Die Wirecard-Pleite wird in den Medien schon als Jahrhundertskandal bezeichnet, wohl mit der Botschaft, dass sich so etwas nicht wiederholen wird. Tatsächlich aber handelt es sich hier nicht einfach um Betrug einiger »Schlaumeier«, wie es kommentiert wurde, sondern praktisch jede private und staatliche Institution des deutschen Kapitalismus ist darin verwickelt. Wirecard ist ein Symptom für die Krise des Kapitalismus und seiner Institutionen. Thomas Walter hat hier im Anschluss zu einem früheren Artikel den aktuellen Stand dargestellt
Wirecard verkaufte die Technik für elektronischen, bargeldlosen Zahlungsverkehr. Zu den ersten Kunden zählten Betreiber von Porno- und Glücksspiel-Webseiten. Besucher dieser Webseiten konnten mithilfe von Wirecard-Technologie online bezahlen. Später kauften laut Neuer Züricher Zeitung auch Großunternehmen wie das US-Kreditkartenunternehmen Visa, die niederländische Fluggesellschaft KLM oder der chinesische Bezahldienst Alipay Dienste von Wirecard. 2012 beauftragte Telekom Wirecard als technischen Dienstleister beim bargeldlosen Bezahlen.
Wirecard war damit ein FinTech, im engeren Sinne ein PayTech-Unternehmen. Das könnte erklären, weshalb zahlreiche staatliche Stellen Wirecard als deutsches Zukunftsunternehmen hartnäckig stützten auch als bereits zahlreiche Hinweise auf Betrug und drohende Pleite vorlagen.
Wirecard wurde 1999 gegründet. Seit September 2018 gehörte Wirecard zu den 30 größten Aktiengesellschaften, die im deutschen Aktienindex DAX erfasst sind. Wirecard verdrängte die Commerzbank aus dem Index. Dies wurde als Anzeichen verstanden, dass Deutschland sich vom klassischen Bankengeschäft aus weiter entwickelt und jetzt bei den neuen FinTech-Technologien vorne mitmischt.
Der Wirecard-Aktienkurs erreichte noch 2020 Kurswerte von zeitweise fast 150 Euro. Anfang Juni lag er bei 100 Euro, um dann nach der Insolvenz unter einen Euro abzustürzen. Es war schließlich heraus gekommen, dass 1,9 Milliarden Euro in Wirklichkeit Luftbuchungen waren. Wirecard hatte behauptet, dieses Geld sei auf Konten bei philippinischen Banken geparkt. Wirecard, das den bargeldlosen Zahlungsverkehr voran treiben wollte, hatte nun selbst kein Bargeld.
»House of Wirecards«
Die Journalisten der britischen Wirtschaftszeitung Financial Times (FT) Dan McCrum und Stefania Paula hatten schon länger z.B auf ihrem Blog »House of Wirecards« behauptet, dass viele Wirecard-Geschäfte frei erfunden wären. Hedgefonds hatten daraufhin spekuliert und Wetten auf bald sinkende Kurse von Wirecard-Aktien laufen.
Zwar waren laut einem Handelsblattbericht deutsche Banken wohl bereit, trotz des aufgeflogenen Betrugs neue Kredite zu gewähren. Sie hofften, dass Wirecard den großen FinTech-Durchbruch doch noch schafft und dann seine Kredite schließlich zurück zahlen kann. Dieses Verhalten ist nicht ungewöhnlich. Schließlich macht auch Delivery Hero, das jetzt an die Stelle von Wirecard in den DAX nachrückt, bis heute keine Gewinne und wird trotzdem spekulativ von Banken finanziert. Nach einem FAZ-Bericht setzte sich das Bundesfinanzministerium (BMF) noch am 20. Juni 2020 mit der Commerzbank in Verbindung, um abzuchecken, ob womöglich wichtige Technologie wegen der Wirecard-Pleite nach China abfließen könnte. Dem war aber wohl nicht so. Andernfalls wäre wohl noch ein Rettungsversuch unternommen worden.
Die Aufsichtsbehörde Bafin (Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht) hatte 2019 Wirecard noch gegen britische Journalisten und Hedgefonds geschützt. Doch jetzt zog sie die Reißleine. Sie drängte Wirecard, Schluss zu machen. Am 25. Juni stellte Wirecard beim Amtsgericht München einen Insolvenzantrag aufgrund einer drohenden Zahlungsunfähigkeit und wegen Überschuldung.
