Kaum Trinkwasser und Krankenhäuser: Der UN-Sondergesandte für Nahost fürchtet eine »humanitäre Krise« in Gaza. Die Palästinenser sind die Leittragenden regionaler Machtkämpfe. Von Nick Clark.
Gaza könnte jeden Augenblick explodieren. Palästinenser in diesem schmalen Streifen leiden unter den letzte Woche von Israel verhängten massiven Stromkürzungen. Zuvor schon hatten die Einwohner von Gaza durchschnittlich nur vier Stunden Strom täglich zur Verfügung, nachdem Mitte April ihrem einzigen Kraftwerk der Treibstoff ausgegangen war. Es war eben das Kraftwerk, das Israel seit 2006 zweimal bombardiert hat. Wegen Israels lähmender Blockade hat es nun gänzlich aufgehört, Strom zu produzieren.
Gaza und Stromausfälle
Das Rote Kreuz sagt, die Stromengpässe bringen Gaza an den Rand eines »systematischen Kollaps«. Trotz dessen hat Israel seine Stromlieferungen an Gaza um 60 Prozent weiter eingeschränkt. Die in Gaza tätige Ärztin Dr. Mona el-Farra beschreibt die katastrophale Lage. »Vom täglichen Leben bis hin zur lebenswichtigen Infrastruktur kollabiere alles. Es sei einfach unmenschlich.«
Weiter erklärte sie: »Die Strommenge reicht nicht aus, um die Klär- und Wasseraufbereitungsanlagen richtig am Laufen zu halten. Das Wasser in weiten Gebieten Gazas ist davon betroffen. Die Menschen in den überfüllten Gegenden und Flüchtlingslagern haben nicht genug Wasser.«
Die Auswirkungen der Stromausfälle in Gaza
Strandbesuche brachten bisher etwas Erholung für die Bewohner der überhitzten und dicht bevölkerten Stadt, aber seit dem beinahe kompletten Ausfall der Kläranlagen werden 100 Millionen Liter verschmutztes Wasser täglich vor Gazas Küste gepumpt. Die Folge sind steigende Infektionsraten. Krankenhäuser und Kliniken sind stark von Sonnenkollektoren und Reservegeneratoren abhängig. Mona el-Farra beschreibt die Auswirkungen: »Viele Maschinen funktionieren nur mit Strom. Herzmaschinen, Ventilatoren, Inkubatoren. Wenn der Strom auch nur für zwei Sekunden ausfällt, wirkt sich das auf die Sauerstoffzufuhr aus und gefährdet das Leben des Babys. Medikamente sind eine weiteres Problem. Den Krankenhäusern fehlen Medikamente, auch Basismedikamente wie Antibiotika. Wir haben auch nicht ausreichend Mittel für Krebspatienten.«
Hinzu kommt, dass die Bevölkerung nicht genug Strom hat, um ihre Kühlschränke zu betreiben oder gar ihre Häuser nachts zu beleuchten. Viele setzen eigene Notstromaggregate oder Akkus ein. Aber das ist mit bedrückenden Kosten verbunden in einer Stadt, in der 65 Prozent der Menschen in Armut leben.
Die Stimmung in Gaza
Die Spannung steigt, und die Verantwortung dafür trägt Israel. »Die Belagerung und die Besatzung treffen alle Lebensbereiche. Diese humanitäre Katastrophe ist die direkte Folge der politischen Lage«, sagt Mona. »Das psychologische Wohlbefinden der Menschen ist instabil geworden. Die Menschen gehen missgestimmt, frustriert, streitsüchtig auf die Straße.«
Aber die Menschen sind zugleich nach wie vor entschlossen, der Belagerung stand zu halten. »Ich möchte nicht den Eindruck hinterlassen, wir wären ein besiegtes Volk«, fügt Mona hinzu. »Die Menschen in Gaza sind stark.«
Gaza und die regionaler Machtspiele
Die Stromkrise hat die Widerstandsgruppe Hamas, die die Regierung Gazas stellt, in die Arme Ägyptens getrieben. Beide vereinbarten letzte Woche einen Deal. Ägypten, das Gazas südlichen Grenzübergang kontrolliert, wird Hamas Treibstoff liefern. Tanklaster rollten letzten Mittwoch über die Grenze nach Gaza. Als Gegenleistung erklärte sich die Hamas bereit, ihre »Sicherheitskoordination« an der Grenze zu Ägypten zu intensivieren.
