Inflation, steigende Kosten, Energiekrise und kein Ende in Sicht. Wie sieht die Realität von Armut betroffenen Menschen in Deutschland aus? Wir sprachen mit Susanne Hansen von der Bewegung IchBinArmutsbetroffen
Susanne Hansen ist alleinerziehend und lebt mit ihrem Sohn (15) seit dreieinhalb Jahren aufstockend von Hartz IV. Die Hamburgerin ist IchBinArmutsbetroffen und engagiert sich in der gleichnamigen sozialen Bewegung.
Hallo Susanne, du bist Teil von IchBinArmutsbetroffen. Warum bist du in der Bewegung aktiv?
Weil Armut in diesem Land viel zu lange unsichtbar war. Wir haben uns versteckt, uns geduckt und so die Mär vom sicheren Sozialstaat still duldend mitgetragen. Dabei existiert dieser sichere Sozialstaat so nicht mehr. Mit Beginn des Ukrainekrieges und der rasant steigenden Inflation hat sich der Lebensalltag von 13,8 Millionen armutsbetroffenen Menschen massiv verschlechtert. Und: Durch massive Preissteigerungen sind inzwischen weitaus mehr Bevölkerungsgruppen armutsgefährdet. Das muss sich ändern. Wir sind allerdings keine Kampagne, sondern eine Graswurzelbewegung.
Wann habt ihr die Bewegung ins Leben gerufen? Worum geht es euch?
Ursprünglich war #IchBinArmutsbetroffen »nur« ein Wutausbruch auf 240 Zeichen im Kurznachrichtendienst Twitter. Die alleinerziehende Mutter @finkulasa hatte ihn am 12. Mai 2022 veröffentlicht, um auf Vorurteile, Ausgrenzungen und ein oft entmenschlichtes System hinzuweisen. Daraus ist schnell ein Trend erwachsen. Eine Kampagne wollte @finkulasa sicher nicht ins Leben rufen, das aus dem Hashtag aber eine Bewegung entstanden ist, die die Nöte Armutsbetroffener immer mehr ins öffentliche Bewusstsein trägt und klare Forderungen für eine echte Solidargemeinschaft, für mehr Gemeinwohl formuliert, ist ein großartiger Erfolg.
Wer ist armutsbetroffen? Was für Menschen melden sich bei euch?
Das ist ganz unterschiedlich. In der Bewegung melden sich vor allem Menschen, die im wahrsten Wortsinne »die Schnauze voll« haben, die sich nach Veränderungen sehnen und bereit sind, sich dafür einzusetzen. Die Bewegung wird von der »OneWorryLess« Foundation unterstützt, die seit vier Jahren unter @sorgeweniger auf Twitter Direkthilfen für Armutsbetroffene organisiert. Hier melden sich auffallend viele Frauen, Alleinerziehende und Rentner:innen, die oft durch Trennung oder Erkrankung in Armut gerutscht sind, aber auch pflegende Angehörige, Studierende und junge Auszubildende. Die Hilferufe nehmen gerade massiv zu. Viele wissen neuerdings schon um den 10. bis 15. eines Monats nicht mehr, wie sie ihren Kühlschrank füllen sollen.
Zynische Stimmen äußern sich immer wieder, dass man in Deutschland doch gar nicht arm sein kann. Oder, dass wir im Vergleich zu anderen Ländern immer noch wohlhabend sind. Was würdest du dem entgegnen?
Abzüglich aller Kosten stehen meinem Sohn (15) und mir pro Woche 102 Euro zur Verfügung. Davon muss ich Lebensmittel, Kleidung und Schuhe bezahlen, den extra Zuschlag für den Sport des Teenies, Zuzahlungen für Medikamente, Friseur, was halt so ansteht. Mein Sohn ist aus seiner Winterjacke und aus den Winterschuhen herausgewachsen. Wenn ich in einem reichen Land wie Deutschland vor der Wahl stehe, Kleidung oder Essen für das Kind, bin ich dann wohlhabend oder gut abgesichert?
In anderen Ländern mögen sich Not und Elend weitaus existenzieller äußern, aber rechtfertigt das eine Forderung nach einer stillen Zufriedenheit an uns? Müssen hier erst Menschen in verranzten Wohnungen verhungern und erfrieren, um Armut als Problem anzuerkennen? Würden alle wirklich Vermögenden dieser Welt endlich die Verantwortung übernehmen, die mit ihrem Reichtum einhergeht, gäbe es weitaus weniger Elend in der Welt, das Klima wäre besser geschützt und mein Sohn bekäme problemlos Winterschuhe und Winterjacke.
Ich zwacke dafür jeden Monat 35 Euro vom Geld für Lebensmittel ab.