»Zwei Wiener Schlaumeier«
Das »von zwei Wiener Schlaumeiern« aufgebaute Wirecard, so im Handelsblatt der »Experte für Corporate Governance« Christian Strenger über die beiden Manager Markus Braun und Jan Marsalek, drohte den Ruf des Finanzplatzes Deutschland zu gefährden. Deutschland ist als Exportnation auf offene Finanzmärkte im Ausland angewiesen, um dort seine Exporterlöse anzulegen. Es kann es sich deshalb nicht leisten, dass ausländische Investoren den deutschen Finanzmarkt als geschlossene Gesellschaft wahrnehmen, in der letztlich deutsche Firmen zu Lasten ausländischer Investoren gerettet werden.
Nach Aufdeckung der Luftbuchungen betrug das Vermögen von Wirecard nicht mehr 8 Milliarden Euro, sondern nur noch 6 Milliarden Euro. Nach Berechnungen des Handelsblatts sind inzwischen weitere 800 Millionen Euro nicht vorhanden.
»Publik«, die Zeitschrift der Gewerkschaft verdi, berichtet, dass nach der Insolvenz 300 Wirecard-Mitarbeiter in Deutschland gekündigt haben. Der Insolvenzverwalter Michael Jaffé hat weitere 800 entlassen. Die noch verbliebenen 500 Beschäftigten haben jetzt, also nach der Insolvenz, einen Betriebsrat gegründet. Die alte Wirecard-Führung war gegen einen Betriebsrat gewesen. Wirecard hatte sich außerdem in Untergesellschaften aufgeteilt, von denen keine mehr als 500 Beschäftigte hatte. Für solch kleine Belegschaften schreibt das Gesetz keine Arbeitnehmervertretung im Aufsichtsrat vor. Wäre einem Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat etwas aufgefallen?
Der Aufsichtsrat, im Falle Wirecard also ohne Arbeitnehmervertreter, hätte eigentlich ebenfalls die Aufgabe gehabt, Wirecard zu beaufsichtigen. Das ist offensichtlich nicht gelungen bzw. einzelne Aufsichtsratsmitglieder machten sich rechtzeitig aus dem Staub, indem sie ihr Amt niederlegten. Öffentlich machten sie ihre Erkenntnisse nicht. Der frühere Deutsche-Bank-Chef Hermann Josef Abs hat es einmal so formuliert: »Die Hundehütte ist für den Hund, der Aufsichtsrat ist für die Katz.«
Absturz
Auch der Wirtschaftsprüfergesellschaft EY, die seit zehn Jahren die Jahresbilanzen von Wirecard prüft, war nichts aufgefallen. Erst 2020 bemerkte EY, dass 1,9 Milliarden Euro fehlten. Wirecard hatte zuvor die Flucht nach vorne angetreten und KPMG, eine Konkurrenzfirma von EY, für eine Sonderprüfung engagiert. Ende April 2020 stellte KPMG sein Ergebnis vor. KPMG drückte sich vor einer klaren Antwort, aber das genügte. Im Juni 2020 brach das Wirecard-Haus zusammen.
Im August 2019 betrug der Gesamtwert der Wirecard-Aktien noch knapp 18 Milliarden Euro laut Finanz-Trends. Dieses Geldvermögen bei den Anlegern hat sich jetzt in Luft aufgelöst. Ein Trostpflaster für die Investoren ist, dass sich solche Verluste wohl von den Steuern absetzen lassen. Ein Teil der Verluste wird also sozialisiert. Wir alle tragen daran mit.
Zu den Verlierern gehört auch Ex-Finanzminister Peer Steinbrück (SPD). Er wollte der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) gegenüber seine Verluste nicht genau benennen.
Aufsichtswirrwarr
Die staatliche Wirtschaftsprüfer-Aufsicht APAS (Abschlussprüferaufsichtsstelle) hat inzwischen die Wirtschaftsprüfergesellschaft EY geprüft. Die Apas unterliegt der Aufsicht des CDU-geführten Wirtschaftsministeriums unter Peter Altmaier. Apas erstattete gegen EY Strafanzeige, da EY nicht nur durchgewunken, sondern strafbar getäuscht hätte. Darauf gibt es, wenn die Gerichte das auch so sehen, Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren oder Geldstrafen.
