Die Aussetzung des Auslieferungsgesetzes ist ein wichtiger Schritt für die Bewegung. Aber weitere Veränderungen sind dringend notwendig, sagt der Aktivist Kelvin aus Hongkong im marx21-Interview.
marx21: Kelvin, das Auslieferungsgesetz ist ausgesetzt und Regierungschefin Carrie Lam hat sich entschuldigt. Wie groß ist dieser Erfolg deiner Bewegung?
Kelvin: Das ist wirklich eine große Veränderung. Vor einer Woche hätte ich mit sowas nie gerechnet, mit den riesigen Beteiligungen an den Demonstrationen und dem schnellen Positionswechsel der Regierung. Um es in den richtigen Kontext zu bringen: Eine Million sind am 9. Juni auf die Straße gegangen und am gleichen Abend kündigte die Regierung an, dass sie das Gesetz dennoch durchdrücken würde. Am nächsten Tag beschloss die Regierung einen Zeitplan und plante, diesen in einer Woche zu verabschieden. Die Aussetzung ist also ein hart umkämpfter Sieg für die Bewegung.
Die Bewegung ist jedoch noch nicht zu Ende. Wir müssen die Polizei für ihr gewalttätiges Vorgehen zur Verantwortung ziehen und wir brauchen politische und soziale Reformen.
Ich denke, die Bevölkerung ist generell sehr skeptisch gegenüber dem Rechtssystem in China. Es wurde benutzt, um politische Dissidenten und Studierende und Gewerkschaftsaktivisten anzugreifen. Meiner Meinung nach ist unser Kampf gegen die Auslieferung ein Kampf gegen die zunehmende Unterdrückung von Andersdenkenden durch die chinesische Regierung und deren Eingreifen in Hongkong.
Habt ihr die Rechtsstaatlichkeit in Hongkong verteidigt?
Ja und nein. Einerseits würde die vorgeschlagene Auslieferungsreform sicherlich eine Bedrohung für die durch das Rechtssystem in Hongkong bestehenden Freiheiten bedeuten. Andererseits ist das Rechtssystem von Hongkong überhaupt nicht unschuldig. Es schützt bestimmte politische und wirtschaftliche Interessen der Reichen.
Zum Beispiel haben wir noch immer ein Gesetz aus der Kolonialzeit, mit dem soziale Bewegungen unterdrückt werden. Die Verordnung über die öffentliche Ordnung ist ein gutes Beispiel dafür. Mindestens fünf Demonstranten werden wegen Ausschreitungen nach diesem Gesetz im Zusammenhang mit dem Protest vom 12. Juni angeklagt, was eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren bedeutet.
Was haben sie getan?
Sie waren bei einer Demonstration dabei. Was man dort genau macht, ist irrelevant. Jeder kann wegen »Unruhen« angeklagt werden, wenn man an einem Protest teilnimmt, den die Polizei als »Aufstand« bezeichnet. Selbst wenn du nur rumstehst und dich nicht rührst.
Wie ist das möglich?
Hongkong stand schon immer unter der direkten Kontrolle von Großunternehmen und der indirekten Kontrolle der chinesischen Regierung. Sie versuchen, ihre Kontrolle und den Status quo zu bewahren, und gemeinsam versuchen sie, die Opposition zu unterdrücken.
Wir wissen nicht, wie viele Demonstrantinnen und Demonstranten von der gewalttätigen Polizei verletzt wurden, die Tränengas und Gummigeschosse benutzte, weil viele Verletzte nicht ins Krankenhaus gehen. Das liegt daran, dass wir mehrere Fälle hatten, in denen die Polizei in Krankenhäuser kam und Menschen verhaftete, die durch Polizeigewalt wegen dieser so genannten »Unruhen« verletzt wurden.
Wie sieht es mit demokratischen Institutionen aus?
Wir haben keine demokratische Regierung. Regierungschefin Lam wurde nicht durch allgemeine Direktwahlgewählt, sondern von einem Wahlausschuss, der aus 1200 Personen besteht, die von Wirtschaftsverbänden, Fachleuten und vom pro-chinesischen Regierungslager entsandt werden. Kandidaten können nur antreten, wenn sie 150 Unterschriften von diesem Komitee erhalten.
Die geschäfts- und regierungsfreundlichen Lager behalten auch die feste Kontrolle über den Gesetzgebungsprozess. Nur die Hälfte der Mitglieder des Parlaments von Hongkong sind direktgewählt. Die andere Hälfte, die als funktionale Interessengemeinschaft bezeichnet wird, wird ausschließlich von Fachleuten, Interessengruppen und Wirtschaftsverbänden gewählt. In den letzten fünf Jahren wurden auch mehrere Kandidatinnen und Kandidaten, die sich für mehr Unabhängigkeit von China oder Selbstbestimmung einsetzten, von der Wahl ausgeschlossen.
Dieses politische System ist….
… ziemlich verrückt, oder? Dieses explizit geschäftsfreundliche System stammt aus der Zeit vor 1997, als Hongkong eine britische Kolonie war. Die chinesische Regierung hat es grundsätzlich übernommen und verwendet es für ihre eigenen Zwecke.
Willst du, dass Lam zurücktritt?
Ich bin natürlich gegen sie. Aber ich erwarte nicht, dass eine mögliche Nachfolgerin oder ein Nachfolger in diesem politischen System etwas anderes tut als sie. Sie vertritt die Regierungsallianz der Geschäftsinteressen und der chinesischen Zentralregierung. Wir fordern das allgemeine Wahlrecht und kein Wahlverbot für kandidierende Parteien. Aber aus meiner Sicht müssen wir mehr tun, um diesen politisch-ökonomischen Status quo zu durchbrechen. Dann haben wir hier in Hongkong eine andere Lage.