Bedeutend in diesem Zusammenhang ist, dass Hamas dem ehemaligen Fatah-Mitglied und erklärten Feind Mohammed Dahlan eine Rolle in Gaza zugesprochen hat. Dahlan war damals verantwortlich für den versuchten Staatsstreich gegen Hamas im Jahr 2006. Nach dessen Scheitern wurde er von der Westbank verbannt. Nun vertritt er Ägypten und Gaza in den Verhandlungen mit Israel. Das ist ein Zeichen, dass nach zehn Jahren Belagerung und Krieg Hamas geschwächt ist.
Die Rolle von Ägypten
Ägypten ist beteiligt an der Blockade gegen den Golfstaat Katar, wegen dessen Beziehungen zu solchen Organisationen wie Hamas, die wiederum vom Iran unterstützt wird. Ägypten versucht, Hamas vom Iran loszueisen und an sich zu binden. Es will auch Dahlan als Herausforderer der palästinensischen Autorität unter Präsident Mahmoud Abbas aufbauen. Damit könnte Ägypten aber mit den USA zusammenstoßen, die Abbas unterstützen und Hamas als Terroristen einstufen.
Doch wie auch immer es weiter geht, die Palästinenser werden die Verlierer sein. Einen Hauch Freiheit spürten sie erst während der ägyptischen Revolution, die Ägypten dazu zwang, die Belagerung vorübergehend aufzuheben. Nur ein neuer Aufstand von unten kann der Tragödie Gazas ein Ende bereiten.
Die Regierung der Westbank steht hinter der Stromsperre
Israel ist verantwortlich für das Leid jedes einzelnen Palästinensers, den es in Gaza eingekerkert und bombardiert hat. Aber ihm zur Seite steht die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) in der Westbank.
Israel beschnitt Gazas Stromlieferungen auf Bitten des PA-Präsidenten Mahmoud Abbas. Abbas, Anführer der Fatah-Partei, will die regierende Hamas zur Aufgabe ihrer Kontrolle über Gaza zwingen. Fatah war nach ihrem gescheiterten Putschversuch gegen Hamas, die die Wahlen von 2006 gewonnen hatte, aus Gaza vertrieben.
Friedensprozess?
Aber die Hamas blieb auf Gaza beschränkt, während Fatah die PA die Westbank verwaltete. Die PA hat seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens mit den USA und Israel im Jahr 1993 systematisch mit der israelischen Besatzung kooperiert.
Im Gegenzug für das Versprechen eines palästinensischen Staats hat sie die israelische Herrschaft akzeptiert. Sie verzichtete auf jede Forderung nach Rückgabe des von Israel bei seiner Staatsgründung im Jahr 1948 gestohlenen Lands. Jeden Widerstand unterdrückt sie massivst. Kürzlich hat Donald Trump diesen Schein-»Friedensprozess« wieder zum Leben erwecken wollen. Wenn die PA zu weiteren Zugeständnissen bereit sei, könnte man ins Gespräch kommen.
Aber Israel hat immer wieder gezeigt, dass es niemals einen palästinensischen Staat akzeptieren wird. Es hat die Verhandlungen lediglich dazu benutzt, dem Widerstand den Wind aus den Segeln zu nehmen, während es zugleich immer mehr Land stiehlt. Erst letzte Woche hat Israel eine neue Siedlung mitten in der Westbank in Angriff genommen.
Zum Artikel: Zuerst auf Englisch erschienen am 27. Juni 2017 auf socialistworker.co.uk. Aus dem Englischen von David Paenson
Schlagwörter: Gaza, Geschichte Palästinas, Hamas, Israel, Palästina, USA