Wo du es ansprichst, wie schauen armutsbetroffene Menschen auf die Klimakrise und die aktuelle Energiekrise?
Natürlich machen wir uns Sorgen, gerade nach dem letzten heißen Dürresommer. Wir müssen auch alle Energie sparen. Hartz IV-Empfangende bekommen in der Regel die Heizkosten vom JobCenter ersetzt, aber das trifft nur auf etwas mehr als jeden Dritten der 13,8 Millionen Betroffenen zu – und die Kosten für Strom werden auch für sie nur unangemessen berücksichtigt. Ich zwacke dafür jeden Monat 35 Euro vom Geld für Lebensmittel ab. Und ich spare Gas – obwohl ich es bezahlt bekomme, weil ich mich verantwortlich fühle. Ein Auto besitzen ebenfalls die wenigsten von uns – von daher schützen wir das Klima, auch wenn einige von uns nicht auf einer bewussten oder freiwilligen Basis tun. Übrigens verbrauchen in Deutschland die reichsten zehn Prozent der Gesellschaft genauso viel Energie wie 40 Prozent der ärmeren Menschen. Weltweit sind 100 Unternehmen für 70 Prozent des CO2-Ausstoßes verantwortlich. Die Klimakrise ist nicht unsere Krise, wir haben sie nicht verschuldet, aber auch wir müssen letztlich die Folgen tragen.
Ist Armut in Deutschland selbstverschuldet?
Nein! Armut ist nirgendwo auf der Welt selbst verschuldet, sondern eine bewusste Entscheidung der Politik. Das sagte übrigens auch Ricarda Lang von den GRÜNEN im Juni 2021, also kurz bevor ihre Partei Regierungsverantwortung mit übernahm.
Vertraust du den GRÜNEN in der Regierung für euch einzustehen und eure Situation grundlegend zu verbessern?
Nein! Die Grünen haben ihr soziales Gewissen unterwegs aufgegeben. Grünen Parteichefin Ricarda Lang warb im Wahlkampf 2021, wie erwähnt, mit jenem Satz »Armut ist eine politische Entscheidung«. Der Grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck warnte im »Bericht aus Berlin« 2021 vor einer vollständigen Heizkostenübernahme für Hartz IV-Empfangende und Rentner:innen mit dem Hinweis, dies würde dazu einladen, die Heizkörper aufzudrehen und die Fenster aufzureißen. Die grüne Bundestags-Vizepräsidentin Karin Göring-Eckhardt spendet für das gute Gewissen lieber an die Tafel als die Wurzeln von Armut zu bekämpfen. Und der Grünen Jugend hier bei uns in Hamburg sind wir Armutsbetroffenen offensichtlich sogar peinlich. Sie meiden uns. Also von den Grünen haben Armutsbetroffene in meinen Augen nichts zu erwarten, aber das ist meine persönliche Meinung.
In Deutschland leben die viert meisten Milliardäre der Welt und allein letztes Jahr haben wir über 100.000 neue Millionäre hinzubekommen. In Deutschland haben zwei Familien so viel Geld wie die untere Hälfte der Bevölkerung. Wie steht eure Bewegung zu Besteuerung von Reichtum und Umverteilung von oben nach unten?
Bitte! Sofort! Die Besteuerung von Überreichtum ist eine unserer zentralen Forderungen, der sich übrigens einige reiche Erb:innen anschließen.
Was ist eure Position zu Hartz IV bzw. dem Bürgergeld der Ampel-Koalition? Daran anknüpfend, ist ein Mindestlohn von 12 Euro ausreichend?
Eine Mitaktivistin hat den Begriff »BürgerHartz« geprägt – ich finde, das bringt es ganz gut auf den Punkt. Diese angeblich »größte Sozialreform seit 20 Jahren« ist eine Farce. Ohne kompletten Umbau unseres politischen Systems – und ich meine ganz bewusst nicht nur das Sozialsystem – geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auf. Wir brauchen eine Orientierung hin zu einer echten Solidargemeinschaft, zu mehr Gemeinwohl für alle und nicht nur für die Gruppe der Reichen. Bis dahin fordern wir eine krisenfeste Absicherung aller Armutsbetroffenen mit mindestens 678 Euro im Monat.
Ein Mindestlohn von 12 Euro ändert nichts am Problem prekärer Beschäftigung und hält Millionen in der Armutsfalle. Wir brauchen faire Löhne für alle.
(Lies hier den marx21-Artikel »Ampel-Entlastungspaket: Verachtung für die Ärmsten«.)
Wen wollt ihr mit eurer Bewegung erreichen?
Die gesamte Gesellschaft! Armut geht uns alle an – sie kann jeden treffen, jederzeit.
Also Refugees und Reiche willkommen?
