Die Hoffnung darauf, dass Israels Linke zu der Lösung der Palästinafrage beitragen kann, ist in der Partei DIE LINKE und in der deutschen Linken insgesamt weit verbreitet. Rob Ferguson erklärt, warum das eine Illusion ist
In einem kürzlich veröffentlichten Kommentar für die liberale israelische Zeitung Ha’aretz lobt der in New York lebende israelische Journalist Etan Nechin die jüdische Linke in den USA für ihren Anteil an »einer grundlegenden Veränderung der öffentlichen Meinung in der US-amerikanischen Gesellschaft hinsichtlich eines klareren Verständnisses der israelischen Besatzungspolitik« und einer möglichen Alternative dazu. Dann jedoch beschuldigt er sie der »hochnäsigen ideologischen Kritik« und meint, sie hätten es versäumt, »auch eine Gruppierung hervorzuheben oder sie zumindest zu erwähnen, die […] für jede Lösung unverzichtbar ist: die israelische Linke«.
Die Vorstellung, dass eine israelische Linke zu einer gerechten Lösung für Palästina beitragen könnte, findet sich nicht nur in Meinungsartikeln der Ha’aretz, sondern in der Linken und in der Gewerkschaftsbewegung. Einige Linke berufen sich sogar auf marxistische Ansichten und meinen, dass die Interessen einer jüdischen Arbeiterklasse in Israel die Grundlage für Einheit und Frieden mit den Palästinenser:innen sein könnten.
Solche Diskussionen bergen die Gefahr, die Hoffnungen der Menschen auf eine Lösung an die Stelle einer Analyse der realen Entwicklungen zu setzen.
Die »Einheitsintifada«
Kürzlich gab sich der noch amtierende israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu sehr selbstbewusst. Er glaubte, er habe die Palästinenser:innen bezwungen und auf internationaler Ebene isoliert. Das Abraham-Abkommen mit den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Bahrain war im September 2020 unter Dach und Fach gebracht worden, und er hatte das Bündnis mit Ägypten und die Beziehung mit Saudi-Arabien gefestigt. Damit waren die Weichen für die weitere Siedlungsexpansion im Westjordanland und in Ostjerusalem gestellt worden.
Die inspirierende palästinensische Rebellion in diesem Jahr zerstörte Netanjahus Pläne und erschütterte Israel. Trotz der jahrzehntelangen Politik der Teilung, Ausgrenzung und Isolation schlossen sich die Palästinenser:innen zu einem Aufstand im historischen Palästina zusammen.
Was lehren uns diese jüngsten Ereignisse über den Charakter des israelischen Regimes und die Möglichkeit, es zu überwinden?
Apartheid vom Jordan bis zum Mittelmeer
Ehe wir uns der Natur der israelischen Politik und Gesellschaft zuwenden, müssen wir die Beziehung zwischen dem israelischen Staat und den Palästinenser:innen beleuchten. Das hilft uns mehr als die offiziellen Erklärungen der israelischen politischen Parteien.
Im Januar veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation B’Tselem einen Bericht mit dem Titel: »Ein Regime jüdischer Vorherrschaft vom Jordan bis zum Mittelmeer: Das ist Apartheid.« In dem Bericht von B’Tselem und weiteren von Human Rights Watch wird das System der Unterdrückung im historischen Palästina dokumentiert. Im Westjordanland leben Palästinenser:innen in zersplitterten Gebieten, die durch Militärstraßen, Checkpoints, Siedlungen und die Apartheidmauer getrennt sind. In Ostjerusalem erlebt die palästinensische Bevölkerung tagtäglich das Vordringen von Siedler:innen, die Zerstörung ihrer Häuser und Enteignung. Sie haben ein Aufenthaltsrecht, das der israelische Staat ihnen aber jederzeit entziehen kann.