EY beschuldigt wiederum die Apas. EY hätte im Februar 2019 die Apas telefonisch vor Wirecard gewarnt. Die Apas wiederum beschuldigt die Bafin (unter Kontrolle des SPD-geführten Finanzministeriums). Die Bafin hatte eben im Februar 2019 Finanzmarktwetten gegen Wirecard verboten und so den Eindruck erweckt, sie hätte den Wirecard-Fall im Griff. Deshalb hätte Apas nach dem Warnhinweis von EY nichts weiter unternommen. Die Bafin beschuldigt die Deutsche Bundesbank. Diese hätte zugestimmt, dass die Bafin nicht die ganze Wirecard, sondern nur deren Bank, die Wirecard-Bank, prüfen müsse.
Tatsächlich übersah die Bafin einiges auch bei der Wirecard-Bank. Der Jahresabschluss 2019 dieser Bank wurde nicht von EY geprüft, sondern von der Konkurrenz PWC (PricewaterhouseCooper. EY, KPMG, PWC und Deloitte sind die »Big Four«, die vier großen internationalen Wirtschaftsprüfergesellschaften). PWC »testierte«, hielt also den Jahresabschluss für in Ordnung. Inzwischen gibt es aber auch bei diesem Jahresabschluss Ungereimtheiten. Zum Glück für PWC und die Bafin ist aber der Großteil der Wirecard-Bank schon an die spanische Bank Santander verkauft, so dass sich das mit den Ungereimtheiten erledigt hat.
Der Bundestag ermittelt
Seit Oktober 2020 gibt es beim Deutschen Bundestag einen Wirecard-Untersuchungsausschuss. Er soll mögliches Fehlverhalten bei staatlichen Aufsichtsbehörden von der Bafin bis hin zum Bundesfinanzministerium (BMF) und Verwicklungen mit Geheimdiensten klären. FinTech-Firmen sind für Geheimdienste interessant, weil sich über sie Zahlungsströme ausspionieren lassen.
Die Vertreter von EY schwiegen im Ausschuss unter Berufung auf »Verschwiegenheitspflicht«. Zwar hat sie der Insolvenzverwalter Michael Jaffé von dieser Pflicht entbunden. Es gibt aber Gerichtsurteile, wonach diese »Verschwiegenheitspflicht« auch gegenüber den früheren Managern gelten würde. Ausgerechnet die beschuldigten Wirecard-Manager müssten also die Verschwiegenheitspflicht aufheben.
Die Bundesregierung könnte aber auf EY Druck ausüben, weil sie größere Aufträge an EY vergibt. So beauftragte Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) EY mit einer Beratung, für die EY 27 Millionen Euro kassiert. Das offensichtlich vielseitig begabte EY soll beim Kauf von Covid-Schutzmasken beraten. Auch das Justizministerium wird von EY beraten. Inzwischen hat EY aber einige Aufträge verloren, auch von der Firma Telekom. Die Bundesrepublik Deutschland und die Staatsbank KfW besitzen etwa ein Drittel der Aktien der Telekom.
Der Wirecard-Untersuchungsausschuss lud Wirecard-Chef Dr. Markus Braun vor. Dieser sitzt inzwischen in Untersuchungshaft. Braun, einer der beiden vom »Experten für Corporate Governance« im Handelsblatt genannten »Wiener Schlaumeier«, spendete von 2014 bis 2016 der österreichischen liberalen Partei »NEOS – Das Neue Österreich und Liberales Forum« insgesamt 125.000 Euro. NEOS ist für Rentenkürzung, Cannabis und für Privatisierungen. NEOS ist gegen Mindestlöhne und Gewerkschaften. Außerdem unterstützte Braun 2017 die ÖVP mit 70.000 Euro und trat als Unterstützer von Sebastian Kurz (ÖVP), dem derzeitigen österreichischen Bundeskanzler, auf.
