Seitdem die USA Saddam Hussein gestürzt haben, toben blutige Kämpfe im Irak. Auch am gegenwärtigen Aufmarsch der dschihadistischen Isis-Milizen ist die Besatzungspolitik schuld
Von Alex Callinicos
Als Rechtfertigung für ihren militärischen Einmarsch in den Irak im März 2003 behaupteten US-Präsident George W. Bush und der britische Ministerpräsident Tony Blair, das Land gehöre unter Saddam Hussein zu einer »Achse des Bösen«: Es sei ein »gescheiterter Staat« (wie der Iran und Nordkorea), der eine Gefahr für sich selbst und andere Länder darstelle. Sollte es jedoch je einen gescheiterten Staat gegeben haben, dann ist es vielmehr der heutige Irak.
Das zeigt sich an der unerwarteten und schnellen Einnahme der Stadt Mossul Mitte Juni durch ein Bündnis von Milizen unter Führung der Dschihadisten von der Organisation Isis (Islamischer Staat von Irak und Syrien). Die Vereinigten Staaten unter Barack Obama sehen sich jetzt zu einem Bündnis mit der Islamischen Republik Iran genötigt.
Seit Jahren haben sich Teile der Linken eingeredet, die USA hätten »gewonnen«, obwohl es nicht den geringsten Beleg dafür gab. Spätestens die Flucht der irakischen Armee vor den auf Mossul und Tikrit vorrückenden Isis-Truppen ist ein deutlicher Beweis dafür, wie irrig diese Annahme schon immer war.
Die Kräfte von Isis werden auf 1000 bis 15.000 Kämpfer geschätzt. Mossul hat zwei Millionen Einwohner. Die irakische Regierung behauptet, eine 930.000 Soldaten starke, mit modernster Ausrüstung aus den USA ausgestattete Armee zu befehligen. Wie konnte solch eine kleine Miliz eine so große Stadt einnehmen und eine angeblich so mächtige Armee in die Flucht schlagen?
Zwei Faktoren sind für diese verblüffende Niederlage verantwortlich: Der erste ist das Scheitern der Besetzung des Lands. Wie der Nahostwissenschaftler Toby Dodge schreibt, wollten die USA »nach der Absetzung Saddam Husseins einen neoliberalen Staat mit nur geringer Präsenz in der Gesellschaft und der Wirtschaft errichten«. Aufgrund schlechter Planung, unzureichender Truppenzahl und insbesondere eines sehr schnell aufkommenden bewaffneten Widerstands gegen die Besetzung scheiterte dieser Versuch.
Die USA waren darauf angewiesen, sich auf eine Clique handverlesener irakischer Politiker zu stützen, mit denen sie die im Jahr 2004 gebildete Marionettenregierung besetzten. Die von den USA beherrschte Übergangsverwaltung der Koalition machte von Anfang an die politische Repräsentation von ethno-religiöser Zugehörigkeit abhängig und verteilte die Ressourcen entsprechend. Auf diese Weise legte sie den Grundstein für die bis heute vorherrschende Spaltung. Kollaborateure von der unter Saddam Hussein unterdrückten schiitisch-muslimischen Mehrheit wendeten sich gegen die sunnitisch-arabische Minderheit. Umgekehrt gingen die sunnitischen Dschihadisten der »Al Qaida in Mesopotamien« gegen die Schiiten vor. In der Folge kam es zu einem Blutrausch konfessionell motivierter Morde, dem auf dem Höhepunkt im Jahr 2006 nach einer Schätzung der Vereinten Nationen fast 35.000 Zivilisten zum Opfer fielen. Die Sunniten wurden aus großen Teilen Bagdads vertrieben.
Das Ausmaß des Widerstands zwang die Regierung Bush, ihre Fantasien von einer neoliberalen Neugestaltung des Irak fallenzulassen. Mit der berühmten Aufstockung der US-Truppen im Jahr 2007 unter General David Petraeus kehrte sie zu einer konventionellen Aufstandsbekämpfung zurück. Diese führte dank der Hilfe der »Sunnitischen Erweckungsbewegung« schließlich zur Stabilisierung von Gebieten, in denen der Aufstand besonders heftig gewesen war, doch die Taktiken der Al Qaida einen Umschwung hervorriefen.
Hauptnutznießer war Nuri al-Maliki, der im April 2006 als Ministerpräsident eingesetzt wurde. Er war stellvertretender Führer der schiitisch-islamischen Dawa-Partei und galt seinerzeit als »blasser Bürokrat«, der ein harmloser Statthalter sein würde. Stattdessen baute Maliki seine Macht sehr schnell aus, indem er persönlich Kontrolle über die Armee übernahm, seinen Sohn Ahmed zum stellvertretenden Armeestabschef beförderte und ein Netz aus Verwandten und Vertrauten auf wichtige Posten hievte.