Innerhalb der Grenzen des israelischen Staats sind Palästinenser:innen, die formell die israelische Staatsbürgerschaft besitzen, in überfüllte Städte und Dörfer gedrängt. Ihnen ist es verboten, Wohngebäude zu errichten, und Tausende müssen die Zerstörung ihres Hauses fürchten und sind der Schikane der aus dem Westjordanland hereingebrachten Siedler:innen ausgesetzt.
Die 2 Millionen Palästinenser:innen von Gaza – 1,5 Millionen von ihnen sind Flüchtlinge – sind in das größte Freiluftgefängnis der Welt gesperrt. Die Mehrheit von ihnen ist abhängig von internationaler Hilfe. Nach einer schockierenden, aber aufschlussreichen Meinungsumfrage stimmen 82 Prozent der Palästinenser:innen der Aussage zu: »Ja, ich mache mir Sorgen, dass Israelis meiner Familie oder mir im täglichen Leben Schaden zufügen könnten.« Der gemeinsame Aufstand der Palästinenser:innen hat seinen Ursprung in der gemeinsamen Erfahrung und Geschichte und der fortgesetzten Enteignung aufgrund der Apartheid und des Siedlungskolonialismus.
Lehren der Wahl von 2021
In seinem Artikel in der Ha’aretz setzt Nechin Hoffnung auf die Israelische Arbeitspartei und die »linkszionistische« Partei Meretz, die beide jetzt der neuen Koalitionsregierung angehören. Er meint, es seien »linke« Regierungen gewesen, die den Sozialstaat geschaffen, und linke Bewegungen, die den Protest gegen das Nationalstaatsgesetz von 2018 und Demonstrationen für »Frieden« organisiert hätten. Für Nechin sind all das Anzeichen dafür, dass die israelische Regierung in eine andere Richtung gelenkt werden kann.
Wahlen sind das meistgepriesene Merkmal »demokratischer Staaten«. Die Berichterstattung über die neue Regierung in den westlichen Medien hat sich auf das politische Gefeilsche, Antipathien zwischen politischen Führungspersonen und die Anfeindung Netanjahus konzentriert. Das geht aber am Grundcharakter der politischen Entwicklungen vorbei.
Die Regierungskoalition besteht aus einer Vielzahl von Parteien, die von der säkularen »linken« Arbeitspartei und der Meretz bis zu den weit rechts stehenden religiösen Siedlerzionist:innen des Bündnisses Jamina (Nach rechts) reichen. Die Arbeitspartei und die Meretz treten offiziell für die »Zweistaatenlösung« ein und für die Aufhebung der Besatzung. Jamina lehnt jeden Staat für Palästinenser:innen ab, erklärt die Ausdehnung der Siedlungen für nicht verhandelbar und tritt für die weitere Annexion palästinensischen Lands ein.
Die gängige Erklärung für dieses Bündnis lautet, es sei der gemeinsame Hass auf Netanjahu. Das ist weder eine ausreichende noch überzeugende Erklärung. Die führenden Personen der Koalition hatten alle schon unter Netanjahu einen Posten inne. Inhaltlich gibt es keinen Unterschied zwischen der Politik der Koalition und der scheidenden Regierung Netanjahus, und jede Regierung seit der Gründung Israels war eine Koalitionsregierung.
