Der Mediziner und Historiker Karl Heinz Roth liefert mit »Blinde Passagiere – Die Corona-Krise und ihre Folgen« nicht, was er verspricht. Von Yaak Pabst
Das Buch »Blinde Passagiere. Die Corona-Krise und ihre Folgen« von Karl Heinz Roth will die aktuelle Pandemie kritisch aufarbeiten, um kommende zu vermeiden. Der Verlag bewirbt das Buch als »Grundlagenwerk«. Um es gleich vorweg zu sagen: Das ist es nicht.
Lücken in der Recherche
Roth ignoriert wesentliche Erkenntnisse aus den unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, sowohl was die Ursachen von Pandemien angeht, also auch ihre konkrete epidemiologische Bekämpfung. Wichtige linke Veröffentlichungen zum Thema wie Mike Davis Buch über die Vogelgrippe (Gibt es hier beim Verlag kostenlos als PDF zum Downloaden) oder des Evolutionsbiologen Rob Wallace (Lies hier das marx21-Interview mit Rob Wallace: Was sind die Ursachen des Coronavirus?) werden gar nicht erwähnt. Ebenso sind die Aktivitäten und Positionen der Linken zum Thema oberflächlich und unzureichend abgehandelt.
Seine Kernthese ist alter Wein in neuen Schläuchen
Das ist schade, weil Karl Heinz Roth, als Mediziner und Geschichtswissenschaftler, als Aktivist und Theoretiker der radikalen Linken, eigentlich beste Voraussetzungen für ein solches »Grundlagenwerk« mitbringt.
Durchseuchungsstrategie ohne Pandemieleugnung
Doch dafür steht der Autor sich selbst im Weg. Seine Kernthese ist alter Wein in neuen Schläuchen: Es ist eine alterantive Version der Durchseuchungsstrategie, wie sie in der Great-Barrington-Erklärung bereits im Oktober 2020 formuliert wurde, ohne die Pandemieleugnung der Erklärung mitzumachen. Im Kern setzte diese Strategie darauf alte Menschen und sogenannte Risikogruppen zu schützen, um auf Lockdowns verzichten zu können. Das eine solche Herangesehenweise (Herdenimmunität via Durchseuchung) zum damaligen Zeitpunkt ohne die schützenden Impfungen weitere Hunderttausende Tote bedeutet hätten, interessiert Roth wenig. Obwohl die Kritik an den Vorschläge der »Great Barrington Declaration« gut dokumentiert sind (Eine ausführliche Darstellung gibt es beispielsweise beim Weblog »Volksverpetzer«) stellt der Autor sich dieser nicht und bleibt so oberflächlich.
Risikogruppen schützen statt Lockdowns
Im weiteren Zentrum von Roths Kritik an der Pandemiebekämpfung steht die Ökonomisierung des Gesundheitswesens und die sich daraus ergebenden falschen Weichenstellung in der Public-Health-Politik (Öffentliches Gesundheitswesen). Hier spricht der Autor wichtige Punkte an, in Bezug auf eine alternative Pandemiebekämpfung springt er jedoch viel zu kurz. Denn auch das bestausgestattete Gesundheitswesen hätte die SARS-CoV-2-Pandemie nicht verhindert. Das wird im Buch auch angedeutet, aber eben nicht wirklich systematisch weiterentwickelt. So bleiben beim Lesen viele Fragen offen. Besonders merkwürdig ist, dass Roth an diesem Punkt zur gesellschaftlichen Produktion von Zoonosen gar nichts schreibt.
»Blinde Passagiere« nutzt teilweise dubiose Quellen
Beim Versuch, das Versagen der Regierungen in der Pandemie zu skizzieren, stützt Roth seine Argumentation teilweise auf dubiose Quellen. Beispielsweise beruft er sich auf den bei Coronaleugner:innen beliebten ehemaligen Oberregierungsrat im Bundesinnenministerium Stephan Kohn. Der ehemalige SPD-Mann wurde noch vor Drucklegung von »Blinde Passagiere« als Bundestagskandidat der Partei Die Basis in Sachsen-Anhalt aufgestellt. In seinem Bericht, auf den sich Karl Heinz Roth positiv beruft, heißt es: »Die Gefährlichkeit von Covid-19 wurde überschätzt (innerhalb eines Vierteljahres weltweit nicht mehr als 250.000 Todesfälle mit Covid-19, gegenüber 1,5 Mio. Toten während der Influenzawelle 2017/18). Die Gefahr ist offenkundig nicht größer als die vieler anderer Viren. Wir haben es aller Voraussicht nach mit einem über längere Zeit unerkannt gebliebenen globalen Fehlalarm zu tun.« Diese offensichtliche Fehleinschätzung bleibt vom Autor unwidersprochen.
Pappkameraden für ZeroCovid
Unverständlich ist auch, dass sich der Autor darüber hinaus an der wenig fundierten Kritik der Initiative ZeroCovid in Deutschland beteiligt. Er schreibt: »Eine deutliche Mehrheit votierte unter der Parole ›Zero Covid‹ für eine mit Solidaritätsfloskeln bemäntelte Verschärfung der autoritären Maßnahmen.« Er scheint weder den Aufruf von ZeroCovid gelesen, noch die Debatte genau verfolgt zu haben. Denn eine Kritik der Initiative war ja eben gerade die unsoziale, undemokratische und ineffektive Lockdown-Politik der Bundesregierung. So schreibt die Initiative: »Es gibt keinen Gegensatz zwischen Gesundheitsschutz und Pandemiebekämpfung einerseits und der Verteidigung demokratischer Rechte und des Rechtsstaats andererseits. Demokratie ohne Gesundheitsschutz ist sinnlos und zynisch. Gesundheitsschutz ohne Demokratie führt in den autoritären Staat. Die Einheit von beidem ist der entscheidende Schlüssel zu einer solidarischen ZeroCovid-Strategie.«
Hoher Preis, wenig Neues
Trotz einer Fülle an Daten konnte der Autor seinem Anspruch, eine »umfangreiche Studie« vorzulegen, nicht gerecht werden – zuviele Lücken in der Recherche sind offensichtlich. Das ist insgesamt enttäuschend. Für die weitere Debatte um die Haltung der Linken zur jetzigen und zukünftigen Pandemien liefert das Buch »Blinde Passagiere – Die Corona-Krise und ihre Folgen« nichts Neues. Obendrauf kommt ein mit 30 Euro viel zu hoher Preis.
Das Buch:
Karl Heinz Roth
Blinde Passagiere – Die Coronakrise und die Folgen
Kunstmann
480 Seiten
30,00 Euro
2022