Zum zweihundertsten Geburtstag von Karl Marx »Das Kapital« lesen? Ja unbedingt, meint unser Autor und liefert dafür eine zugängliche Anleitung. Von Joseph Choonara
Das »Kapital« ist ein außergewöhnliches Werk, das heute, 151 Jahre nach der Veröffentlichung des ersten Bandes, seine Aktualität nicht verloren hat. Das heißt nicht, dass wir dieses Werk einfach unkritisch auf den gegenwärtigen Kapitalismus anwenden können. Die kreative Anwendung der Theorie und, wo nötig ihre Aktualisierung und Weiterentwicklung, sind unerlässlich. Dennoch hat das Buch eine wirkliche Langlebigkeit. Diese spiegelt die Tatsache wider, dass das Untersuchungsobjekt im »Kapital« nicht der Kapitalismus Großbritanniens aus dem 19. Jahrhundert ist, in dem Karl Marx zufällig lebte, als er das Manuskript schrieb. Stattdessen bietet Marx nicht weniger als eine Darstellung der gesellschaftlichen Verhältnisse der kapitalistischen Produktionsweise, die zu ihren charakteristischen Bewegungsgesetzen führen. Warum war Marx in der Lage, diese blendende Beschreibung des Kapitalismus hervorzubringen, die noch anderthalb Jahrhunderte später bei den Einen weiterhin Begeisterung und bei den Anderen intensive Ablehnung erfährt?
Standpunkt der Arbeiterklasse
Zunächst einmal konnte er auf die Hauptwerke der klassischen Tradition der politischen Ökonomie zurückgreifen statt auf die eher traurige ökonomische Theorie, mit der wir heute konfrontiert sind. Marx beschäftigt sich insbesondere mit der Arbeit der britischen Ökonomen Adam Smith und David Ricardo, die ihm vorausgegangen waren. Smith und Ricardo schrieben in einer Zeit, als der Kapitalismus noch im Aufstieg begriffen war, und sahen sich gezwungen, sich mit der Natur und der Funktionsweise des Systems wirklich auseinanderzusetzen. Ihre Werke kamen zwar über bestimmte Grenzen nicht hinaus, sie waren aber keine Rechtfertigungen des Kapitalismus. Marx‘ Schriften zur politischen Ökonomie sind voll von kritischen Kommentaren zu diesen klassischen Autoren.
Doch trotz all ihrer Leistungen blieben Smith und Ricardo Denker, die sich mit dem System identifizierten. Marx kam weiter, weil er einen ganz anderen Standpunkt einnahm. Das »Kapital« ist ein explizit politisch motiviertes Projekt und Marx’ Standpunkt ist durchweg der Standpunkt der Arbeiterklasse – als ausgebeutete Gruppe und potenziell revolutionäre Kraft. Dies kommt auf der ersten Seite vom ersten Band mit der Widmung von Marx an seinen Freund Wilhelm Wolff zum Ausdruck: »dem kühnen, treuen, edlen Vorkämpfer des Proletariats«. Wir werden immer wieder erleben, wie dieser Standpunkt die Interpretationen im »Kapital« prägt.
»Eine direkt revolutionäre Aufgabe«
Politik ist nie weit von Karl Marx Gedanken entfernt. Er schrieb von einem etwas früheren Werk »Zur Kritik der politischen Ökonomie«: »Ich hoffe, unserer Partei einen wissenschaftlichen Sieg zu erringen.«
Seine »Partei« bestand hier aus seinen revolutionären Mitdenkern und Mitdenkerinnen in der sozialistischen Bewegung in ganz Europa – und der Sieg, den er im Sinn hatte, richtete sich in erster Linie gegen die Anhänger und Anhängerinnen von Pierre-Joseph Proudhon, einem französischen Sozialisten, der eine weit weniger weitgehende Analyse des Kapitalismus hatte, und die ihren Ausgangspunkt sicher nicht in der Selbstemanzipation der Arbeiterklasse hatte.