Ein rechtsradikaler Ministerpräsident
Das Hauptgewicht der Koalition liegt weit rechts. Ministerpräsident Naftali Bennett ist ein rechtsradikaler Siedleranführer und religiöser Zionist, der im Jahr 2018 erklärte: »Ich würde den Arabern keinen einzigen Zentimeter mehr überlassen.« An der Spitze des Innenministeriums steht jetzt Ajelet Schaked, ebenfalls von Jamina, die einst erklärte, dass die Häuser von palästinensischen »Märtyrermüttern« zerstört werden sollten, damit sie »nicht noch mehr kleine Schlangen« aufziehen. Der »zentristische« Justizminister Gideon Sa’ar ist leidenschaftlicher Unterstützer der Siedler:innen und der gewaltsamen Landnahme. Verteidigungsminister Benny Gantz gilt ebenfalls als »Zentrist«, er brüstete sich im Wahlkampf damit, Gaza zurück in die Steinzeit gebombt zu haben. Elazar Stern, Minister für Nachrichtendienste, spricht sich dafür aus, Gaza von der Stromversorgung abzuschneiden, »selbst wenn das heißt, Kindern die Dialysemaschine abzuschalten«. Avigdor Lieberman, der neue Finanzminister, war lange Zeit Gegner von Friedensverhandlungen und befürwortet den »Transfer«, die Vertreibung der palästinensischen Bürger Israels in das Westjordanland.
Der Architekt der Regierungskoalition, Jair Lapid, hat deutlich gemacht, dass er niemals die Kontrolle über Ostjerusalem aufgeben wird. Wie alle israelischen politischen Führungspersonen vor ihm macht Lapid die Palästinenser:innen dafür verantwortlich, dass sie das Unannehmbare nicht annehmen wollen. Er sagt: »Die Palästinenser wollen uns lieber zerstören, als eine eigene Nation aufzubauen. Und solange das so ist, wird es keine zwei Staaten geben.« In dem israelischen politischen Diskurs ist das Wort »Frieden« wenig mehr als ein beschönigender Begriff für die Unterwerfung der Palästinenser:innen.
Die Meretz, die noch am ehesten mit einer »Zweistaatenlösung« in Verbindung gebracht wird, erhielt unter 5 Prozent der Wählerstimmen und 6 von 120 Sitzen in der Knesset, dem israelischen Parlament. Sie hat sich an eine Koalition mit den rechtsextremen, siedlerfreundlichen Kräften gebunden. Trotz des Eintretens der Meretz für die Palästinenser:innen und des erklärten Strebens nach einem gerechten Frieden bleibt sie eine zionistische Partei. Damit teilt sie das Gründungsprinzip aller Parteien, die israelische Jüdinnen und Juden vertreten.
Israels rechtes Meinungsklima
Die Einstellung der politischen Elite Israels existiert nicht in einem luftleeren Raum. Diese Politik spiegelt sich in zunehmend offen rassistischen, rechtszionistischen Ansichten unter Israelis wider. An dem Tag, als Netanjahu einem Waffenstillstand für Gaza zustimmte, meinten fast drei Viertel der israelischen Jüdinnen und Juden bei einer Umfrage, das Bombardement solle fortgesetzt werden. In einer anderen Meinungsumfrage stimmten 62 Prozent der Aussage zu: »Araber verstehen nur Gewalt.« In einer Umfrage aus dem Jahr 2015 stimmten 67 Prozent der israelischen Jüdinnen und Juden zu, dass die illegalen Siedlungsblocks im Westjordanland unter israelischer Herrschaft bleiben sollten. Rund 65 Prozent glauben, dass die Besatzung zur Sicherheit Israels beiträgt, während nur 11 Prozent glauben, das sei keineswegs der Fall. Für eine »bevorzugte Behandlung« der Juden sprechen sich 79 Prozent der israelischen Jüdinnen und Juden aus, was faktisch eine Umschreibung für Diskriminierung ist.
Dieser Weg nach rechts stellt einen langfristigen Trend dar. Das lässt sich von dem Aufstieg des revisionistischen (antisozialistischen und verschärft nationalistischen) Zionismus und der Wahl der konservativen Partei Likud im Jahr 1977 bis zur wachsenden Bedeutung des nationalistisch-religiösen Zionismus der Siedlerbewegung nach der zweiten Intifada verfolgen. Ob religiös oder säkular, das gesamte Spektrum der Politik in Israel ist stark nach rechts gerückt. Die Arbeitspartei, die bis in die 1970er Jahre die israelische Politik beherrschte, hat heute nur noch 7 Parlamentssitze.
