Im Iran ist nach dem Polizeimord an der jungen Frau Jina (Mahsa) Amini eine Revolte ausgebrochen, die sich gegen das gesamte System stellt. Der iranische Akademiker und Aktivist Peyman Jafari beobachtet, dass die Radikalität in Teilen der Jugend zunimmt, aber alle Generationen mitmachen – Frauen an vorderster Front. Von Nick Clark
Im Iran haben Protestierende Polizeistationen in mehreren Städten in Brand gesteckt, während die Proteste, ausgelöst durch die Ermordung einer jungen Frau durch die Polizei, anhalten. Mindestens sieben Menschen starben, als die Polizei versuchte, den Aufstand vor allem in der kurdischen Region im Nordwesten des Landes, aber auch in der Hauptstadt Teheran, niederzuschlagen.
Die Demonstrationen sind die jüngsten in einer Reihe von Protestwellen gegen die krisengeschüttelte iranische Regierung seit 2018. Sie begannen am Ende September nach der Tötung von Jina (Mahsa) Amini durch die Polizei.
Polizeimord an Jina (Mahsa) Amini
Jina Amini war in einem Haftzentrum ins Koma gefallen, nachdem die iranische »Sittenpolizei«, die die religiösen Gesetze des Irans durchsetzen soll, sie verhaftet hatte. Sie starb wenig später im Krankenhaus.
Frauen und Jugendliche stehen an vorderster Front
Die Polizei behauptete, Mahsa sei verhaftet worden, weil sie ihren Hidschab – das Kopftuch – nicht so trug, dass ihr Haar vollständig bedeckt war. Sie bestritt zudem, dass die Beamten sie mit einem Schlagstock auf den Kopf geschlagen und gegen eines ihrer Fahrzeuge geworfen hätten, und behauptete stattdessen, sie habe ein Herzversagen erlitten. Ihre Familie erklärte jedoch, sie habe keine gesundheitlichen Probleme gehabt.
Iran: »Frauen, Leben, Freiheit«
Die Proteste nach Aminis Tod fanden unter dem Motto »Frauen, Leben, Freiheit« statt. Viele Frauen haben ihr Kopftuch in der Öffentlichkeit abgelegt – entgegen dem iranischen Gesetz – und ihre Haare abgeschnitten.
Dem iranischen Akademiker und Aktivisten Peyman Jafari zufolge richten sich die Proteste aber nicht gegen das Kopftuch selbst, sondern gegen die brutal erzwungene Pflicht, es tragen zu müssen.
»Frauen und Jugendliche stehen an vorderster Front, aber die Proteste sind bunt gemischt und es nehmen alle Generationen teil«, sagte er.
»Es gibt eine wachsende Stimmung unter den jüngeren Generationen, dass sie die Einmischung des Staates in ihr tägliches Leben, ihr soziales Leben nicht mehr hinnehmen wollen. Das bedeutet nicht, dass sie antireligiös oder gegen den Hidschab sind. Es geht ihnen um die Freiheit, ihn zu tragen oder nicht zu tragen. Ich habe mit einer Freundin gesprochen, die an den Protesten teilnimmt und eine hijabitische Mutter hat, die sie unterstützt. Viele dieser Frauen haben Mütter, Großmütter, Tanten und sogar Freundinnen, die den Hidschab weiter tragen wollen. Es geht also nicht darum, ob man religiös oder nicht-religiös ist. Es geht um die Freiheit, das zu tragen, was man will.«
Krise und Widerstand im Iran
Die Proteste finden vor dem Hintergrund einer jahrelangen Krise der iranischen Regierung und immer wiederkehrender Wellen des Widerstands statt. Der Iran leidet seit langem unter einer Wirtschaftskrise, die durch die westlichen Sanktionen, aber auch durch neoliberale Reformen zur Öffnung und Privatisierung der Wirtschaft verursacht wurde.
Die Krise und ihre sozialen Folgen haben in den letzten Jahren wiederholt zu Explosionen von Protesten und Streiks geführt – zumeist gegen Armut, Arbeitslosigkeit und steigende Lebenshaltungskosten. Diese begannen mit einer Reihe von Massenprotesten Anfang 2019, bei denen Polizei und andere staatliche Kräfte bis zu 1.500 Menschen töteten.
In jüngerer Zeit kam es erst Anfang dieses Jahres zu Protesten, nachdem die Regierung die Subventionen für Grundnahrungsmittel gekürzt hatte. In Verbindung mit einer wachsenden städtischen Arbeiterklasse und dem zunehmenden Eintritt von Frauen in die Arbeitswelt und Universitäten hat dies die Voraussetzungen für eine tiefgreifende soziale Revolte geschaffen.
Als Reaktion darauf versprach die Regierung von Ebrahim Raisi allerdings nicht, die sozialen Forderungen zu erfüllen, sondern die religiösen Gesetze noch strenger durchzusetzen. Damit versuchte die Regierung, ihre konservativen Anhänger:innen zu mobilisieren. Stattdessen hat dies aber insbesondere die Kluft zwischen der Regierung und den jüngeren Generationen, die sich mehr Freiheit wünschen, nur noch vertieft, während hohe Arbeitslosigkeit und Armut die Unterstützung der Regierung auch allgemein weiter schwinden ließen.
Revolte gegen Armut und Unterdrückung
Die Berichte westlicher Medien konzentrierten sich auf die Sprechchöre »Nieder mit dem Diktator«, die bei einigen Demonstrationen zu hören waren. Westliche Regierungen, die im Iran eine Herausforderung für die Vorherrschaft der USA im Nahen Osten sehen, versuchen immer wieder regierungsfeindliche Proteste für ihre Interessen zu vereinnahmen.
Aber, so Peyman, die Demonstrierenden skandierten in einigen Städten auch: »Nieder mit dem Unterdrücker, sei es der oberste Führer, sei es der Schah«. Dieser Slogan bezieht sich sowohl auf das aktuelle iranische Regime als auch auf die frühere, vom Westen unterstützte Diktatur des Schahs, die 1979 durch eine Revolution gestürzt wurde.
»Frauen, Leben, Freiheit«, der Hauptslogan der Demonstrationen, verbindet politische und wirtschaftliche Forderungen zu einer breiteren Revolte gegen das System, so Peyman: »Der Slogan stellt die Frage des Sexismus in den Vordergrund. Leben bedeutet, dass jeder ein gutes Leben haben will – das bezieht sich auch auf Arbeiter:innen, die Armen und so weiter. Und Freiheit bedeutet Freiheit von staatlicher Unterdrückung.«
Er fügte hinzu: »Ich glaube, es handelt sich um eine wachsende Stimmung in radikalen Teilen der Jugend, die sich gegen das gesamte System stellen. Das liegt sowohl an Korruption und Misswirtschaft als auch an der Verletzung der politischen und sozialen Freiheiten.«
Dieser Beitrag erschien zuerst auf Englisch bei Socialist Worker. Übersetzung ins Deutsche von Martin Haller.
Foto: Amira al-Tahawi / Twitter.com
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