Raumverbote für Veranstaltungen über BDS in München sind nicht zulässig. Judith Bernstein im Interview über das Urteil des BayVGH und Kritik an der israelischen Besatzung Palästinas.
Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 17. November 2020 stellt klar: Die Stadt München muss dem Kläger Klaus Ried einen Veranstaltungssaal für eine Podiumsdiskussion über Meinungsfreiheit zur Verfügung stellen. Damit kippt das Gericht einen Beschluss des Münchner Stadtrats aus dem Jahr 2017, wonach städtische Räume nicht für Veranstaltungen verwendet werden dürfen, die die angeblich antisemitische Kampagne »Boycott, Divestment, Sanctions« (BDS) thematisieren. Einem Bewerber allein wegen zu erwartender unerwünschter Meinungsäußerungen den Zugang zu einer öffentlichen Einrichtung zu verwehren, verstoße gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit, so der zuständige 4. Senat des BayVGH. marx21 fragt anlässlich des Urteils bei einer Betroffenen des Raumverbots nach: Judith Bernstein kämpft für die Einhaltung von Menschenrechten durch die israelische Regierung und konnte seit dem Münchner BDS-Beschluss keine Veranstaltung mehr in der Stadt als Referentin wahrnehmen.

Judith Bernstein, 1945 in Jerusalem geborene deutsche Jüdin, ist Trägerin des Preises »Aufrechter Gang« 2017 der Humanistischen Union Bayern. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Dr. Reiner Bernstein erhielt sie den Preis für die Verlegung von Stolpersteinen in München und für ihren Einsatz für den Frieden zwischen Israel und Palästina. 2020 verlieh Palästinenserpräsident Mahmoud Abbas dem Ehepaar eine Ehrenurkunde in Würdigung ihrer besonderen Verdienste um die deutsch-palästinensischen Beziehungen. Judith Bernstein ist Sprecherin der Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe München.
marx21: Was ist dein Anliegen als Aktivistin der Jüdisch-Palästinensischen Dialoggruppe München?
Judith Bernstein: Als Dialoggruppe treten wir für eine Verständigung und einen dauerhaften und gerechten Frieden zwischen Israel und Palästina ein. Dabei fordern wir insbesondere die Einhaltung des Völkerrechts und das Ende der israelischen Besatzung. Gegründet wurde die Dialoggruppe 1985 von einem Palästinenser und einem jüdischen Ehepaar von Holocaust-Überlebenden. Ich bin erst ’91 nach dem Zweiten Golfkrieg dazugekommen und habe mich seitdem dort engagiert.
Gerechter Frieden zwischen Israel und Palästina
Wir sind in Kontakt mit Initiativen und Dialoggruppen im Nahen Osten, Europa und den USA. Unser Anliegen ist es auch, Veranstaltungen zu organisieren, zu denen wir vor allem israelische und palästinensische Gäste einladen, um so zum besseren Verständnis des Konflikts und zum Abbau von Vorurteilen beizutragen. In den letzten Jahren waren wir als Gruppe jedoch nach außen nicht mehr sehr aktiv, da wir faktisch mundtot gemacht wurden. Entsprechend des Stadtratsbeschlusses gegen BDS, der die Dialoggruppe als einzige explizit erwähnt, kriegen wir keine Veranstaltungsräume mehr. Für diesen Beschluss stimmten damals alle Parteien im Münchner Stadtrat mit Ausnahme der LINKEN.
Wie ist es zu diesem Beschluss gekommen?
Die Auseinandersetzung ist schon viel älter als der Stadtratsbeschluss. Schon 2007 wurde erwirkt, dass mein Mann Reiner Bernstein keine Veranstaltungen mehr im Rahmen des Bayernforums der Friedrich-Ebert-Stiftung ausrichten darf. Zuvor hatte er dort über Jahre hinweg sehr erfolgreich Veranstaltungen organisiert. Nach Intervention der Israelitischen Kultusgemeinde wurde er plötzlich zur persona non grata.
Jahrelanger Streit um Veranstaltungen
Ein anderes Beispiel: Im Januar 2014 wurde in der Montessori-Schule eine Ausstellung über die Nakba gezeigt, also die Flucht und Vertreibung der Palästinenser im Jahr 1948. Reiner und ich waren eingeladen zu Vorträgen als Begleitprogramm zu dieser Ausstellung. Dies hatte eine Kampagne gegen uns zur Folge. Wir wurden attackiert von Mitgliedern der Israelitischen Kultusgemeinde, der liberalen jüdischen Gemeinde, der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, der Grünen Jugend und anderen. Ich als Jüdin wurde als Verräterin beschimpft. Die Schule war entsetzt darüber. Trotzdem wurde die Ausstellung gezeigt.