Wer meint, dass der israelischen Linken eine wesentliche Rolle bei der Lösung der Palästinafrage zufalle, braucht eine Einschätzung, wie wir von »hier« nach »dort« kommen.
Ein siedlerkolonialer Staat
Um die Politik Israels zu verstehen, müssen wir mit der materiellen Grundlage der israelischen Gesellschaft und ihres Staats beginnen. Und hier müssen wir uns einer brutalen Wahrheit stellen: Alle israelisch-jüdischen Bürger leben auf Land, das den Palästinenser:innen geraubt wurde. Viele leben in Häusern, die auf den Ruinen palästinensischer Dörfer errichtet wurden, und in den Häusern, aus denen Palästinenser:innen im Jahr 1948 in der Nakba, der Katastrophe, vertrieben wurden.
Mosche Dajan, der ehemalige israelische Stabschef und Verteidigungsminister, bekannte: »Jüdische Dörfer wurden an der Stelle arabischer Dörfer errichtet. Die Namen dieser arabischen Dörfer sind nicht einmal bekannt […], denn die Geografiebücher gibt es nicht mehr […], auch nicht die arabischen Dörfer. Nachlal entstand dort, wo Machlul gewesen war, das Kibbuz Gwat an der Stelle von Dschibta, Kibbuz Sarid an der Stelle von Huneifis und Kefar Jehuschua an der Stelle von Tell al-Schuman. Es gibt keinen einzigen Ort in diesem Land, an dem nicht einst eine arabische Bevölkerung lebte.«
Das ist nicht nur eine Sache der Vergangenheit. Die Staatsbürgerschaft in dem jüdischen Staat beruht auf der mit Zwang durchgesetzten Verweigerung des Rückkehrrechts der Palästinenser:innen und dem erzwungenen Ausschluss und der Enteignung der Palästinenser:innen im historischen Palästina. Deshalb ist das Nationalstaatsgesetz von 2018, in dem das »Recht auf nationale Selbstbestimmung« in Israel »einzig für das jüdische Volk gilt«, eine logische Folge des israelischen Siedlerkolonialismus. Die Nakba ist kein in der Vergangenheit liegendes Ereignis, sondern ein fortgesetzter und sich verschärfender Prozess der Vertreibung. Jeder Akt des Widerstands – ob Protest, Steinwürfe, Raketen, eine Intifada, selbst kollektives Beten an Ramadan – ist eine Bedrohung.
Geschichte kolonialistischer Besiedlung
Seit seiner Gründung war Israel auf Siedlungsbewegungen angewiesen. Die Bewegungen hatten jeweils einen eigenen Ursprung und einen spezifischen historischen und politischen Kontext. Den Grundstein für einen jüdischen Staat im Nahen Osten legte die Masseneinwanderung von Europa nach Palästina in den 1920er bis 1930er Jahren. Die meisten Jüdinnen und Juden, die nach Palästina auswanderten, suchten Schutz vor Antisemitismus, Faschismus und den Schrecken des Holocausts und seinen Folgen. Palästina schien der einzige Schutzort zu sein, nachdem die USA, Großbritannien und andere Großmächte ihre Türen für jüdische Flüchtlinge verschlossen hatten.
Doch es gab eine bittere Realität: Unabhängig von der Motivation vieler, die nach Palästina auswanderten, beruhte die zionistische Ansiedlung auf dem Ausschluss und der Vertreibung der Palästinenser:innen. Das zionistische Projekt konnte nur als siedlerkolonialer Staat bestehen.
Der Arbeiterzionismus lieferte die drei Säulen des entstehenden Staats: zionistische paramilitärische Einheiten, bekannt als Haganah; die zionistische »Gewerkschaft« Histadrut und Landwirtschafts-»Kollektive« und Kooperativen, um das Land zu besiedeln, bekannt als Kibbuzim und Moschawim.
