Seitdem die USA 2011 offiziell den Irak nach acht Jahren brutaler Besatzung verließen, wird in deutschen Medien wenig über das Land berichtet. Ansar Jasim und Helena Zohdi sprachen mit Jamal As-Sayegh, Mitglied der irakischen Arbeitsbewegung, über den letzten Aufstand im Land und die Möglichkeiten für nachhaltige Veränderung.
Ansar Jasim und Helena Zohdi: Jamal, du bist aktiv in »Harakat Al-A’mal« (Arbeitsbewegung), was ist diese Bewegung und wieso hat sie sich formiert?
Die »Arbeitsbewegung« ist eine marxistische Jugendbewegung, die sich während des Oktoberaufstands 2019 aus einer Gruppe junger Marxist:innen, die an einen Wandel von unten glauben, gegründet hat. Unser politisches Verständnis unterscheidet sich von dem der traditionellen Linken im Irak. Diese hat sich zum Teil an dem sektiererischen post-2003 Regime beteiligt.
Viele der anderen Parteien, die nicht an der Regierung teilnehmen, sind nichts weiter als marxistische Kreise, die von den Massen isoliert sind.
Aus diesem Grund haben wir die »Arbeitsbewegung« gegründet. Wir glauben daran, dass die politische Arbeit innerhalb der Gesellschaft und nicht isoliert von ihr passieren muss. Wir wollen das Bewusstsein für Proteste entwickeln und vertiefen. Wir wollen dieses Bewusstsein in Nachbarschaften, Arbeitsplätzen und Universitäten organisieren.
Der Oktoberaufstand
Was war der Oktoberaufstand 2019 im Irak und was waren seine Ursachen?
Unsere Bewertung von Tashrin, wie wir den Oktoberaufstand nennen, ist, dass es sich hierbei um einen Aufstand handelt, der das Stadium der Revolution nicht erreicht hat. Trotzdem stellt er eine Episode in einem kontinuierlichen revolutionären Prozess dar.
Die Gründe für den Oktoberaufstand liegen in der Unfähigkeit des ethnisierten, religiös-sektiererischen Regimes, das neoliberale Politik umsetzt, wirkliche Entwicklung in der Gesellschaft zu erreichen. Das führt zu weit verbreiteter Arbeitslosigkeit unter jungen Menschen, insbesondere Akademiker:innen, und zur Unfähigkeit, grundlegende Dienstleistungen bereitzustellen. Auch die Privatisierung öffentlicher Sektoren wie Gesundheit und Bildung trägt zur Belastung der Menschen bei.
All diese Gründe führten zum Ausbruch des Oktoberaufstands.
Wer war involviert im Oktoberaufstand?
An dem Aufstand beteiligten sich verschiedene Klassen, insbesondere Arbeiter:innen, die im prekären Sektor arbeiten, zum Beispiel die TukTuk-Fahrer, sowie die arbeitslosen Akademiker:innen. Die Studierenden gründeten während des Oktoberaufstands (Tashrin) genannt, die Baghdad Student Union, die eine wichtige Rolle in der Widerstandsfähigkeit und Radikalisierung des Aufstands spielte. Auch Frauen nahmen am Aufstand teil, insbesondere vor Ort, bei der Erstversorgung verletzter Protestierenden.
Ihre Rolle im Oktober 2019 stach mehr denn je hervor und hatte, besonders in Baghdad, großen Einfluss auf den Fortschritt der Bewegung.
Die Berufsgewerkschaften, insbesondere die Lehrergewerkschaft, war anfangs wichtig, aber die staatliche Unterdrückung der Gewerkschaftsführung hinderte sie daran, diese Rolle fortzuführen.
Was sind die Nachwirkungen des Oktoberaufstands?
Eine der wichtigsten Auswirkungen des Tashrins ist, dass der einflussreiche Politiker und Geistliche Muqtada al-Sadr einen großen Teil seiner sozialen Basis verloren hat (hier muss man bedenken, dass er ein Hauptakteur des Regimes bei der Zersetzung der Protestbewegung(en) im Land ist). Es war sehr deutlich, dass er nicht in der Lage war, die Straße zu beeinflussen oder zum Rückzug zu bewegen.