Vor dem Untersuchungsausschuss machte Braun als strafrechtlich Verfolgter von seinem Recht gebrauch, die Antwort zu verweigern. Nur eine Frage beantwortete er: Er hätte »zu keiner Zeit« ein pflichtwidriges Verhalten von Behörden oder Politikern bemerkt. Damit stellte er sich schützend vor die Bafin und deren Chef Felix Hufeld und das BMF mit Minister Olaf Scholz (SPD). Das BMF beaufsichtigt also die Bafin und die Bafin hätte Wirecard beaufsichtigen sollen.
Finanzminister Olaf Scholz »unter Druck«
Olaf Scholz ist Kanzlerkandidat der SPD. Er ist nicht nur durch den Wirecard-Skandal belastet. Auch in Hamburg wartet ein Untersuchungsausschuss auf ihn.
Es geht, wie die ZEIT berichtet, um seine frühere Rolle als Bürgermeister im bundesweiten Steuerhinterziehungsskandal »Cum-Ex«. Die Hamburger Finanzverwaltung hatte bei der Hamburger Warburg-Bank lange gezögert, 90 Millionen Euro zu Unrecht erstattetes Steuergeld zurückzufordern. Scholz wird verdächtigt, als damaliger Bürgermeister zugunsten von Warburg sich eingemischt zu haben. Er kann sich aber an nichts mehr erinnern. Er vergaß, dass er sich mehrmals mit dem Chef der Warburg-Bank im Rathaus getroffen hatte. Erst nachdem diese Treffen bekannt wurden, fielen sie ihm wieder ein. An was dabei besprochen wurde, kann er sich aber leider nicht mehr erinnern.
Wortkarg gibt sich auch Scholz’ Staatssekretär Jörg Kukies (SPD). Am Beispiel Kukies lässt sich erkennen, wie man heutzutage Teil der technokratischen Elite des Weltkapitalismus wird. Ein internationales Studium gehört dazu. Kukies studierte unter anderem an der Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne und an der Harvard Kennedy School. Den Doktortitel (Ph.D.) machte er an der University of Chicago Booth School of Business. Politikerfahrung sammelte Kukies in den 1990 Jahren als Vorsitzender des Landesverbandes Rheinland-Pfalz der Jusos, bevor ihn dort Andrea Nahles ablöste.
Berufserfahrung gewann er bis 2018 bei der Bank Goldman Sachs. Diese Bank gilt als internationale Kaderschmiede für Manager und höhere Beamte. So landete Kukies schließlich bei Scholz im BMF. Vom BMF aus traf Kukies 2019 in Aschheim bei München, dem Sitz von Wirecard, Markus Braun just an dessen 50. Geburtstag. Über das Gespräch gibt es keine Akten, die es eigentlich bei Behörden geben sollte. Die neugierigen Bundestagsabgeordneten wurden wegen »Geheimschutzinteressen« abgewimmelt.
2019: Bafin greift ein – zugunsten von Wirecard
Die Bafin hat 2700 Mitarbeiter und einen Jahreshaushalt von 2020 etwa 430 Millionen Euro. Die Kosten der Bafin werden auf die beaufsichtigten Banken umgelegt. Bafin-Chef Felix Hufeld gehört auch zur technokratischen Elite mit einschlägigem Studium und Berufserfahrung. Er studierte unter anderem an der Harvard University. Beruflich arbeitete er unter anderem für Boston Consulting und die Dresdner Bank.
Weder Wirecard-Manager Markus Braun, noch Scholz und Kukies sehen bei der Bafin Versäumnisse bei ihrer Aufsicht von Wirecard. Nach dem Wirecard-Crash stand Hufeld aber stark »unter Druck«. Wenn Medien allerdings von »unter Druck« reden, ist das Schlimmste schon überstanden.
Die Bafin hatte im Februar 2019 für zwei Monate Wetten auf sinkende Kurse (sogenannte Leerverkäufe) der Wirecard-Aktie verboten. Ein Leerverkäufer leiht sich Aktien gegen eine Leihgebühr und verkauft sie anschließend gegen Cash, daher »Leerverkauf«: er verkauft keine eigenen Aktien, sondern geliehene. Nach Ablauf der Leihfrist kauft er die Aktien wieder und gibt sie an den Verleiher zurück. Sein Profit ist die Differenz zwischen Verkaufspreis und späterem niedrigerem Kaufpreis. Solche Spekulationen können natürlich auch schief gehen, wenn der Aktienkurs nicht sinkt, sondern steigt.