Aber der endgültige Bruch war am 9. November 2014. Wie jedes Jahr wollten wir an der Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht im Alten Rathaus teilnehmen. Uns wurde der Zutritt verwehrt mit der Begründung, man habe seine Vorschriften. Uns wurde sofort klar, dass unser Engagement für Frieden zwischen Israelis und Palästinensern der unausgesprochene Grund war. Aber auch, weil wir uns seit 2004 für Stolpersteine in München engagieren und uns damit gegen die Linie der Israelitischen Kultusgemeinde stellen.
Die Israelitische Kultusgemeinde lehnt Stolpersteine als Form der Erinnerungskultur ab?
Ja. Mit der Begründung, man würde das Andenken mit Füßen treten. Das ist jedoch absurd. In ganz Deutschland gibt es überall Stolpersteine. Ich habe selber Stolpersteine für meine Großeltern, die in Auschwitz umgekommen sind, verlegen lassen. Niemand kann nachvollziehen, warum es hier nicht möglich sein soll. Trotzdem folgt die Stadt München dieser schrägen Auffassung. Jedenfalls war dieser 9. November für uns eine Zäsur. Hier wurde uns klar, wir werden von der Stadt bekämpft.
BDS richtet sich gegen die Besatzung
Damals ging es aber noch nicht um BDS.
Die Auseinandersetzung um BDS begann um eine Veranstaltung im Münchner Gasteig, bei der wir Christoph Glanz aus Oldenburg eingeladen hatten. Er sollte dort erklären, was BDS überhaupt ist. Oft ist von BDS die Rede, aber wenig von den eigentlichen Zielen der Kampagne: also 1. die Beendigung der Besatzung und Abriss der Mauer, 2. gleiche Rechte für jüdische und arabische Bürger Israels und 3. das Recht auf Rückkehr für palästinensische Flüchtlinge entsprechend der UN-Resolution 194. Er kam aber gar nicht dazu. Es gab so einen Tumult und eine Demonstration im Vorfeld vor dem Gasteig, auch im Saal selber, dass wir die Polizei holen mussten. Die Atmosphäre war wirklich schlimm. Seitdem steht der Streit um BDS im Raum. Dies war auch der Zeitpunkt, als Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde, BDS gleichsetzte mit »Kauf nicht bei Juden«. Ich denke aber, damit verharmlost man den Holocaust. Denn die Juden wurden von den Nazis aus rassistischen Gründen boykottiert, alleine aufgrund ihres Jüdisch-Seins. BDS hingegen ist gegen jeden Rassismus und richtet sich gegen die Politik der israelischen Regierung, solange die Besatzung anhält.
Warum hältst du den Boykott für das richtige politische Mittel?
Alle bisherigen Verhandlungen von Politikern um eine gerechte Lösung des Konflikts sind gescheitert. Darüber hinaus folgt BDS der Erkenntnis, dass sich der militante Widerstand der Palästinenser als strategische Sackgasse erwiesen hat. BDS ist die friedliche Alternative zum weiteren Drehen an der Gewaltspirale. Daher halte ich die zivilgesellschaftliche Kampagne für das entscheidende Mittel, um international Druck auf die israelische Regierung auszuüben.
»Man will nicht über Israels Politik sprechen«
Bemerkenswert am Stadtratsbeschluss ist, dass nicht nur die Veranstaltungen untersagt wurden, die sich zu BDS bekennen, sondern auch diejenigen, die überhaupt nur BDS thematisieren, sogar auch etwaige kritische Veranstaltungen.
Ja, alle Veranstaltungen, die BDS berühren, egal in welcher Weise. Ich glaube, es geht gar nicht so sehr um BDS. Es ist eher ein Ablenkungsmanöver. Man will einfach nicht, dass man über die Politik Israels spricht. Man will nicht, dass ein anderes Bild vermittelt wird als das vorherrschende.
Was bedeutet das für den Kampf gegen Antisemitismus?
Im Kampf gegen Antisemitismus sind solche Beschlüsse wie vom Münchner Stadtrat kontraproduktiv. Ich finde es auch falsch, dass rechter und vermeintlicher linker Antisemitismus oft gleichgesetzt werden. Kritik an der israelischen Regierung ist kein Antisemitismus. Im Gegenteil – ich würde sogar sagen: Die wahren Freunde Israels kritisieren diese Politik. Denn sie ist nicht nur für die Menschen verheerend, die unter der Besatzung leiden, sondern auch für die Israelis und für die Zukunft des ganzen Landes.