Es reichte jedoch nicht, sich nur mit anderen sozialistischen Strömungen auseinanderzusetzen. Marx schrieb über das »Kapital«, dass es im Vergleich zu seinem Text »Zur Kritik der politischen Ökonomie« »populärer to some degree [in gewissem Grad]« sei, weil es »eine direkt revolutionäre Aufgabe« habe; Marx hoffte insbesondere, unter den Arbeiterinnen und Arbeitern eine Leserschaft zu gewinnen. Auch dies macht das »Kapital« so faszinierend. Marx’ Ziel ist es, die Verhältnisse derer, an die er sich wendet, wissenschaftlich genau zu beschreiben, ihre soziale Position in dem System, in dem sie leben, zu erklären und ihnen die Stärken und Schwächen dieses Systems aufzuzeigen, um es besser besiegen zu können.
»Die ganze ökonomischen Scheiße«
Das Werk selbst benötigte eine lange Zeit. Marx begann Mitte der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts seine ersten Studien zur politischen Ökonomie. Bereits im April 1851 hatte er an seinen engen Freund und Mitarbeiter Friedrich Engels geschrieben: »Ich bin so weit, dass ich in 5 Wochen mit der ganzen ökonomischen Scheiße fertig bin.« Sechzehn Jahre später erschien Band 1 des »Kapitals«. Sechzehn Jahre danach starb Marx, nachdem er noch immer nicht die Arbeiten an den folgenden Bänden abgeschlossen hatte, die der leidgeprüfte Friedrich Engels noch bearbeiten musste. Warum diese Verzögerungen? Zum einen wurde Marx immer wieder durch die Erfordernisse politischer Arbeit von seiner theoretischen Forschung abgelenkt. Zu nennen sind wichtige Ereignisse wie die Revolutionen von 1848, die über Europa hinwegfegten, und die Gründung der Ersten Internationalen 1864 in London, die viele der jungen sozialistischen Gruppierungen Europas und Amerikas zusammenbrachte, sowie alltägliche Aufgaben wie die Abfassung des dann allerdings kaum gelesenen Werkes »Herr Vogt« von 1860.
Die Unterbrechungen waren nicht nur politischen Ereignissen geschuldet, sondern auch den erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die Marx und seine Familie hatten. Hinzu kam seine schlechte Gesundheit. Marx wird manchmal für seine Beschäftigung mit seinen »Karbunkeln« verspottet. Aber eine Analyse eines heutigen Dermatologen deutet darauf hin, dass er tatsächlich unter einer zeitweise kräftezehrenden Hauterkrankung (Hidradenitis suppurativa) litt.
Immer dieselbe Ausrede
Zusätzlich zu diesen wirklichen Problemen und der enormen Frustration seiner Freunde und Genossen, hat Marx offenbar auch noch Mühe, überhaupt eines seiner Werke zu vollenden. Engels hatte ein klares Gespür dafür, als er 1860 an Marx schrieb:
»Das baldige Erscheinen Deines 2. Hefts ist dabei natürlich bei weitem das Wichtigste, … Sei endlich einmal etwas weniger gewissenhaft Deinen eignen Sachen gegenüber; … Daß das Ding geschrieben wird und erscheint, ist die Hauptsache; … Ich weiß sehr gut alle die andern Störungen, die dazwischenkommen, ich weiß aber auch, dass die Hauptverzögerung immer in Deinen eignen Skrupeln liegt. Am Ende ist’s doch besser, dass das Ding erscheint, als dass es aus dergleichen Bedenken gar nicht erscheint.«
Fünf Jahre später bot Marx seinem Freund immer noch dieselben Ausreden an:
»Ich kann mich aber nicht entschließen, irgend etwas wegzuschicken, bevor das Ganze vor mir liegt. Whatever shortcomings they may have [was immer ihre Schwächen sein mögen], das ist der Vorzug meiner Schriften, daß sie ein artistisches Ganzes sind, und das ist nur erreichbar mit meiner Weise, sie nie drucken zu lassen, bevor sie ganz vor mir liegen.«
Diese perfektionistische Tendenz wurde durch Marx’ Wunsch verstärkt, die raschen Veränderungen des Kapitalismus zu seinen Lebzeiten und die Entwicklung des Systems in »neuen« Gebieten der Welt mit zu berücksichtigen. Vermutlich müssen wir Engels für das ständige Nörgeln und Drängen danken, das zur Entstehung zumindest eines fertiggestellten Bandes zu Marx‘ Lebzeiten geführt hat.