Unmittelbar zuständig für das Leerverkaufsverbot war die Bafin-Direktorin Elisabeth Roegele. Da es sich um einen Eingriff zugunsten einer einzelnen Firma handelte, wollte sie sich bei anderen Aufsichtsbehörden, von denen es ja offensichtlich genügend gibt, rückversichern. Roegele wandte sich an die Deutsche Bundesbank und an die ESMA. Die Esma, die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde, beaufsichtigt – neben dem BMF – auf europäischer Ebene die Bafin. Die Esma selbst wird wiederum von einem »Rat der Aufsicht« beaufsichtigt. Und in dem sitzt wiederum Elisabeth Roegele von der Bafin. Die Bafin-Abteilungsleiterin Elisabeth Roegele beaufsichtigt also die Esma und die Esma die Bafin.
Bundesbank gegen Bafin
Die Bundesbank stimmte damals allerdings dem Leerverkaufsverbot, wie sie jetzt etwas verspätet durchblicken lässt, nicht zu. Die Bundesbank ist allerdings – laut Bafin – nur für die Aufsicht der Finanzstabilität zuständig. Beim Leerverkauf wäre es aber um »Marktvertrauen« der Geldanleger gegangen. Dies zu beaufsichtigen wäre die Aufgabe der Bafin. (Warum hat man dann die Bundesbank überhaupt gefragt?)
Außerdem erstattete die Bafin Strafanzeigen gegen allzu neugierige Journalisten der Londoner Financial Times (FT). Jetzt steht der Vorwurf im Raum, die Bafin hätte mit dem Leerverkaufsverbot und den Strafanzeigen gegen die FT-Journalisten eine Art Staatsgarantie für Wirecard abgegeben. Das widerspricht natürlich dem neoliberalen Geist, wonach der Staat sich ja nicht in die Wirtschaft einmischen soll. Tatsächlich investierte z.B. das Prager Anlagehaus Krupa Global Investments 5 Millionen Euro in Wirecard mit der Begründung: »Die deutsche Regulierungsbehörde Bafin und die deutsche Regierung unterstützen Wirecards Mission und Expansion umfassend.« Die Esma allerdings, wo ja Bafin-Abteilungsleiterin Roegele mit im Rat der Aufsicht sitzt, nickte das Leerverkaufsverbot der Bafin ab.
Leerverkäufer keine Unschuldslämmer
Die Bafin verteidigt sich damit, dass Leerverkäufer keine Unschuldslämmer seien. Sie verdächtigte »überwiegend israelische und britische Staatsangehörige« (Originalton Bafin) einer Verschwörung. Der Profit eines Leerverkaufs stellt sich ja dann ein, wenn der Aktienkurs des »angegriffenen« Unternehmens sinkt. Da werden dann schon mal schädliche Gerüchte verbreitet und Journalisten bestochen, damit sie ungünstig über eine Firma berichten. Im Internet tauchen anonyme kritische Berichte auf. Journalisten, die ahnungslos ihre üblichen Lobhudeleien über Firmen schreiben, sehen sich plötzlich Telefonterror ausgesetzt.
Wie es sich für eine Marktwirtschaft gehört, gibt es nicht nur Wetten nach unten – im Börsenjargon eine »short-Position«, sondern auch nach oben – »long-Position«. Diejenigen, die auf steigende Aktien setzen, die Longs, werden natürlich auch aktiv. FT-Journalist Dan McCrum berichtet im Spiegel, dass ihm anonym 10 Millionen Euro geboten wurden dafür, dass er die Klappe hält. Aus der Commerzbank, die Kredite an Wirecard vergeben hatte, wurden die FT-Journalisten beschuldigt, sie würden Fakenews verbreiten und Wirecard in Serie angreifen. Rechtsanwälte verdienen ihr Geld mit den ganzen Klagen und Gegenklagen. Die Gerichte haben genug zu tun.
Manche verlassen sich nicht auf diese »Marktkräfte« zwischen Shorts und Longs. (Früher wurden hier die französischen Begriffe Baissiers und Haussiers verwendet.) Sie wollen die Leerverkäufe verbieten. Der Ökonom Hans Werner Sinn, sonst eigentlich wirtschaftsliberal, vergleicht die Leerverkäufe mit »Friedhofsversicherungen« aus dem Wilden Westen. Im Wilden Westen konnte man demnach Lebensversicherungen abschließen, aber nicht für das eigene Lebensende, sondern für das anderer. Starb diese andere Person, kassierte man die Versicherungsprämie. Die restliche Lebenserwartung der so »versicherten« anderen Personen soll deutlich gesunken sein.
