Unser Interviewpartner beschreibt den Iran als ein Land, das von den Herrschenden im In- und Ausland zerstört wurde. Wie es dazu kam, erklärt er im marx21-Gespräch
Alireza L. lebte bis vor drei Jahren im Iran und ist heute Doktorand an der Freien Universität Berlin.
marx21: Alireza, es gibt neue Proteste im Iran. Wogegen sind die gerichtet?
Alireza: Schon letztes Jahr gab es in den großen und in vielen kleinen Städten eine Welle von spontanen Demonstrationen. Jetzt wieder. Hinzu kommt ein Streik der Lastwagenfahrer.
Die Proteste richten sich gegen Armut und Arbeitslosigkeit, Preisanstiege, Polizeigewalt, die Regierung, den iranischen Krieg in Syrien, gegen fast alles, was den iranischen Staat ausmacht. Es gibt keine klare Agenda, sondern vor allem große Wut.
Ist das eine Wiederbelebung der »Grünen Bewegung« aus den Jahr 2009, bei der Hunderttausende in Teheran die Plätze besetzten?
Die »Grüne Bewegung« hatte einen völlig anderen Charakter. Damals gingen mehrheitlich Studierende, die Mittelschicht und das Kleinbürgertum auf die Straße. In den Slogans und Parolen von 2009 ging es um die Menschenrechte und Forderungen nach freien Wahlen und Verfassungsänderungen. Die Demonstrationen starteten in Teheran und griffen dann auf andere große Städte über. In den Kleinstädten und der verarmten Provinz blieb es hingegen weitgehend ruhig.
Das ist diesmal anders?
Ja, vollkommen. Es sind soziale Forderungen und die Verzweiflung angesichts der wachsenden Armut, die die Menschen auf die Straßen treiben. Außerdem waren die Proteste 2009 noch vollkommen friedlich. Die jetzige Bewegung ist viel radikaler. Die Menschen sehen einfach keinerlei Ausweg aus ihrer fatalen Lage.
Was tut die Regierung?
Präsident Hassan Rohani gab am 6. August ein langes Interview im Fernsehen, in dem er »Kräfte« aus dem Ausland für die Proteste verantwortlich machte, aber keinerlei Verbesserungen in Aussicht stellte. Das Vertrauen der Menschen in ihn dürfte bei nahe null liegen.
Woher kommt die Unzufriedenheit der Iraner?
Die Menschen im Iran sind die letzten Jahre in einem nie dagewesenen Ausmaß verarmt. Offiziell leben 16 Prozent der Iraner in großer Armut, doch Shahab Naderi, einer der wenigen kritischen Abgeordneten, hat im Parlament Studien vorgelegt, wonach es 80 Prozent sind. Es gibt Wirtschaftswissenschaftlicher, die berechnet haben, dass im Iran etwa 13 Millionen Menschen in Slums ohne Strom und Wasser wohnen. Fünf Millionen Menschen leiden Hunger.
Woran liegt das?
Die große Armut hat eine langfristige und eine kurzfristige, verschärfende Ursache. Die kurzfristige ist der Wertverfall der iranischen Währung Rial, auch durch die Sanktionen der USA und der EU in den letzten Jahren. 100.000 Rial waren vor acht Jahren 7 Euro wert; vor drei Jahren etwa 2,50 Euro und heute sind es weniger als 1 Euro.
Was bedeutet das für die Menschen?
Genau das, wonach es klingt. Die sogenannte Kaufkraft fast aller Menschen, ist extrem gesunken. In einem Dritte-Welt-Land wie dem Iran müssen noch deutlich mehr Waren importiert werden als in Deutschland. Vieles kostet heute das Drei- bis Fünffache wie vor ein paar Jahren. Dadurch wird auch der Durchschnittsverdiener zu einem armen Mann oder einer armen Frau. Im Iran arbeitet man normalerweise eine Sechs-Tage-Woche, umgerechnet für durchschnittlich etwa 80 Euro pro Monat.
Und die langfristige Ursache …
… ist die enorme Bereicherung der herrschenden Eliten. Einige tausend Familien besetzen alle wichtigen Positionen in Politik, Armee, Religion und Wirtschaft und hier insbesondere in der Ölförderung. Alle diese Familien ziehen jedes Jahr Millionen von Euro aus Staat und Gesellschaft und schaffen sie auf europäische Konten.