Zwar verdankte Malikis Regierung ihre Existenz der militärischen Macht und finanziellen Hilfestellung der USA, dennoch vereitelte er den Versuch Obamas, ein Truppenstationierungsabkommen abzuschließen. Dem zufolge hätten die USA auch nach dem offiziellen Truppenabzug im Dezember 2011 10.000 bis 20.000 Soldaten im Land belassen können. »Faktisch«, kommentiert Dodge, wurden »die amerikanischen Truppen aus dem Irak gedrängt«. Es ist nicht das erste Mal, dass eine imperiale Marionette ihrem Herrn und Meister eine gewisse Autonomie abringt. Maliki manövrierte zwischen den USA und dem Iran, also jenem Nachbarstaat, der seit dem Jahr 2003 eine immer aktivere Rolle im Irak spielt, indem er die schiitischen politischen Kräfte dirigiert und aufbaut.
Im Inland betrieb Maliki die Marginalisierung der sunnitischen Minderheit systematisch weiter. Er zerschlug die Irakische Nationalbewegung (Irakija), die bei den Wahlen im Jahr 2010 die meisten Stimmen erhielt, weil sie mit einem säkularen nationalistischen Programm antrat. Das brachte ihr achtzig Prozent der sunnitischen Stimmen, aber auch Unterstützung in schiitischen Gegenden ein. Gegner wurden als Baathisten denunziert, ausgewiesen, ins Gefängnis geworfen, gefoltert und getötet. Als Aktivistinnen und Aktivisten im Jahr 2013, angeregt durch die Ereignisse in Tunesien und Ägypten, Protestcamps errichteten, ließ Maliki diese mit militärischer Gewalt zerstören.
Derweil bleibt zehn Jahre nach dem Einmarsch die materielle Lage der einfachen Iraker düster. Die staatliche Korruption ist allgegenwärtig, die Versorgung mit Grundgütern wie Wasser und Strom hingegen höchst unsicher, die Kanalisation funktioniert kaum. Die Weltbank schätzt die Arbeitslosenrate auf vierzig Prozent, hinzu kommen dreißig Prozent Unterbeschäftigte. Dank Malikis erfolgreicher Zerschlagung der Opposition erhielt seine Liste bei den Wahlen Ende April 2014 die meisten Stimmen.
Das Regime, das aus der Intervention der USA hervorging, schuf also die Bedingungen für neue Aufstände. Die Form, die das Desaster im Irak angenommen hat, ist jedoch noch durch einen zweiten Faktor bestimmt worden: die veränderte Lage in der Region aufgrund des Bürgerkriegs in Syrien.
Baschar al-Assad reagierte auf die syrische Revolution im Jahr 2011 mit der Entfesselung eines Konfessionskriegs. Das syrische Baath-Regime, das sich auf die schiitischen Alawiten stützt, versuchte, Syriens andere religiösen Minderheiten zu mobilisieren, indem es die Gefahr einer Beherrschung durch die sunnitische Mehrheit an die Wand malte.
Obwohl die Freie Syrische Armee (FSA) und örtliche revolutionäre Komitees für die Vision eines säkularen und demokratischen Syrien gekämpft haben, konnten bewaffnete sunnitische Dschihadisten, die teils auch von Golfscheichtümern finanziert werden, militärisch an Boden gewinnen. Gleichzeitig wurden das iranische Regime und die libanesische Schiitenbewegung Hisbollah aufgrund geopolitischer Interessen und konfessioneller Loyalitäten zu den wichtigsten ausländischen Unterstützern des syrischen Staatspräsidenten Assad.
Isis hat großen Zulauf von Dschihadisten
Die Miliz entstand aus der »Al Qaida in Mesopotamien«, als diese nach ihrer Niederlage im Irak nach Syrien wechselte. Dort konzentrierte sie sich darauf, der FSA und dem offiziellen Al Quaida-Ableger Dschabhat al-Nusra Gebiete abzunehmen. Sie konnte sich einen Stützpunkt in Raqqah in Ostsyrien aufbauen, von wo aus sie ihre Operationen im Irak wieder aufnahm. Die Unterdrückung des »irakischen Frühlings« durch Maliki nutzte sie, um im Januar die Kontrolle über Falludscha zu übernehmen. Die Stadt in der Nordwestprovinz Anbar war einst Zentrum des Widerstands gegen die Besetzung und in der brutalen amerikanischen Offensive im Herbst 2004 zurückerobert worden.
Isis scheint sehr gut organisiert zu sein – beispielsweise konnte sie über die Kontrolle der Ölfelder in Ostsyrien und den Schmuggel wertvoller Fundstücke von syrischen Ausgrabungsstätten 875 Millionen Dollar Kapital aufbringen. Bankraub und Plünderungen in Mossul brachten ihr schätzungsweise weitere 1,5 Milliarden Dollar ein. Wie komplex und wandelbar die Politik im Nahen Osten heute ist, zeigt sich daran, dass es immer wieder Berichte über die Verbindung von Isis mit den großen Feinden Saudi-Arabien und dem syrischen Regime gibt. Diese Konstellation steht im Widerspruch zu der vereinfachenden Aufteilung des Nahen Ostens in »progressive« und »reaktionäre« Staaten.