Doch die Leerverkäufe sind fester Bestandteil der neoliberalen Finanzarchitektur. Sie gehören zum Geschäftsmodell der Hedgefonds. Diese wetten oft gleichzeitig, mithilfe ausgeklügelter Berechnungen, sowohl auf sinkende als auch auf steigende Kurse, um so ihren Schnitt zu machen.
Diebstahl
Neben Geld, das es nie gab, wurde auch Geld unterschlagen. Rund 300 Millionen Euro scheinen über einen Scheinkauf in das Steuerparadies Mauritius geschafft worden zu sein. Wirecard hatte 2015 für 320 Millionen Euro von dem Fonds EMIF, der in Mauritius sitzt, indische Firmen gekauft. Diese Firmen hatte EMIF kurz zuvor für nur 35 Millionen Euro gekauft. EMIF machte also Dank Wirecard einen Gewinn von rund 300 Millionen Euro. Die Ermittler gegen Wirecard vermuten, dass hinter EMIF Wirecard-Manager stecken, die sich so aus dem Vermögen von Wirecard rund 300 Millionen Euro abzweigten.
Derzeit weiß offensichtlich niemand auf der ganzen Welt, wem eigentlich EMIF (»Emerging Markets Investment Fund 1A«) gehört. Pikant: Wirtschaftsprüfer KPMG hat 2016 die Bilanzen von EMIF geprüft, aber wegen mangelnder Kooperation von EMIF wieder abgebrochen. KPMG wird nun vorgeworfen, von diesem kurzfristigen Engagement bei EMIF bei seiner Sonderprüfung von Wirecard 2020 nichts gesagt zu haben. KPMG war zwar im Bundestagsausschuss gesprächig, was es von seinem Konkurrenten EY hält, schweigt aber in dieser Sache. Bekannt ist allerdings, dass KPMG EMIF beim Verkauf der indischen Firmen an Wirecard – zum offensichtlich überhöhten Preis – beraten hat.
Insiderhandel
Im Zuge der Ermittlungen zu Wirecard kam auch heraus, dass die Mitarbeiter der verschiedenen Aufsichtsinstitutionen zwar nichts auf die Reihe bekommen haben, was die Aufsicht betrifft, aber selbst privat ihr Insiderwissen für Aktiengeschäfte nutzten. Schon 2008 hatte die Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) kritische Fragen zu Wirecard gestellt. Doch ein SdK-Vorstandmitglied hatte zuvor Wetten auf sinkende Wirecard-Aktien abgeschlossen. Die Kritik war zwar, wie sich heute herausstellt, richtig gewesen, wurde aber damals wegen des Insidergeschäftes nicht mehr ernst genommen.
Die KfW IPEX-Bank, in deren Aufsichtsrat Staatssekretär Kukies sitzt, vergab 2018 und noch 2019 Kredite an Wirecard, laut Spiegel in Höhe von 100 Millionen Euro. Gleichzeitig hatten IPEX-Mitarbeiter mit Wirecard-Aktien gehandelt. Nach Informationen des Nachrichtenportals »The Pioneer« erhielten deswegen inzwischen zwei Mitarbeiter eine Abmahnung. Auch hat das BMF inzwischen den Mitarbeitern der Bafin verboten, mit Wirecard- und anderen Aktien zu handeln.
Auch der Apas-Chef Ralf Bose wurde durch Wirtschaftsminister Altmaier vom Dienst frei gesetzt, weil er noch 2020 mit Wirecard-Aktien handelte. Er machte freilich Verluste. Am 28. April 2020 hatte KPMG sein Sondergutachten über Wirecard veröffentlicht. Genau an diesem Tag kaufte Bose, der die Aussagen des Gutachtens wohl nicht so richtig verstanden hatte, die Aktien. Die Aktien brachen wegen des Berichts ein. So verkaufte Bose am 20. Mai die Aktien wieder mit Verlust, immerhin noch rechtzeitig vor dem völligen Kurszusammenbruch im Juni.