Antisemitismus muss wie jede andere Form von Rassismus bekämpft werden. Aber es gibt da ein Ungleichgewicht. Zu wenige Leute in Deutschland sprechen etwa über die Islamophobie. Zum Beispiel gibt es keinen Beauftragten der Bundesregierung für Islamfeindlichkeit, wie es ihn für Antisemitismus gibt. Warum nicht? Es hat natürlich etwas mit der Lehre aus der deutschen Geschichte zu tun, dass auf Antisemitismus ein besonderes Augenmerk gelegt wird. Es kann jedoch keine Lehre aus Auschwitz sein, dass man Menschenrechtsverletzungen duldet, weil sie von einem Staat begangen werden, der sich als jüdisch versteht. Menschenrechte müssen universal gelten.
Grundrechte werden verletzt
Mit der aktuellen Entscheidung des BayVGH liegt zum ersten Mal ein ausführliches Urteil eines oberen Verwaltungsgerichts zu diesem Thema vor.
Das Urteil hat eine Bedeutung, die weit über München hinausgeht. Nicht nur der Münchner Stadtrat, auch die Mehrheit des Deutschen Bundestags folgt der Auffassung, BDS sei antisemitisch. Zusammen mit Christoph Glanz und Amir Ali habe ich deswegen den Bundestag verklagt. Unsere Klage geht gegen die Resolution vom Mai 2019. Wir halten diesen Beschluss für unzulässig.
Warum?
Zwar wurde mir vom Bundeskanzleramt bestätigt, dass nicht geplant ist, an die Resolution ein entsprechendes Gesetz anzuschließen. Faktisch hat sie aber trotzdem in bestimmten Zusammenhängen den Charakter eines Gesetzes. Denn seitdem richten sich Bundesländer, Gemeinden, sonstige öffentliche Akteure und sogar private Firmen nach dem Aufruf des Bundestages und verweigern oder entziehen Menschen mit Verbindung zu BDS öffentliche Räume. Damit verletzen der Deutsche Bundestag und alle involvierten Akteure das Grundgesetz, insbesondere die Meinungs-, Kunst- und Wissenschaftsfreiheit (Art. 5 GG) und die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG). Betroffen waren davon bisher zum Beispiel der kamerunische Historiker Achille Mbembe, die britisch-pakistanische Autorin Kamila Shamsie oder der amerikanische Rapper Talib Kweli.
Für die Rechte der Palästinenser
Wirst du nun nach dem Urteil des BayVGH demnächst wieder als Referentin in München Veranstaltungen durchführen können?
Da die Stadt München angekündigt hat, in Revision zu gehen, fürchte ich, dass es noch Jahre dauern wird, bis wir wieder Veranstaltungen durchführen können. Für mich und meinen Mann wird das vielleicht zu spät sein. Aber ich hoffe, dass auch in Deutschland Politiker eines Tages den Mut haben werden, nicht nur an nationale Interessen und an die eigene Karriere zu denken, sondern an Menschenrechte. Da hoffe ich auf die nächsten Generationen. Soweit ich kann, werde ich aber für die Rechte der Palästinenser einstehen.
Zum Schluss sei eine persönliche Frage erlaubt. Was macht es mit einem, gerade als Person mit jüdischer Identität, ständigen Antisemitismusvorwürfen ausgesetzt zu sein?
Meine Eltern sind Mitte der 1930er Jahre aus Nazi-Deutschland nach Palästina geflohen, nachdem sie kein anderes Land aufnehmen wollte. Meine Großeltern sind in Erfurt geblieben und gehörten zu den letzten Juden, die nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurden. Mein ganzes Engagement bei der Bürgerinitiative Stolpersteine für München gilt dem Gedenken an die systematische Vernichtung von Juden durch die Nazis.
Die Antisemitismusvorwürfe treffen mich persönlich nicht, weil ich weiß, dass sie absurd sind. Natürlich bin ich keine Antisemitin, wenn ich die israelische Regierung kritisiere. Ich kritisiere auch China oder andere Länder. Wenn ich Trump oder Putin kritisiere, sagt auch niemand, ich sei antiamerikanisch oder russlandfeindlich. Nur im Fall von Israel werde ich angeprangert. Doch mittlerweile geht es nicht mehr nur um Israel und Palästina. Angesichts derartiger Eingriffe in die Meinungsfreiheit geht es auch um unsere eigene Demokratie. Es ist ein Glück, dass immerhin der Bayerische Verwaltungsgerichtshof dem nun entgegengetreten ist.
Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Aurélie Mattmüller.
Titelbild: flickr/JJ Merelo (CC BY-SA 2.0)
Schlagwörter: BDS, Besatzung, Israel, Palästina