Isis hätte so weit aber nicht kommen können ohne die Spaltungspolitik, Korruption und Inkompetenz des Regimes von Maliki. Und sie konnte sich auf weitere Kräfte in der sunnitischen Bevölkerung stützen. Nach dem Fall Mossuls und Tikrits berichtete die »New York Times«, mehrere militante Gruppierungen hätten sich zusammengeschlossen, darunter auch baathistische Militärbefehlshaber aus der Zeit Saddam Husseins. Die Zeitung »The Independent« geht noch weiter: »Isis mag den Angriff begonnen haben, aber viele andere Gruppierungen haben sich angeschlossen. Jetzt stehen wir vor einem allgemeinen Aufstand der irakischen Sunniten. Diejenigen, die Saddam Husseins Heimatstadt Tikrit eingenommen haben, gehören nicht zu Isis, sondern sind seine alten Anhänger (…) Isis war der Stoßtrupp einer viel breiteren militanten Sunnitenfront wie der Nakschbandi-Armee und verschiedenen Baathistengruppen. Die Angriffe waren gut geplant und koordiniert, und vermutlich leisteten sunnitische Armeeoffiziere innerhalb der staatlichen irakischen Armee Beistand, indem sie die Verteidigung sabotierten.«
Zahlreiche Kommentatoren haben vor einem Wiederaufflammen des Konfessionskriegs gewarnt, wenn Isis weiter auf Bagdad vorrückt. Das ist jedoch nicht unvermeidlich. Die Vereinigung Muslimischer Gelehrter, die den Sunnitenaufstand nach 2003 unterstützte, wie auch der Großajatollah der Schiiten, Ali al-Sistani, haben zur Mäßigung aufgerufen. Die Demütigung und der partielle Zerfall des Regimes Maliki könnten Raum schaffen für eine Verhandlungslösung zwischen den verschiedenen politischen Kräften des Irak.
Im modernen Irak hatte es komplexe ethnische, religiöse und Klassenspaltungen gegeben. Die gegenwärtige Konfessionsspaltung ist jedoch ein Ergebnis der Besetzung und verläuft quer durch die einst starken politischen Bewegungen des Irak (einschließlich der Kommunistischen Partei und der Baath), die über konfessionelle und ethnische Differenzen hinweg organisierten. Das Abstoßende an der spaltenden Dschihadpolitik der Isis sollte uns nicht blind machen für die Tatsache, dass nach der lähmenden konfessionellen Spaltungspolitik der USA und Malikis mit dem Sunnitenaufstand die Karten im Irak neu gemischt werden.
Es gibt jedoch die reale Möglichkeit, dass der Irak in einen sunnitischen Nordwesten, einen kurdischen Nordosten und ein schiitisches Zentrum im Süden aufgeteilt wird. Die kurdische Regionalregierung hat seit dem Jahr 2003 versucht, ihre Autonomie auszuweiten. Nach dem Fall Mossuls eroberte sie unverzüglich Kirkuk, das sie schon lange für sich beansprucht hatte. Mit dem inneren Zusammenbruch wird der Irak noch mehr als zuvor zum Spielfeld für ausländische Akteure. Das Ziel, Isis und ihre Verbündeten abzuwehren, zwingt Malikis wichtigste Stützen, die USA und den Iran, in eine Kooperation im Irak, obwohl sie in Syrien verschiedene Seiten unterstützen. Washington und Teheran nähern sich jedenfalls an und haben ernsthafte Verhandlungen über das iranische Atomprogramm aufgenommen.
Die gegenwärtige Krise im Irak hat ihren Ursprung in der militärischen Intervention von 2003. Der baathistische Staat im Irak war ein säkularer und panarabischer. Der Sturz Saddam Husseins war für die Dschihadisten der größte Anreiz seit dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan. Der syrische Bürgerkrieg hat sie gestärkt, aber auch der Militärputsch in Ägypten, der den Islamisten die Möglichkeit zur friedlichen Machtübernahme durch verfassungsmäßige Mittel genommen hat.
Der westliche Imperialismus trägt die Hauptverantwortung für die irakische Katastrophe. Das Vordringen der Isis trägt weiter zur Krise der Imperialmacht USA bei. Die erfolgreiche Destabilisierung der Ukraine durch Russland hat bereits Obamas »Hinwendung nach Asien« als Antwort auf Chinas Aufstieg gebremst. Nun könnten die USA auch im Irak erneut in die Klemme geraten. Obama will vermeiden, eine große Anzahl Soldaten in den Irak zurückzuschicken. Stattdessen will er sich auf seine Luft- und Marinestreitkräfte stützen. Die 300 »Berater« der Spezialeinsatzkräfte, die er in den Irak schickt, werden vermutlich als Spione fungieren und Informationen für Luftangriffe liefern. Die Rechnung für den imperialen Hochmut wird jedoch immer höher.
Dieser Artikel ist erstmalig unter dem Titel »Nemesis in Iraq« in »International Socialism« (Nr. 143) erschienen. Wir veröffentlichen eine leicht gekürzte Übersetzung.
Foto: expertinfantry
Schlagwörter: Al Qaida, Barack Obama, Baschar al-Assad, Dschihad, Freie Syrische Armee, George W. Bush, Imperialismus, Irak, IS, Isis, Islamischer Staat, Mossul, Nuri al-Maliki, Saddam Hussein, Tony Blair