Die Geheimdienst-Connection
Brauns Co-Manager Jan Marsalek, der andere »Wiener Schlaumeier«, wird steckbrieflich gesucht. Die deutsche Justiz ermittelt, ob er ein Kontaktmann des österreichischen Verfassungsschutzes war und womöglich für diesen die Bundesrepublik Deutschland ausspioniert hat. Wenn er schon beim Verfassungsschutz war, soll er auch noch aus diesem Informationen an die Rechts-Partei FPÖ weiter gegeben haben. Gemutmaßt wird auch darüber, ob sich in Österreich seine Wege mit denen des deutschen Geheimdienstlers Klaus-Dieter Fritsche »gekreuzt« haben, wie es die FAS ausdrückt.
In Deutschland ist Klaus-Dieter Fritsche (CSU) durch seinen Satz »Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren« bekannt geworden. Die Untersuchung der NSU-Verbrechen hat Fritsche, wie Wikipedia schreibt, »verzögert«.
Fritsche war bis zu seiner Pension 2018 Staatssekretär im Bundeskanzleramt in Berlin und Beauftragter für die Nachrichtendienste Deutschlands. 2019 wurde der Pensionär vom FPÖ-Minister Herbert Kickl angeheuert. Er sollte das österreichische Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorbekämpfung (BVT) durchleuchten. Fritsche beriet neun Monate lang für 9000 Euro pro Monat. Laut FAS sollte Fritsche auch verhindern, dass das BVT unter russischen Einfluss gerät. Diese Befürchtung war akut geworden, weil die FPÖ, damals in der Regierung, von russischen Agenten unterwandert sein soll.
2019 bemühte sich Fritsche für Wirecard um einen Gesprächstermin im Kanzleramt. Tatsächlich fand 2019 ein Gespräch mit dem Wirtschaftsberater der Bundeskanzlerin Professor Lars-Hendrik Röller statt. Inzwischen scheint aber Fritsche dem Kanzleramt etwas unheimlich geworden zu sein. Als er jetzt im Rüstungskonzern Heckler & Koch einen Aufsichtsratsposten einnehmen wollte, wurde ihm diese Nebentätigkeit dann doch verboten. So teilte Heckler & Koch mit: »Klaus-Dieter Fritsche musste aus persönlichen Gründen darauf verzichten, in dem Gremium mitzuwirken.«
Angela Merkel und Karl-Theodor zu Guttenberg
Noch 2019 hatte sich allerdings Bundeskanzlerin Angela Merkel höchstpersönlich bei einem China-Besuch für Wirecard in China eingesetzt, allerdings vergeblich. Dass die deutsche Botschaft in China dies wegen der Berichterstattung über Wirecard nicht unterstützen wollte, schreckte Merkel nicht ab. Eingefädelt hatte diese Lobby-Arbeit Karl-Theodor zu Guttenberg, Merkels früherer Wirtschafts- und dann Verteidigungsminister. Guttenbergs Beratungsfirma – einziger Kunde: Wirecard – kassierte für diese Vermittlung etwa 1 Million Euro. Weitere Einnahmen blieben mit der Wirecard-Pleite aus.
2011 musste Guttenberg von seinem Ministeramt zurücktreten, weil er bei seiner Doktorarbeit (mit der Bestnote »summa cum laude«) abgeschrieben hatte. Bis Sommer 2020 hatten Guttenberg und sein Parteigenosse von der CDU Philipp Amthor noch Funktionen bei der US-Firma Augustus Intelligence, die angeblich Produkte Künstlicher Intelligenz entwickelt. Amthors Karriere hat inzwischen wegen seiner Lobby-Arbeit für diese Firma einen Knick erhalten. Gründer von Augustus Intelligence ist ein Wolfgang Haupt, dem Verbindungen zum ehemaligen Chef des Bundesnachrichtendienstes August Hanning und zum ehemaligen Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen nachgesagt werden.
Demokratische Kontrolle?
Der Wirecard-Untersuchungsausschuss des Bundestages kommt nur mühsam voran. Die CDU- und SPD-Mitglieder des Ausschusses wollen weder Merkel noch Scholz beschädigen. Auch die SPD-Linke Cansel Kiziltepe schont Olaf Scholz. Die Medien zitieren meistens Politiker der Opposition. Bei der LINKEN ist das Fabio De Masi.