Rohani regiert den Iran als Präsident und seine Kinder führen in Europa das Leben von Millionären, die niemals arbeiten. Allein in London leben etwa 4000 Angehörige der mächtigen Familien des Iran und sie sollen dort über 100 Milliarden Euro beiseitegeschafft haben.
Wie ist das möglich in der »Islamischen Republik« Iran?
Der Iran ist nicht islamisch, nur weil die Eliten das behaupten. Wir haben den Herrschern der »Deutschen Demokratischen Republik« doch auch nicht geglaubt, dass sie demokratisch war oder dass die »Volksrepublik China« tatsächlich vom Volk regiert wird.
Woran machst du das fest?
Daran, was man im Iran über den Islam lernt. In einer Legende, die im Iran jedes Kind kennt, wird erzählt, dass Mohammeds Nachfolger Ali an seinem Schreibtisch zwei Kerzen hatte. Wenn er für den Staat schrieb, benutzte er die staatliche Kerze und wenn er Privates schrieb, löschte er die staatliche und zündete seine private an, um den Staat nicht zu betrügen. Vergleiche diese islamische Legende mal mit den Herrschern im heutigen Iran.
Welche Ziele verfolgen die Herrschenden?
Sie haben selbst keine Ahnung, wie es mit dem Land und den Menschen weitergehen soll. Sie scheinen zu ahnen, dass ihre Herrschaft endlich ist, weshalb sie stehlen, was sie kriegen können. Für die herrschenden Familien geht es nur darum, möglichst viel Geld aus dem Land zu ziehen.
Wenn ein Politiker einen anderen stürzen will, wirft er ihm oft vor, viel Geld unterschlagen zu haben. Meist behauptet dann der andere Politiker, es sei in Wirklichkeit so, dass ersterer viel Geld unterschlagen habe. Das traurige ist: Beide haben recht und es macht für die Menschen keinen Unterschied, wer sich durchsetzt.
Welche Rolle spielt Präsident Rohani?
Es gibt im Iran im Wesentlichen zwei bedeutende politische Lager: die extrem konservativen, rechten »Hardliner« und die eher moderateren »Reformer«. Hassan Rohani ist einer der wenigen »Reformer«, die sich nach den Protesten von 2009 noch im Machtapparat halten konnten. Gleichzeitig ist er innerhalb des »Reformerflügels« einer der konservativsten.
Was sind die Ziele der »Reformer«?
Sie vertreten in erster Linie die Interessen der Wirtschaft und teilweise auch der Mittelschichten -es sind »Geschäftsmänner«. Dementsprechend stehen sie für einen neoliberalen Kurs sowie für ein Ende der offenen Konfrontation mit den USA und ihren Verbündeten. Reformen im Interesse der großen Mehrheit der Bevölkerung haben sie nicht im Sinn.
Der Westen unterstützt sie, weil es seinen wirtschaftlichen Interessen entspricht. Die iranischen Kapitalisten und die Oberschicht profitieren von ihrer Politik. Der Arbeiterklasse und den Armen haben sie nichts zu bieten.
Und wessen Interessen vertreten die »Hardliner«?
Die konservativen »Hardliner« stützen genauso den autoritären iranischen Kapitalismus, aber sie sprechen auch die arme Bevölkerung an und verfolgen eine eher populistische Agenda. Unter der Präsidentschaft von Mahmud Ahmadinedschad wurden etwa kostenlose Lebensmittel verteilt und es gab wesentlich mehr Subventionen, die den Armen zugutekamen. Natürlich haben auch die Konservativen nichts an den strukturellen Ursachen der Armut geändert, aber sie konnten sich als großzügige Helfer inszenieren.
Es ist ein wenig paradox, aber selbst die Pressefreiheit war unter Ahmadinedschad größer als heute unter Rohani.
Klingt, als wenn du dir die »Hardliner« zurück in den Teheraner Präsidentenpalast wünscht.
Nein. Um keine Missverständnisse entstehen zu lassen: Ich will Ahmadinedschad überhaupt nicht verharmlosen, aber ich kann mit den Armen, die ihn unterstützt haben, mitfühlen. Er hatte ein viel besseres Verständnis für die Stimmung in der Gesamtbevölkerung, als es die »Reformer« haben. Ahmadinedschad ist während seiner Präsidentschaft ständig durch sämtliche Provinzen des Landes gereist und hat es mit populistischen Reden und einer sozialen Rhetorik geschafft, insbesondere die Armen für sich zu begeistern. Seine Auftritte waren immer gut besucht, während Rohani selbst in mittelgroßen Städten nur wenige Menschen auf die Straße bringt.