In unserer Bewegung? Natürlich! Gerade Geflüchtete, die unter das sogenannte Asylbewerberleistungsgesetz »fallen«, leben ja deutlich unterhalb des Existenzminimums. Sie bekommen in den ersten 18 Monaten »Leistungen«, die sogar noch deutlich unter dem SGB II-Satz liegen, der ja schon nicht ausreicht! Wie sie überleben sollen, ist mir schleierhaft. Deutschland »leistet« sich diese Unmenschlichkeit sehenden Auges! Und ja, wir haben lose Verbindungen zum Verein »Tax me now«, den Reiche unter anderem mit dem Ziel der Einführung einer Vermögenssteuer gegründet haben. Warum sollten wir sie ausschließen, wenn sie, wie wir, für Veränderungen sind?
Am 15. Oktober habt ihr eine Kundgebung vorm Bundeskanzleramt abgehalten. Welche Forderungen habt ihr an die Politik?
Kurz zusammengefasst fordern wir eine Umorientierung der Gesellschaft hin zu mehr Gemeinwohl, das heißt konkret eine echte Chancengerechtigkeit für alle Kinder und Jugendliche, die Besteuerung von Überreichtum, eine Wohnraum- und Energiegarantie, uneingeschränkte Mobilität, einen Abbau der Bürokratie hin zu einem vertrauensvollen Umgang mit Bürger:innen, eine vollständige, barrierefreie Gesundheitsversorgung sowie eine finanzielle Sicherheit, die Teilhabe an Gesellschaft, Kultur und Politik ermöglicht.
DIE LINKE streitet für eine Gesellschaft und Wirtschaft jenseits des Kapitalismus. Arbeitet ihr als IchBinArmutsbetroffen mit der Linkspartei zusammen für eure Forderungen?
Wir verstehen uns als eine Bewegung die parteienunabhängig ist. Wo immer einzelne sich mit uns für unsere Forderungen einsetzen, sind sie willkommen. Wir sind aber kein Teil der Linken, wir lassen uns weder von ihnen noch von anderen Parteien vereinnahmen, aber wir sprechen mit ihnen und ja, es gibt eine inhaltliche Nähe zu einzelnen grundsätzlichen Vorstellungen. Wie sie fordern auch wir einen Umbau des politischen Systems hin zu mehr Gemeinwohl.
(Lies hier den marx21-Artikel »Inflation: Was fordert die Linkspartei?«)
Mit Blick auf die enormen Teuerungen von Lebensmitteln und Alltagsgütern, welche Zukunft siehst du auf die Menschen zukommen?
Die kommenden Monate werden extrem herausfordernd. Ich hoffe immer noch, dass jemand in der Ampel aus seiner wohlgenährten Zufriedenheitsstarre erwacht und endlich begreift, was vor der Haustür vor sich geht. Dass 13,8 Millionen Menschen hart am Rand bzw. unterhalb des Existenzminimums leben müssen. Dass jedes sechste Kind in Armut aufwachsen muss und keine gleichberechtigten Chancen hat! Dass sich Hunderttausende Jugendliche und junge Erwachsene im Stich gelassen fühlen und Angst um ihre Zukunft haben. Wenn vielen schon jetzt in der Monatsmitte das Geld für Lebensmittel ausgeht, muss die Politik handeln und nicht auf Tafeln oder andere karitative Einrichtungen verweisen. Das schürt Ängste, das nährt Boden! Ich habe Sorge, dass noch mehr Menschen an den Rand gedrängt werden, aber auch Hoffnung, dass wir zusammen in Bündnissen viel mehr Menschen auf die Straße bringen werden, um den notwendigen Druck auszuüben.
Armut geht uns alle an – sie kann jeden treffen, jederzeit.
Braucht es mehr Aufmerksamkeit auf das Thema Armut?
Nicht mehr Aufmerksamkeit, sondern ehrliche Aufklärung, Anteilnahme und Mut, Dinge endlich anzugehen. Armut liegt derzeit voll im Trend. Überall diskutieren Kirchenvertreter:innen, Politiker:innen und anderen, mitunter selbsternannten Expert:innen über Wege aus der Armut, über Armutsfallen etc. Wer aber fehlt auf allen Podien? Richtig: die wahren Expert:innen! Wir! So lange nur über uns, aber nicht mit uns gesprochen wird, bleibt Armut das, was sie ist: zementiert und für manch einen auch ein sehr gutes Geschäft.
Vielen Dank für das Interview, Susanne.
Die Fragen stellte Simo Dorn.
Titelbild: Andreas Trojak
Fotos: DIE LINKE.
Schlagwörter: Armut, Bewegung, Energiewende, IchBinArmutsbetroffen