Der Wirecard-Manager oder die Vertreter von EY verweigern die Aussage. Die Bundestagsabgeordneten schimpfen über »ungeheuerliche« Vorgänge, über »starken Tobak« und »ungeheure Instinktlosigkeit« oder sind einfach nur »befremdet«. Ihnen liegen inzwischen Informationen über verdächtige Zeitpunkte von Telefongesprächen zwischen den verschiedenen beschuldigten Institutionen vor. Sie kommen aber an die Inhalte dieser Gespräche nicht ran.
Immerhin scheint der Ausschuss inzwischen über einige Akten zu verfügen. Aber der Ausschuss selbst unterliegt der Geheimhaltung. Zeitungen wie FAZ oder Handelsblatt beziehen sich auf Dokumente, die ihnen »vorliegen«, also ihnen von Bundestagsabgeordneten heimlich zugeschoben worden sind. Damit hängen die Medien von solchen Abgeordneten ab, die wiederum von den Medien abhängen, damit diese über sie günstig berichten.
Informationen erblicken am ehesten das Licht der Öffentlichkeit, wenn zwischen verschiedenen Teilen des Herrschaftsapparates Konflikte bestehen. Die Bafin stellte sich schützend vor den deutschen Hoffnungsträger Wirecard, während die Bundesbank in diesem Fall das Prinzip internationaler Konkurrenz hoch hielt. Über die Medien werden solche Machtkämpfe ausgetragen.
Schließlich bringen die Medien die Fakten häufig nur einzeln. Es bleibt den Leserinnen und Lesern überlassen, größere Zusammenhänge herzustellen und eigene Schlussfolgerungen zu ziehen. Durch diese kleinteilige Berichterstattung sind die Medien auch in der Lage unauffällig nach einiger Zeit heikle Punkte, etwa Verwicklungen von Angela Merkel oder Olaf Scholz oder des Geheimdienstes, wieder im Hintergrund verschwinden zu lassen.
Der ganze Staatsapparat hängt von den Profiten seiner Unternehmen ab. So ist es kein Wunder, dass sowohl legal als auch illegal die Unternehmen wenig Steuern zahlen. Das gleiche gilt für die Aufsicht. Eine Aufsicht, die Profite schmälert, ist keine gute Aufsicht. So ist es auch kein Wunder, dass die vielen Aufsichten, deren Beschäftigte immerhin nicht schlecht verdienen, sowohl wenig zu sagen haben als auch wenig sagen. In diesem Sinne muss dem Lobby-Verband »BVI Bundesverband Investment und Asset Management« recht gegeben werden, der die Frage aufwirft, »ob noch mehr Bürokratie den Wirtschaftsbetrug erkennt. Wir denken nicht.«
Gerade weil es so viele Aufsichten gibt, fällt es ihnen leicht, im Falle eines Falles, wie jetzt bei Wirecard, die Verantwortung von der einen zur anderen Institution abzuschieben. Da letztlich ja alle versucht haben im Sinne der Profite ihren Job zu machen, wird auch niemand zur Verantwortung gezogen. Olaf Scholz wird als Kanzlerkandidat antreten, und diejenigen, die er aus welchen Gründen auch immer im Amt behalten will, bleiben im Amt. Scholz ist damit jedoch auch erpressbar. Sollte er wider Erwarten eine dem Kapital nicht genehme Politik einschlagen, werden die Wircard- und Cum-Ex-Berichte in den Medien rasch wieder aufleben.
Schließlich macht die internationale Konkurrenz aus Sicht des Kapitals Geheimhaltung notwendig und damit eine offene demokratische Kontrolle unmöglich. Die Behörden, etwa BMF und Bafin, benötigen einen gewissen Ermessensspielraum, wie sie mit »britischen und israelischen« Hedgefonds umgehen wollen, wie sie Russland und China draußen halten. Hier muss man auch mal Fünfe gerade sein lassen.
Das alles hat wenig mit Demokratie zu tun, aber viel mit Management im Auftrag des Kapitals. Angesichts der inneren und internationalen Widersprüche des Kapitals wirkt dieses Management freilich zunehmend verworren.
Bildquelle: wikipedia, User.Kaethe17
Schlagwörter: Finanzkrise, Finanzsektor, Inland