Dies veranlasste seine Anhänger, die Sadristenbewegung, neue Methoden zu ergreifen, um Tashrin und seine Symbole zu vereinnahmen, wie jüngst den politischen, progressiven Aktivist Safa Al-Saray. Al-Saray wurde während des Oktoberaufstandes mit einem Gaskanister, der ihn tödlich an seinem Kopf traf, umgebracht. Er war unter dem selbst gewählten Spitznamen »Sohn von Thanwa« bekannt – womit er Tribut an seine Mutter zeigen wollte, und ist eine der wichtigsten Symbolfiguren von Tashrin. Darauf Bezug nehmend, benannten sich die Sadristen nun als »Kinder von Thanwa«, in dem Versuch, den Oktoberaufstand für sich zu deuten und als Instrument in ihrem Kampf um die Macht zwischen den Flügeln des Regimes zu recyclen.
Leider ebbte der Oktoberaufstand infolge der brutalen Unterdrückung und Diffamierung seitens des Regimes ab.
Wie reagierte das Regime?
Es wurden zum Beispiel »Anästhesiemethoden« über die Bereitstellung kleiner finanzieller Zuschüsse für junge Menschen und ihre (wenn auch sehr prekäre) Beschäftigung beim Ministerium für Bildung und Elektrizität angewandt. Das war der Versuch, den Kreis der Klientel (also jene Personen, die von der Verteilung der Ressourcen durch die politischen Parteien profitieren) zu erweitern und somit junge Menschen von ihrer grundlegenden Forderung abzubringen und verstummen zu lassen.
Der Aufstand war aber auch dadurch geschwächt, dass es ihm an einer klaren politischen Vision fehlte.
Dennoch war es wichtig, dass die Massen die Bedeutung von Organisation und politischer Praxis erlernten.
2011 gingen Menschen in ganz Nordafrika und dem Nahen Osten auf die Straße, um gegen die herrschenden Regime zu demonstrieren. Wie sah die Situation im Irak während des sogenannten »Arabischen Frühlings« aus?
Die Massen im Irak wurden von der Aufstandsserie im arabischen Raum beeinflusst. Seit Beginn der Revolution in Tunesien begannen Aktivist:innen und Demonstrant:innen, einen Solidaritätsprotest zu organisieren. Durch die Revolution in Ägypten nahmen Proteste weiter zu. Auch lernten Protestierende im Irak von den Protesten in anderen Ländern.
Es gab Aufrufe zu einem Freitagsprotest gegen das Regime, aber ihr Anspruch beschränkte sich darauf, die Reformierung des politischen Systems zu fordern.
Tausende Menschen, insbesondere junge Männer und Frauen, versammelten sich in Bagdad, um eine Reform des Systems zu fordern und gegen die Unterdrückung persönlicher Freiheiten, Korruption und schlechte Grundversorgung zu protestieren.
Diese Demonstration wurde vom herrschenden Regime heftig unterdrückt. Sie wurde trotzdem jeden Freitag fortgesetzt, aber mit weniger Schwung. Erst 2015 wuchs sie wieder. All dies ebnete den Weg für den Aufstand im Oktober 2019.
Die US-Besatzung
Könntest Du uns erklären, was die Auswirkungen der US-Besatzung des Iraks 2003-2011 bis heute sind?
Die US-amerikanische Besatzung schuf im Irak ein ethnisiertes, religiös-sektiererisches System, das zu einem Bürgerkrieg führte. Diese Spaltung stellt ein Hindernis für die Massen dar, sich gegen ihre Ausbeuter aller Konfessionen und ethnischen Gruppen zu vereinen.
Dies hat ein System etabliert, das religiöse und ethnische Quoten zur Verteilung von Macht und Ressourcen hervorbrachte. Hierbei übernehmen bestimmte Parteien, Ministerien, staatliche Arbeitsverträge und Investitionen zusätzlich zur Steuerung der Sicherheits- und Wirtschaftslage auf eine Art und Weise, die ihren Interessen entspricht. Das Regime hat nie gezögert, das Leben der Iraker:innen zu gefährden und die Gesellschaft in Bürgerkriege und Gefahren zu stürzen, um den Kampf um Macht und Reichtum zwischen seinen Flügeln zu regeln.
Das System hat den Irak zu einem internationalen Konfliktschauplatz gemacht, der allen Konfliktparteien in der Region offen steht. Sie setzen ihre Politik mit loyalen, teils militärischen Kräften innerhalb des politischen Systems durch.
Wie prägt sich das religiöse Sektierertum in der irakischer Politik aus?
