Die Organisation Antikapitalist Müslümanlar, also Antikapitalistische Muslime, vereint Befreiungstheologie, Marxismus und den Islam. Damit sind sie nicht alleine. Es gibt zahlreiche Beispiele für Entstehung linker Organisationen innerhalb des Islams. Von Tilman von Berlepsch
Die Haupteinkaufsmeile Istiklal, die direkt vom Taksimplatz in die Altstadt von Istanbul führt, ist wie immer voll. Doch anstelle von Einkaufstüten prägen selbstgemalte Transparente und Schilder das Bild. Es ist der Fastenmonat Ramadan und die Gruppe der Antikapitalistischen Muslime hat zum Protest-Fastenbrechen gerufen: Zehntausende Gläubige und Nicht-Gläubige sitzen auf Zeitungspapier auf dem Boden an improvisierten Tafeln und teilen ihr mitgebrachtes Essen.
Die Bilder von auf Plastikplanen betenden Mitgliedern der Antikapitalistischen Muslime, die von einer Menschenkette hunderter junger Atheisten vor der Polizei beschützt werden, gehen um die Welt.
Fastenbrechen gegen Erdogan
All dies ist fünf Jahre her. Es war die Hochphase der Gezi-Protest-Bewegung in der Türkei 2013 und die Aktion der Antikapitalistischen Muslime zeigte, dass die Religion nicht nur von den Kräften der Reaktion genutzt werden kann, sondern auch von den Unterdrückten in Aufstandsbewegungen für demokratische Ziele. »Allahu akbar« riefen die türkischen Polizisten bei der Erstürmung des Gezi-Parks am Taksimplatz in Istanbul. Mit dem gleichen Ausruf stellten sich jedoch auch streng gläubige Muslime ihnen entgegen.
Video: Die Antikapitalistischen Muslime beim Protest-Fastenbrechen auf der Haupteinkaufsmeile Istiklal in Istanbul.
Lange Zeit fokussierte der politische Islam in der Türkei auf den Aufstieg einer muslimischen Bourgeoisie, die den säkularen Kemalisten die Staatsmacht entreißen sollte. Auch die AKP entstammt dieser staatsfixierten und wachstumsorientierten Denkschule. In Abgrenzung zu ihrer Korandeutung und Politik formierten sich unter anderem die Antikapitalistischen Muslime. »Denn was ist eine angeblich islamische Regierung wert, wenn fast die Hälfte aller versicherungspflichtig Beschäftigten für den Mindestlohn von 300 Euro arbeitet?« Die Antikapitalistischen Muslime sehen in der AKP eine kapitalistische Partei, die nur die Interessen der neureichen türkisch-sunnitischen Bourgeoise vertritt. Es sei der gleiche autoritäre Regierungsstil wie derjenige der Kemalisten, nur mit einem religiösen Anstrich.
War Mohammed Anarchist?
Eine kapitalismuskritische Islamlehre ist nicht neu. In vielen Imam-Schulen wurde früh über die Eigentumsfrage diskutiert. Der revolutionäre Islam, der das Gewissen in den Mittelpunkt des Handelns stellt und zum Hinterfragen anregt, ist die Strömung, auf die sich die Antikapitalistischen Muslime berufen. Ihr Verein hat seinen Sitz in Fatih, dem »Zentrum des politischen Islams in der Türkei«, einem konservativen Bezirk Istanbuls. Dort betreiben sie ein Kulturhaus, einen Verlag und ein Nachrichtenportal. Ihren ersten öffentlichen Auftritt hatten die Antikapitalistischen Muslime mit einem eigenen Block auf der 1.-Mai-Demo 2012. Unter ihnen befinden sich viele Linke unterschiedlicher Strömungen: von Anarchistinnen, Frauenrechtlern, Kurden, Antiimperialistinnen bis Antinationalisten sind alle mit dabei. Das Bekenntnis zum Koran eint sie. Efsane Soysal*, die in der Redaktion des Nachrichtenportals »Adil Medya« arbeitet, bezeichnet den Propheten Mohammed sogar als Anarchisten.
Einer der Vordenker der Antikapitalistischen Muslime und Betreiber ihres Buchverlages, İhsan Eliaçık, ist seit den Gezi-Protesten ein gefragter Redner auf Foren und tritt häufig im Fernsehen auf. Gleichzeitig sieht er sich aber auch zunehmend durch Gruppen bedroht, die ihn als »ketzerischen Atheisten« bezeichnen. Er begründete 1995 mit seinem Werk »Der revolutionäre Islam« die gleichnamige muslimisch-antikapitalistische Denkschule. Für ihn gebe es keine wirklich großen Differenzen zwischen Sozialismus und dem Islam: »Wenn ein Atheist sagt: ›Ich glaube nicht an Allah, ich glaube an Gerechtigkeit, Freiheit, Recht, Gleichheit und Liebe‹, dann antworte ich: ›Du weißt es vielleicht nicht, aber du glaubst an Allah.‹«
Kampf gegen Unterdrückung im Namen des Islam
Die Antikapitalistischen Muslime sehen sich nicht als »gemäßigt«. Sie »kämpfen für die Freiheit des Einzelnen und die Rechte aller Ausgegrenzten und Unterdrückten, der Armenier, Kurden, Aleviten und Arbeiter«. Dabei beziehen sie sich nicht auf die Ideale der Aufklärung, sondern stellen den Koran ins Zentrum ihres politischen Handelns. Sie betonen die »kollektivistischen Werte der Propheten seit Abraham«.
Die türkischen Antikapitalistischen Muslime sind keineswegs die einzigen. Es gibt zahlreiche Beispiele für die Entstehung linker Organisationen bei Anhängern des Islams. Zum Beispiel hatte Malcolm X großen Einfluss auf die revolutionäre Black Panther Party in den USA der 1960er.
Ebenso wie das Christentum kann auch der Islam je nach Auslegung Ideologie der Unterdrücker oder der Unterdrückten sein, wie auch das Beispiel der Antikapitalistischen Muslime in der Türkei zeigt. Was folgt daraus?
Es ist ein weit verbreitetes Missverständnis, dass es die Aufgabe von Linken sei, einen besonderen Kampf gegen die Religion zu führen. Auch Marx und Engels waren Gegner eines militanten Antiklerikalismus. Sie lehnten es ab, der Religion einen besonderen Kampf anzusagen, sie zu verbannen oder gar zu unterdrücken. Die heutige Linke sollte nicht hinter diese Position zurückfallen – nur so wird sie Muslime für den gemeinsamen Kampf gegen den Kapitalismus gewinnen.
*Name geändert
Tilman von Berlepsch ist aktiv in dielinke.SDS Berlin und studiert Politikwissenschaften.
Zum Weiterlesen:
Das Manifest der Antikapitalistischen Muslime auf Türkisch.
Die Internetseite von Ihsan Eliacik auf Englisch.
Teile des Textes basieren auf Gesprächen, die der in der Türkei inhaftierte deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel in seinem Buch »Taksim ist überall« 2014 bei Edition Nautilus veröffentlicht hat.
Schlagwörter: AKP, Antikapitalismus, Gezi, Islam, Jesus, Marx, Muslime, Religion, Türkei