Wünschen sich die Menschen, die momentan auf die Straße gehen, Ahmadinedschad zurück?
Nein, sie fühlen sich von beiden Flügeln des Regimes verraten und glauben nicht mehr daran, dass irgendeine Seite ihnen noch irgendetwas zu bieten hat. Einer der Hauptslogans überall im Land war »Nein zu den Reformern! Nein zu den Konservativen!«. Ihr Gegner ist nicht eine bestimmte Politik, es ist das System als solches.
Und wie reagiert das Regime darauf?
Die Polizei ging von Beginn an äußerst brutal gegen die Demonstrierenden vor. Nun stellt sich das Regime hin und behauptet, die Demonstrationen wären gewalttätig verlaufen.
Es gab aber auch Situationen, in denen sich Polizisten weigerten, auf die Leute einzuschlagen. Daraufhin haben diese sie in die Arme genommen, sie gefeiert und ihnen überschwänglich gedankt.
Was ist mit Streiks und betrieblichen Kämpfen?
In den letzten zwölf Monaten gab es eine ganze Reihe von Streiks. Solch kleinere Auseinandersetzungen hat es immer gegeben, aber in der zweiten Jahreshälfte 2017 ist ihre Zahl stark angestiegen. Und während Präsident Rohani stets bemüht ist, der westlichen Presse zu zeigen, was der Iran doch für ein freies Land sei, ließ das Regime zahlreiche Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter auf brutale Weise verhaften und einsperren.
Sie wurden verhaftet, weil sie zu Streiks aufgerufen haben?
Ja, oder auch nur, weil sie begonnen haben Forderungen aufzustellen oder sich in den Betrieben zu organisieren und über Maßnahmen zu debattieren. Gewerkschaftlicher Aktivismus wird im Iran als Straftat gegen die nationale Sicherheit geahndet. Wer streikt, riskiert nicht nur seinen Job, sondern sogar, verhaftet zu werden.
Reza Shahbi zum Beispiel ist Vorsitzender der Teheraner Busfahrergewerkschaft und sitzt seit Jahren im Gefängnis, weil er friedlichen Protest für die Auszahlung zurückgehaltener Löhne organisierte. Er wurde wegen »Propaganda gegen den Staat« zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Und gleichzeitig ruft Rohani dazu auf, friedlich zu bleiben und kritisiert, dass die Proteste nicht der richtige Weg für Veränderung und Reformen seien und wir unsere Kritik friedlich ausdrücken müssten. Reza Shahbi hat seine Kritik friedlich ausgedrückt und dafür sitzt er jetzt im Knast.
Welche Zukunft siehst du für den Iran?
Der Iran ist ein Land, das sowohl vom internationalen Kapitalismus als auch von den eigenen korrupten Eliten an den Rand des Zusammenbruchs geführt wurde.
Eine Chance auf Veränderung?
Ja, aber es ist schwer zu sagen, was für eine. Die Opposition ist nicht sehr stark, auch weil der iranische Staat auch jetzt wieder Demonstranten erschießt und zu Tausenden ins Gefängnis wirft. Viele Menschen hoffen auf einen Zusammenbruch der Diktatur und einen freieren und gerechteren Iran. Ersteres ist möglich, aber für zweiteres gibt es nicht viele Gründe, optimistisch zu sein.
Was könnte die deutsche Regierung tun, um den Iranern zu helfen?
Es gäbe viele Möglichkeiten, aber ich möchte eine möglichst einfache nennen: Lasst mehr Iraner nach Deutschland und sei es nur für eine beschränkte Zeit. Die Menschen sollten zumindest einmal einen Staat sehen, der nicht vollständig am Boden liegt und von Korruption zerfressen ist. Vielleicht würde ihnen das schon ein bisschen mehr Mut geben, für einen besseren Iran zu kämpfen.
Die Fragen stellte Hans Krause.
Foto: Wikimedia
Schlagwörter: Arbeitslosigkeit, Armut, Gewerkschaften, Iran, Protest, Proteste, Reformer, Rohani, Streik, Streiks, Teheran, USA