Die herrschende Klasse im Irak bedient sich sowohl des religiösen Sektierertums als auch des ethnisch-basierten Nationalismus, um ihren Reichtum und ihre Macht zu steigern. Sie macht das, indem sie behauptet, diese oder jene Konfession zu vertreten. Sie nutzt religiöse Gefühle aus, um Angst vor anderen Konfessionen und ethnischen Gruppen zu schüren und dadurch ihr Überleben an der Macht zu sichern.
Welchen Einfluss haben die USA auf irakische Politik heute?
Die Vereinigten Staaten sind ein wichtiger Akteur in der irakischen politischen Szene, ebenso wie der Iran. Das System bewahrt ihre Interessen, also wollen sie es nicht ändern. Die Vereinigten Staaten sind ein wichtiger Akteur in der Frage der Wahl des Premierministers und der Regierungsbildung, da es ohne einen amerikanisch-iranischen Konsens aussichtslos ist, einen Premierminister aufzustellen. US-amerikanische Ölgesellschaften sind weiterhin unmittelbar bei der Förderung und Verwaltung von Öl verantwortlich.
Dazu kommt die US-Kontrolle über den Devisenhandel und den Währungsmarkt. Oder die riesige Militärbasis auf ihrem Botschaftsgelände in Baghdad.
Als die USA 2003 in den Irak einmarschierten, gab es weltweit massive Demonstrationen. Eine ganze Generation von Linken wurde von den Protesten gegen die US-Invasion im Irak geprägt. Hält diese Solidarität bis heute an?
Die Verbindungen zwischen der internationalen Linken und der Linken im Irak sind leider schwach. Aber seit dem Oktoberaufstand 2019 scheint es, als könnten sich kleine internationalistische Initiativen zu einer dauerhaften und fruchtbaren Arbeit entwickeln. Es gibt etwa Initiativen, die uns bei der Wissensproduktion und Medienarbeit unterstützen
Wie ist die Beziehung zwischen den kurdischen Gebieten und anderen Teilen der irakischen Gesellschaft?
Was für das Zentrum und den Süden der sektiererischen Teilung gilt, gilt auch für die Situation in Kurdistan. Auch hier wird Nationalismus eingesetzt, damit führende Persönlichkeiten des Regimes ihre Macht auf Kosten der arbeitenden Massen aufrechterhalten können.
Die beiden Systeme stützen einander und haben Einfluss auf das Leben der kurdischen Bürger:innen. Die verschiedenen Kräfte in Baghdad konnten sich beispielsweise nicht auf eine Regierung einigen. Da das Staatsbudget nicht verabschiedet wurde, bekamen auch die öffentlich Angestellten in Kurdistan über Monate keine Gehälter überwiesen.
Der Kampf von unten
Siehst du die Möglichkeit für grundlegende gesellschaftliche Veränderung von unten?
Wir als Bewegung glauben an den gesellschaftlichen Wandel von unten und sind klar gegen jeden Staatsstreich.
Wir sehen die Organisation von Arbeiter:innen, Studierenden, Frauen und weiteren emanzipatorischen Akteuren als den richtigen Weg, um echte Veränderungen herbeizuführen. Die politische Realität im Irak ist auch voller erfolgreicher Versuche: Während Tashrin beispielsweise organisierten sich die Menschen selbst und räumten der Idee einer Volks- und Massenrevolution klar Priorität ein. Aber die Anwendung von Gewalt und Unterdrückung durch den Staatsapparat war immer präsent und verhinderte die Verwirklichung einer Revolution. Der Versuch kostete mehr als 800 Aufständischen das Leben und forderte mehr als 25.000 Verletzte.
Maqtada al Sadr gab 2022 seinen Rückzug von der Politik bekannt. Es folgten Unruhen. Wie schätzt ihr diese ein?
Muqtada al-Sadr ist Teil des politischen Systems und ist sehr daran interessiert, dieses System zu erhalten. Sein Rückzug aus der Politik ist Ausdruck des Kampfes zwischen den Flügeln des politischen Systems um Privilegien.
Muqtada al-Sadr hat diese Taktik bereits mehrmals verfolgt. In der jüngeren Zeit wurde diese Taktik von der Straße offengelegt. Sie nutzt einzig Sadr und dem Regime.
Vielen Dank für das Interview!
Übersetzung: Ansar Jasim
Foto: Chatham House
Schlagwörter: Aufstand, Irak