Haganah, Histadrut und Kibbuzim
Die Haganah half den Briten, den arabischen Aufstand der Jahre 1936 bis 1938 niederzuschlagen, führte die ethnische Säuberung der Palästinenser:innen in der Nakba an und bildete den Kern der im Jahr 1948 gegründeten israelischen Streitkräfte (Israeli Defence Forces, IDF). Die Histadrut organisierte den doppelten Boykott arabischer Arbeit und arabischer Erzeugnisse, was für den Ausschluss der Palästinenser:innen aus der Wirtschaft unerlässlich war. Entsprechend erklärte ein Direktor des Bauunternehmens der Histadrut: »Ich duldete keine Araber in meiner Gewerkschaft, der Histadrut, wir stellten Posten vor Obst- und Olivenhainen auf, um zu verhindern, dass arabische Arbeiter hier Arbeit fanden. […] Wir schütteten Kerosin auf arabische Tomaten, […] griffen jüdische Hausfrauen auf dem Markt an und zerschlugen die arabischen Eier, die sie dort gekauft hatten.«
Die Kibbuzim und Moschawim holten sich junge zionistische Pioniere zur Besiedlung des palästinensischen Lands und schufen das zu verteidigende Territorium eines künftigen Staats. Die meisten jüdischen Migrant:innen waren städtisch geprägte, häufig ältere europäische Jüdinnen und Juden, die nicht als Landarbeiter:innen oder zur Verteidigung militärischer Vorposten eingesetzt werden konnten. Damit wurden »Fakten geschaffen« – die unverzichtbare Strategie der Besetzung und ethnischen Säuberung, angefangen mit den damaligen Kibbuzim bis hin zu den heutigen illegalen Siedlungen im Westjordanland. Obwohl die Kibbuzim im Jahr 1948 nur 7 Prozent der jüdischen Bevölkerung ausmachten, bildeten ihre Mitglieder das Rückgrat des obersten Kommandos der Haganah und der IDF in ihren Anfangsjahren. David Ben-Gurion, Israels erster Ministerpräsident, stellte fest, dass es ohne die Kibbuzim »kaum vorstellbar wäre, wie der heutige Staat Israel hätte bestehen können«.
Die Histadrut, die einst als »ausführender Arm der zionistischen Bewegung« beschrieben wurde, fungierte als Hauptorganisator des Jischuw, der ursprünglichen zionistischen Ansiedlung. Sie war zuständig für die Aufnahme von Zuwander:innen, für landwirtschaftliche Siedlungen, Verteidigung und neue Produktionsbereiche. Nach 1948 lagen 80 Prozent der Wirtschaft in der Hand der Histadrut.
Grundpfeiler des Arbeiterzionismus
Diese strategischen Arme des Siedlerprojekts bildeten die Grundpfeiler des Arbeiterzionismus. Der »sozialistische Zionismus« spiegelt eine bedeutende politische Strömung unter europäischen Siedler:innen der Vorkriegs- und unmittelbaren Nachkriegszeit wider. Als er jedoch nach Palästina verpflanzt wurde, waren es die Arbeiterzionist:innen, die die Vertreibung der Palästinenser:innen an erster Stelle betrieben.
Der Arbeiterzionismus war nicht die einzige politische Strömung unter jüdischen Zuwander:innen aus Europa. Er bot jedoch eine einzigartige ideologische und organisatorische Grundlage für kolonialistische Siedlungsprojekte und für die Errichtung der militärischen und wirtschaftlichen Strukturen des neuen Staats.
Der Arbeiterzionismus passte auch gut zu den Anforderungen des Wirtschaftsaufbaus. Die Histadrut und der Anfang des 20. Jahrhunderts gegründete Jüdische Nationalfonds für den Erwerb palästinensischen Lands für jüdische Siedler:innen waren das Vehikel für die staatliche Kontrolle über Industrie, Boden, Eigentum und die Verteilung der Arbeitskräfte. Der Arbeiterzionismus bot dem Siedlerkolonialismus die materielle und ideologische Unterfütterung.
