der Industrialisierung unterzuordnen. Die Pflichtabgaben der Kolchosen waren letztlich eine Aneignung des Mehrprodukts der Bauern durch die Bürokratie, das diese in die Industrialisierung steckte. Die Zwangskollektivierung verwandelte den größten Teil der Bauern in Landarbeiter. Ein anderer Teil wurde freigesetzt und in der neu entstandenen Industrie beschäftigt. Der Holodomor war daher auch nicht auf die Ukraine begrenzt, sondern betraf ebenso die Bauernschaft in Russland und in anderen Teilen der Sowjetunion.
»Ursprüngliche Akkumulation«
Die Zwangskollektivierung ist mit ähnlichen gewalttätigen Enteignungsmaßnahmen in frühkapitalistischen Gesellschaften verglichen worden. Marx bezeichnete diesen Prozess einst als die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals. Tatsächlich verwandelte sich die Ukraine in weniger als zehn Jahren von einem bäuerlichen Agrarland in ein Industrieland mit einer bedeutenden Arbeiterklasse. Diese Umwandlung, die in England und Deutschland mehrere Jahrzehnte, gar Jahrhunderte gedauert hatte, verwirklichte Stalin in der Ukraine innerhalb von wenigen Jahren. Doch welchen Preis musste die Bevölkerung hierfür zahlen?
Rückkehr des russischen Großmachtchauvinismus
Der Widerstand gegen die Zwangskollektivierung ging nicht nur von den Bauern aus. Auch innerhalb der Arbeiterklasse und der ukrainischen Kommunistischen Partei wuchs eine Opposition gegen die stalinistische Form der Industrialisierung heran. Das erklärt, warum die erste stalinistische »Säuberungsaktion« unter der Parole des »Kampfs gegen den ukrainischen Nationalismus« geführt wurde. Im Jahr 1933 erfolgte eine großangelegte von Moskau aus gesteuerte »Säuberung« der ukrainischen Eliten. Viele Intellektuelle, Schriftsteller, Künstler und selbst Volkssänger wurden erschossen oder nach Sibirien in die Arbeitslager geschickt. Die ukrainische Elite wurde durch russische Kader ersetzt. Das Bildungs- und Kulturwesen wurde mit dem russischen System gleichgeschaltet. 1938 wurde Russisch zum Pflichtfach an den Schulen und Universitäten erklärt.
Dieser Großmachtchauvinismus Stalins stand im krassen Widerspruch zu den Vorstellungen Lenins. Lenin trat immer für das Selbstbestimmungsrecht unterdrückter Völker ein. Stalins Nationalitätenpolitik hingegen war bereits in seiner Funktion als »Volkskommissar für Nationalitätenfragen« von Unterdrückung geprägt. Lenin hatte 1922 nach der Georgischen Affäre mit Stalin gebrochen und verglich sein Verhalten im Umgang mit unterdrückten Nationen mit »großrussischen Chauvinisten, ja im Grunde Schurken und Gewalttäter, wie es der typische russische Bürokrat ist.« Lenin bereitete den Sturz Stalins vor, doch hinderte ihn sein früher Tod daran, diesen Plan auszuführen.
»Liquidierung« der ukrainischen Kommunisten
Die »Säuberungen« der frühen 1930er Jahre sollten nur die Ouvertüre für den »Großen Terror« bilden, der 1937 seinen Höhepunkt erreichte. Moskau schickte Quoten über die Mindestzahl von Hinrichtungen. Der ukrainische Zweig des sowjetischen Geheimdienstes NKWD bat mehrmals um eine Erhöhung der Quoten. Insgesamt wurden in der Ukraine rund 400.000 Menschen innerhalb eines Zeitraums von wenigen Monaten erschossen. Der »Große Terror«, im Volksmund »Jeschow-Zeit« (Jeschowschtschina) genannt, hatte mehrere Ziele, eines davon die restlose Zerschlagung jedes potentiellen Widerstands. Er konzentrierte sich daher auf Bauern und Arbeiter, die in irgendeiner Weise negativ aufgefallen oder mit der Polizei in Berührung gekommen waren.
Wenngleich der Terror auch Nichtkommunisten betraf (vor allem den ukrainischen Klerus), zielte er vor allem auf die Auslöschung der ukrainischen Kommunisten ab. Insgesamt wurden fast 170.000 ukrainische Parteimitglieder aus der ukrainischen Kommunistischen Partei ausgeschlossen und die meisten von ihnen ermordet. Das entsprach 37 Prozent aller organisierten Kommunisten in der Ukraine. Von 102 Mitgliedern und Kandidaten des ukrainischen Zentralkomitees waren 1939 noch drei in Freiheit und drei weitere in Arbeitslagern am Leben geblieben.
Der Artikel ist ein Auszug aus dem Buch von Klaus Henning »Krieg im Osten – Die Ukraine zwischen Nationalismus, Imperialismus und Revolution«, Berlin 2017
Bildquelle: wikipedia, Alexander Wienerberger, Diözesanarchiv Wien
Schlagwörter: Holocaust, Stalinismus, Ukraine