Unter die Oberfläche blicken
Bevor wir uns das erste Kapitel vom »Kapital« anschauen, lohnt es sich, die Methode, die Marx in der Arbeit anwendet, zu betrachten. Keine Sorge, wenn die folgenden Ausführungen etwas schwer verständlich erscheinen. Sie werden klarer, wenn man beginnt, sich durch den Text von Marx zu arbeiten, und wenn sie dann nicht sofort klar sind, sollte man vielleicht auf diesen Abschnitt der Einleitung zurückkommen, bevor man fortfährt.
Marx beginnt damit, dass die oberflächliche Erscheinung der Dinge irreführend und wirr ist. Wir müssen unter dieses oberflächliche Erscheinungsbild blicken, um zu verstehen, sowohl wie die Wirklichkeit strukturiert ist und ebenso wie sie sich selbst zeigt. Wie Marx es formuliert, »alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen«. Wenn das oberflächliche Erscheinungsbild des Kapitalismus zu Marx‘ Zeiten verwirrend gewesen ist, wie viel verwirrender muss es heute sein, zum Beispiel mit der Explosion komplexer Finanzmärkte, die scheinbar Geld aus der Luft erschaffen, bevor sie oft katastrophal zusammenbrechen? Das Problem besteht jedoch nur darin, zu begreifen, dass es einen Unterschied zwischen der Erscheinung und dem Wesen gibt, zwischen der Art und Weise, wie die Dinge im Kapitalismus erscheinen, und den wirklichen Verhältnissen, die den Motor des Systems darstellen. Weil diese Dinge nicht dieselben sind, brauchen wir einen wissenschaftlichen Ansatz, eine bestimmte Methode. Aber was ist diese Methode?
Vom Abstrakten zum Konkreten
Entscheidend ist, dass Marx die Methode der Abstraktion verwendet und dann vom Abstrakten zum Konkreten aufsteigt. Mit Abstraktion meint Marx, dass man zunächst die komplizierten Merkmale der Realität unberücksichtigt lässt, um die zugrunde liegenden Kräfte in ihrer reinsten und einfachsten Form zu erfassen. Genau das tut Marx im schwierigen Anfangskapitel des »Kapitals«. Beginnend mit der einfachen Ware, die auf der Oberfläche des Kapitalismus sehr offenbar ist, leitet er einige abstrakte Konzepte ab – der Wert zählt zu den interessantesten –, die eine Schlüsselrolle bei der Erklärung komplexerer Kategorien spielen werden, die später im Text behandelt werden. Die Tatsache, dass etwas abstrakt ist, bedeutet nicht, dass es sich nur um ein intellektuelles Produkt handelt, eine Idee, die aus der Luft gegriffen ist. Diese von Marx entwickelten Kategorien haben einen wesentlichen Einfluss auf die Welt des Kapitalismus, und Marx gibt oft historische Beispiele dafür, wie sich diese auswirken – dabei legt er die wirklichen Tendenzen und Gegentendenzen innerhalb des Kapitalismus, die das Leben der Menschen, ihre Kämpfe, ihre Beziehungen zueinander beeinflussen, offen.
Abstraktion, so mächtig wie sie als Werkzeug ist, reicht nicht aus. In jeder Phase der Analyse im »Kapital« treffen wir auf Widersprüche, die uns zwingen, zu einer konkreteren Ebene aufzusteigen, mit einer größeren Komplexität und weiteren vielschichtigen Faktoren. Tatsächlich ist der größte Teil des Buches genau dieser Prozess des Aufstiegs vom Abstrakten zum Konkreten. Andererseits ist das Aufsteigen zum Konkreten jedoch kein in sich abgeschlossener, intellektueller Prozess. Es geht darum, neues Material in die Theorie einzufügen.