Kein Siedlerkolonialismus ist jedoch statisch, und schon gar nicht in Israel. Heute beträgt die Bevölkerung in den Kibbuzim 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Die IDF wird jetzt hauptsächlich von nationalistisch-religiösen Zionisten wie Naftali Bennett beherrscht. Die Tage, als die Histadrut als »ausführender Arm« des Zionismus beschrieben werden konnte, sind längst vorbei.
Israels Einwanderungswellen
Nach den europäischen Jüdinnen und Juden, den Aschkenasim, kamen im Rahmen einer Massenansiedlung die Misrachim, die sephardischen Juden aus Nordafrika und dem Nahen Osten. Im Jahr 2005 waren 61 Prozent der israelischen Jüdinnen und Juden ganz oder teilweise misrachi-sephardischer Abstammung. Misrachim wurden von der Elite der Aschkenasim mit Verachtung behandelt, und ihre arabische Kultur und Identität wurden weitgehend ausradiert. Misrachi-sephardische Juden landeten anfangs in Lagern, manchmal über viele Jahre, und dann bekamen sie nur die schlimmste Arbeit und die schäbigsten Wohnungen. Viele entwickelten deshalb eine starke Abneigung gegen den aschkenasischen Arbeiterzionismus.
Ihre Wurzeln waren völlig andere als die der Zuwander:innen aus dem Vorkriegseuropa. Viele schlossen sich Varianten des charedischen Judaismus an. Die ultrakonservative Partei Schas, die in der israelischen Politik eine wichtige Rolle spielt, schuf sich ihre Basis unter anderem mit Wohlfahrtseinrichtungen und Gemeindehilfe für ärmere Misrachijuden.
Weitere Einwanderungswellen waren kleiner, aber ebenfalls bedeutend. Dazu gehörten Siedler:innen aus dem Sowjetblock nach den 1950er Jahren, äthiopische Jüdinnen und Juden in den 1980er Jahren und Juden aus den USA, aus Australien und Europa. Die größte Zuwanderung jedoch fand Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre aus Russland statt. Das russische Judentum war überwiegend säkular ausgerichtet, und bis zu einem Drittel brachten nichtjüdische Familienmitglieder mit oder ihre Abstammung wurde von Religionsbeauftragten infrage gestellt.
Der kürzlich zum Finanzminister ernannte ultranationalistische Avigdor Lieberman, selbst aus Moldawien stammend, gründete Jisrael Beiteinu (Unser Haus), um eine Plattform für sowjetische Immigrant:innen zu schaffen. Jisrael Beiteinu lehnte jedes Zugeständnis an die Palästinenser:innen strikt ab, führte Kampagnen gegen Religionsbehörden wegen der Beschränkung des Übertritts zum Judentum durch und forderte das Ende der Ausnahmen von der Wehrpflicht für die Studierenden des Talmud an der Jeschiwa.
Jede neue Siedlergeneration hat im Zuge der Herausbildung ihrer eigenen Position innerhalb der israelischen siedlerkolonialen Gesellschaft konkurrierende Ansprüche erhoben. Dadurch sind eine Reihe politischer Parteien entstanden, die jeweils spezifische Interessen durchzusetzen versuchen und Zugeständnisse oder Privilegien für sich einklagen. Dabei handelt es sich nicht nur um politischen Opportunismus, sondern das ist tief in der Sozialstruktur der israelischen Siedler:innen verankert.
Religiöser und säkularer Zionismus
Auch der ausdifferenzierte Charakter des Judaismus in Israel ist durch den Siedlerkolonialismus geprägt worden. Der nationalistisch-religiöse Zionismus von Bennett und Jamina spiegelt die Ideologie der Siedlerbewegung wider. Auch sind die orthodoxen und ultraorthodoxen Traditionen keineswegs so »erstarrt«, wie es manchmal dargestellt wird. Häufig kommen sie den Interessen des Staats entgegen und Ultraorthodoxe mischen zunehmend in der Politik mit.