Ein weiteres wichtiges Thema ist: Ich mache mir Sorgen wegen Rassismus gegen das chinesische Volk und Migrantinnen und Migranten in Hongkong. Sie werden für die politischen und sozialen Probleme verantwortlich gemacht. Ein Teil dieser Angst vor China trieb die Bewegung an. Deshalb ist es wichtig zu verstehen, dass es nicht die Chinesinnen und Chinesen sind, die uns unterdrücken, sondern die chinesische Regierung. Das chinesische Volk leidet noch mehr als wir, und wir dürfen ihm nicht die Schuld für die Situation geben.
Wie konnte es eine Demonstration von 2 Millionen Menschen in einem Land mit 7,4 Millionen Einwohnern geben?
In einer Situation, in der die repräsentative Demokratie noch nicht entwickelt ist und eine Beteiligung der Öffentlichkeit in diesem politischen System nicht möglich ist, werden Demonstrationen zu einem wichtigen Mittel, um unsere Meinung zu äußern und der Politik der Regierung zu widersprechen.
Historisch gesehen marschierte 1989 eine Million zur Unterstützung der demokratischen Bewegung in China und gegen die brutale Niederschlagung auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Im Jahr 2003 marschierten eine halbe Million gegen ein vorgeschlagenes nationales Sicherheitsgesetz. Im Jahr 2010 versammelten sich Zehntausende von Menschen außerhalb des Rates, um sich gegen ein Hochgeschwindigkeits-Bahnprojekt zu wenden. Ganz zu schweigen von der Regenschirm-Bewegung 2014.
Diese Bewegung hat sich aus vielen politischen Problemen in Hongkong entwickelt: der Drohung der Auslieferung, der mangelnden demokratischen Beteiligung an der Regierung, aber auch vielen sozialen Problemen.
Wie ist die soziale Situation?
Hongkong ist eine der ungleichsten Städte der Welt. Wir haben eine enorme Einkommensungleichheit. Im Jahr 2016 betrug das mittlere monatliche Haushaltseinkommen der Top 10 Prozent der Hongkonger 43,9 mal so viel wie das der unteren 10 Prozent. Unser Wohnungsmarkt ist der unbezahlbarste der Welt. 18 Prozent der Menschen verdienen weniger als umgerechnet 460 Euro im Monat. Das Durchschnittslohn beträgt umgerechnet etwa 1900 Euro pro Monat.
Das ist mehr, als ich dachte….
…. aber es ist viel weniger, als man denkt, wenn man die Mietpreise in Hongkong berücksichtigt. Eine kleine Wohnung (30 Quadratmeter) im Stadtgebiet kostet mehr als 600 Euro im Monat. Viele Menschen sind gezwungen, mehr als die Hälfte ihres Einkommens für die Miete zu zahlen. Nicht für ein schickes Zuhause, sondern für ein Dach über dem Kopf. Das liegt daran, dass wir in Hongkong keine Mietkontrolle haben. Der Verkehr ist privatisiert, und wir haben viele Unternehmensmonopole.
Gleichzeitig gibt es 68 Euro-Milliardäre in Hongkong. Allein Li Ka-Shing hat ein Nettovermögen von 27 Milliarden Euro. Dies macht viele seit Jahren wütend und trägt zum Wachstum der Bewegung bei.
Wie geht die Regierung damit um?
Die Regierung Hongkongs setzt ihre geschäftsfreundliche und neoliberale Politik fort. Auf dem Wohnungsmarkt hat die Regierung den Marktliberalismus auf die Spitze getrieben. Alle Gesetze zum Schutz der Mieter wurden abgeschafft. Es wurde weniger öffentlicher Wohnungsbau betrieben. Mehr Land wird an private Bauherren vergeben. Der freie Markt regiert und die Menschen leiden sehr unter dieser Regierung.
Hat diese Bewegung eine langfristige Bedeutung?
Es ist zu früh, das sagen zu können. Aber wir spüren schon jetzt, dass sich die Atmosphäre verändert hat. Nach der erfolglosen Regenschirm-Bewegung im Jahr 2014 verloren viele Menschen in Hongkong die Hoffnung, das politische und soziale System zu verändern. Proteste gegen die chinesische Regierung erschienen sinnlos.
Jetzt haben wir alle gelernt, dass wir sie zwingen können, ein sehr wichtiges Gesetz zurückzunehmen. Eine neue Generation von Demonstrantinnen und Demonstranten hat diese Erfahrung gemacht. Ich denke, es wird eine neue Diskussion darüber entstehen, was wir von nun an tun können.
Hat sich eure Bewegung in China ausgewirkt?
Die offizielle Haltung der chinesischen Regierung ist, dass die Bewegung durch ausländische Mächte mobilisiert wird und die Stabilität Hongkongs gefährdet. Wir hören über die Zensur von Informationen über diese Bewegung in China. Wenn etwas darüber in den sozialen Medien veröffentlicht wird, wird es sofort wieder gelöscht. Aber natürlich setzen sich Leute über diese Abschottung hinweg und reden darüber, damit andere davon erfahren. An dem Protest nehmen auch chinesische Migrantinnen und Migranten teil.
Kelvin, wir danken dir für das Gespräch mit uns.
Kelvin studiert auf Master, ist Aktivist gegen Auslieferung und Mitglied eines politischen Videokunstkollektivs.
Die Fragen stellte Hans Krause. Übersetzung: Franziska Wöckel.
Foto: Studio Incendo
Schlagwörter: China, Hong Kong, Hongkong, Protest