Er erlebte begeistert die Russische Revolution mit, wurde ein erfolgreicher Schriftsteller in der jungen Sowjetunion und fiel dann den Stalinschen Säuberungen zum Opfer. Nun sind alle Erzählungen von Isaak Babel in einem Band erschienen. David Paenson stellt sie vor.
»Ivan fasste sich an die Mütze, schob sie zurück und setzte sich. Die Stute schleifte den Hörnerschlitten zu ihm her, streckte die Zunge heraus und wölbte sie zu einem Röhrchen. Das Pferd war trächtig, sein Bauch ragte steil nach beiden Seiten. Spielerisch schnappte die Stute nach der wattierten Schulter ihres Herrn und schüttelte sie. Ivan (…) beugte sich vor, zog die Axt heraus, hielt sie einen Augenblick lang hoch erhoben in der Schwebe und hieb sie dem Pferd auf die Stirn. Das eine Ohr sprang ab, das andere fuhr hoch und legte sich an; aufstöhnend raste die Stute los …«
Der Bauer Ivan bringt sein eigenes Pferd um, nachdem ihm der Gerichtsvollzieher verkündet hat, dass er nicht genügend Steuern bezahlt habe und sein Hof nun requiriert und er selbst deportiert würde. Die Erzählung »Kolyvuška« verfasste Isaak Babel im Frühjahr 1930, inmitten der katastrophalen stalinistischen Zwangskollektivierung.
Zum ersten Mal bringt der Hanser-Verlag sämtliche Erzählungen des russisch-jüdischen Autors Babel in einer – mit Ausnahme der bereits zuvor veröffentlichten »Reiterarmee« – Neuübersetzung von Bettina Kaibach und Peter Urban heraus. Babels Geschichten umfassen die Zeit seiner Kindheit im ukrainischen Odessa Ende des 19. Jahrhunderts bis zu seiner Hinrichtung durch den russischen Geheimdienst Anfang 1940.
Eine faszinierende Lektüre
Er beschreibt in den Monaten unmittelbar nach der Oktoberrevolution die Notlage der Erste-Hilfe-Stationen Petrograds: »Im Büro der Station herrscht großes Schweigen. Es gibt lange Räume, blitzende Schreibmaschinen, Papierstapel, sauber gefegte Fußböden. Dann gibt es noch ein verschrecktes Fräulein, das vor drei Jahren angefangen hat, Papierchen und Kladden vollzuschreiben, und aus reiner Gewohnheit nicht aufhören kann. Dabei würde es nicht schaden, damit aufzuhören, denn die Papierchen und Kladden braucht schon lange keiner mehr. Außer dem Fräulein gibt es niemanden. Das Fräulein ist die Belegschaft.« Der Grund: Es gibt keine Pferde mehr, um an Unfallorte zu eilen, kein Benzin für die Krankenwagen, keine Ärzte. Die Pferde werden alle massenweise geschlachtet, um daraus Pferdefleisch zu machen, während den normalen Schlachtereien die Zufuhr an Tieren vollkommen versiegt ist: »Ich lerne eine furchtbare Statistik kennen. Anstelle von 30–40 Pferden, die früher geschlachtet wurden, kommen jetzt täglich 500–600 Pferde in den Schlachthof. Im Januar kam man auf fünftausend Pferde, im März werden es zehntausend sein. Der Grund: kein Futter.«
Es finden sich aber auch Kindheitserinnerungen in dem Band. So schreibt er über die Zeit »Bei der Großmutter« in ihrer warmen Küche nach der Schule: »Dann hörte mich Großmutter ab. Sie sprach im Übrigen miserabel Russisch, entstellte die Wörter auf ihre eigene, besondere Weise, indem sie die russischen mit polnischen und jiddischen vermischte. Russisch lesen konnte sie natürlich nicht, und das Buch hielt sie verkehrt herum.« Für Babel blieb es ein ewiger Zwiespalt: der Wunsch, ein moderneres Zeitalter zu betreten und die altmodische Welt des ostjüdischen Schtetl endlich hinter sich zu lassen, verbunden mit der tiefen Sehnsucht eben nach dieser für immer verloren gegangen Welt seiner Kindheit.
Der Sammelband ist sorgfältigst zusammengestellt und mit einem großzügigen Anhang von fast 200 Seiten versehen, der dem Leser, der Leserin enorm hilft, in die damalige Zeit einzutauchen. Eine faszinierende Lektüre. »Sein Werk wird bleiben«, schrieb einst Marcel Reich-Ranicki über Babel. »Und bleiben wird die Legende (…) vom Dichter, der nicht lügen wollte«.
Das Buch: Isaak Babel: Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen, Hanser Verlag, München 2014, 864 Seiten, 39,90 Euro.
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Schlagwörter: Bücher, Kultur, Oktoberrevolution, Russische Revolution, Sowjetunion, Stalinismus