Das mit der Tradition begründete Beharren der Charedim, die Jeschiwastudenten von dem Armeedienst auszunehmen, führt oft zu schweren Konflikten mit säkularen Parteien. Rund 40 Prozent der Bevölkerung sind nicht religiös, und doch muss ein jüdisches Paar sich von einem orthodoxen Rabbiner trauen lassen, damit die Ehe offiziell anerkannt wird. Während die Spaltung zwischen säkular und religiös erhebliche Spannungen verursacht, untermauert die Verwobenheit des Judentums mit der israelischen Gesellschaft den Anspruch Israels, die Heimstätte der Juden zu sein. Ein offener Angriff auf die »Privilegien« der Orthodoxen könnte diesen Anspruch erschüttern. Obwohl von Beginn an eine überwiegend säkulare Bewegung, hat der Arbeiterzionismus sich auf die Bibel berufen und auf die jüdische Identität. Keine Regierung hat bisher ernsthaft versucht, die Ansprüche der Ultraorthodoxen zu beschneiden.
All diese widerstreitenden Ansprüche sind jedoch völlig zweitrangig angesichts der gemeinsamen Ablehnung eines palästinensischen Anspruchs auf Staatlichkeit und das Recht auf Rückkehr. Das ist der Kitt, der die israelische Gesellschaft bei allen Differenzen und Spaltungen, die es geben mag, zusammenhält. Soweit es Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Palästinenser:innen gibt, drehen sie sich vor allem um die Frage, ob die palästinensische Führung Teile des Westjordanlands verwalten darf, oder ob unverhüllte direkte Kontrolle herrschen soll. Selbst hier verfolgen alle Lager eine gemischte Strategie, trotz allen Redens. Und keine einzige Partei tritt für die Auflösung der illegalen Siedlungen oder das palästinensische Recht auf Rückkehr ein.
Israels prinzipienfeste Linke
Es gibt sehr mutige und prinzipienfeste israelische Individuen und Gruppen, die Kampagnen gegen die Besatzung und die Zerstörung der Häuser führen, Obst- und Olivenhaine schützen und gegen die Landnahme protestieren. Es gibt kritische Reservist:innen wie Breaking the Silence und Menschenrechtsaktivist:innen wie B’Tselem, die Rückgrat zeigen. Diese Aktivisten verschaffen einzelnen Palästinenser:innen etwas Erleichterung und sie können dazu beitragen, einem internationalen Publikum die Realität Israels vorzuführen.
Dennoch besitzt keine dieser Organisationen – und das nicht aus eigenem Verschulden – das gesellschaftliche Gewicht oder die notwendige politische Basis, um die staatlichen siedlerkolonialen Strukturen anzufechten oder um die notwendige gesellschaftliche Kraft für den Aufbau einer Bewegung unter den israelischen Jüdinnen und Juden zu entwickeln. Die Bewegung Peace Now, die schon in den 1990er Jahren im Niedergang war, verlor nach der zweiten Intifada jeden Rückhalt. Es gab zwar Demonstrationen gegen das Nationalstaatsgesetz, verglichen mit den Hunderttausenden, die Peace Now im Jahr 1982 gegen den Libanonkrieg auf die Straße brachte, waren sie jedoch völlig unbedeutend. Im vergangenen Jahr fanden auch wichtige Streiks israelischer Arbeiter:innen statt, unter anderem im Sozialwesen und in Krankenhäusern. Diese haben aber die Rechte der Palästinenser:innen nicht berührt und es wurden auch keine Forderungen erhoben, wie sie in Großbritannien üblich wären, beispielsweise Geld für Soziales statt für Waffen.
Einzelne antizionistische Israelis, von denen einige Revolutionär:innen sind, haben eine grundsätzliche moralische und politische Haltung eingenommen und mit dem zionistischen Projekt gebrochen. Aber wie sie selbst sagen, sind sie die Ausnahme, die die Regel bestätigt.
Der siedlerkoloniale Charakter Israels
Jedes Mal, wenn die Palästinenser:innen Widerstand leisten, offenbart sich die wahre Natur des israelischen Staats. Während der ersten Intifada war es der Verteidigungsminister von der Arbeitspartei, Jitzhak Rabin, der die Soldaten dazu aufrief, den protestierenden unbewaffneten Kindern die Knochen zu brechen. Tausende wurden bei dem Aufstand verletzt. Das war derselbe Jitzhak Rabin, der als »Friedensstifter« von Oslo gefeiert wurde. Als die zweite Intifada im Jahr 2000 ausbrach und den Schwindel offenlegte, dass Israel jemals einem unabhängigen Palästina zustimmen würde, kam es in der gesamten israelischen Gesellschaft zu einer rassistischen, rechtsgerichteten Gegenreaktion. Die siedlerfreundlichen Parteien und jene, die jedes Zugeständnis an die Palästinenser:innen ablehnen, sind seitdem auf dem Vormarsch. Im Jahr 2018 gaben nur 18 Prozent der israelischer Jüdinnen und Juden an, dass »Friede« für sie das höchste Gut sei.
Das verdeutlicht den grundlegenden siedlerkolonialen Charakter des jüdischen Staats. Wenn Israel die Palästinenser:innen nicht bezwingt, wer dann? In diesem Sinne ist die rechtszionistische Position keine Verirrung. Eine palästinensische Bevölkerung an Israels Grenze, die nicht der israelischen Kontrolle unterworfen ist, wird die Legitimität Israels immer infrage stellen. Die Option eines unabhängigen palästinensischen Staats neben Israel stand niemals zur Debatte, weder bei den Osloer Verhandlungen noch in der Zukunft.
Der Niedergang des Arbeiterzionismus und der israelischen »Linken« ist politischer Ausdruck der Entwicklung Israels als siedlerkolonialer Staat. Das ist eine Entwicklung, die den Arbeiterzionismus längst hinter sich gelassen hat – und zu dem es kein Zurück gibt.
Der siedlerkoloniale Charakter des zionistischen Projekts verurteilt die Palästinenser:innen zu ewiger Unterwerfung und bindet die jüdischen Israelis an eine siedlerkoloniale Belagerungsmentalität. Nur wenn die Strukturen der Apartheid und der Siedlungskolonialismus zerstört worden sind und den Palästinenser:innen das Recht auf Rückkehr gewährt wird, werden Jüdinnen und Juden wie Palästinenser:innen befreit sein, um gleichberechtigt in einem gemeinsamen demokratischen und säkularen Staat zu leben.
Eine solche Zerstörung kann nicht von innen kommen, schon gar nicht von einer »Linken«, die an dem Aufbau und der Aufrechterhaltung des Siedlungskolonialismus beteiligt ist. Die Macht, die diese Ketten brechen kann, liegt bei den Palästinenser:innen, den Massen des Nahen Ostens und bei einer internationalen Solidaritätsbewegung. Dazu werden auch diejenigen in der US-amerikanischen jüdischen Linken und anderswo gehören, die kein materielles Interesse an der Aufrechterhaltung der Enteignung des palästinensischen Volks haben.
Rob Ferguson ist langjähriges Mitglied der Socialist Workers Party in England und Verfasser der Broschüre »Antisemitism: The Far Right, Zionism & The Left«.
Dieser Artikel erschien zuerst bei Socialist Worker. Übersetzung aus dem Englischen von Rosemarie Nünning.
Foto: Montecruz Foto
Schlagwörter: Israel, Palästina