Arbeitskraft als Ware
Zum Beispiel stellt Marx im vierten Kapitel eine kapitalistische Welt dar, in der der Wert aller Erzeugnisse auf der Arbeit beruht, die in ihre Produktion eingeflossen ist, und alle Erzeugnisse werden auf dem Markt nach ihrem Wert getauscht. Er fragt, wie dieses System einen Gewinn für irgendjemanden generieren kann. Der Unterpunkt des vierten Kapitels über den Kauf und Verkauf der Arbeitskraft beantwortet diese Frage. Erst wenn die Arbeitskraft selbst zur Ware wird, kann es kapitalistische Produzenten geben, die jetzt Lohnarbeit beschäftigen und durch die Ausbeutung von Arbeiterinnen und Arbeitern Profit machen. Die Details der Argumentation sind in diesem Moment nicht wichtig, aber die Methode. Bis zu diesem Punkt im »Kapital« trat die Lohnarbeit überhaupt nicht auf. Marx greift auf jetzt diesen neuen Begriff zurück, holt ihn aus der Welt von außen, baut ihn in seine Theorie ein, um ein Problem zu lösen, das sich stellte, als er seine Analyse auf eine konkretere Ebene brachte.
Diese sorgfältige Anordnung der Faktoren kann es schwierig machen, sich den Text anzueignen. Es besteht eine ständige Versuchung, vorwärts zu springen und Konzepte einzuführen, die noch nicht in die Analyse passen. Aber wenn wir der akribischen Logik von Marx folgen, besteht der große Vorteil darin, dass wir die alltägliche Funktionsweise des Kapitalismus nicht als »chaotische Vorstellung des Ganzen«, sondern als eine »reiche Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen« verstehen können. Wenn wir also den dritten Band des »Kapitals« erreichen, werden wir mit komplexen Fragen wie der Miete für Grundstücke, Börsen, Wirtschaftskrisen, Banken usw. konfrontiert. Wenn wir mit diesen Kategorien beginnen und versuchen würden, sie in ihren eigenen Begriffen zu verstehen, würden wir sie als rätselhaft empfinden. Nachdem wir jedoch die drei Bände durchlaufen haben, mit den einfachsten Abstraktionen angefangen und allmählich, während wir uns dem Konkreten nähern, mehr Teile des Puzzles zusammengefügt haben, können wir nun hoffentlich verstehen, wie diese Dinge funktionieren und wie sie zusammenhängen.
Die Anordnung der Bände des »Kapitals«
Ein weiterer Aspekt, wie das Kapital aufgebaut ist, ist zu berücksichtigen. Marx konzentriert sich im ersten Band auf die Produktion. Der zweite befasst sich mit dem Prozess der Zirkulation, den das Kapital in seinen verschiedenen Phasen (Produktion, aber auch An- und Verkauf) durchläuft. Der dritte Band bringt beide Aspekte des Kapitalismus zusammen und befasst sich damit mit dem Prozess als Ganzem. Diese Herangehensweise erlaubt es Marx, einige der kompliziertesten Aspekte des Systems zu erforschen.
Die verflochtene Natur des Projektes führt zu Problemen für diejenigen, die nur Band 1 lesen. Dies kann möglicherweise zu einer groben Fokussierung auf die Produktion führen, bei der Fragen des Kapitalverkehrs oder Fragen wie Finanzen und Kredite, die hauptsächlich im dritten Band behandelt werden, übersehen werden. Insofern ist es hilfreich, die Produktion als Grundlage für die Zirkulation zu sehen, und so macht die Anordnung der Bände bei Marx Sinn. Nichtsdestotrotz wird es reichlich Verweise auf Gedanken geben, die im dritten Band und seltener auch im zweiten Band ausgereifter entwickelt sind.
Konkurrenz und Entfremdung
Zwei abschließende methodologische Fragen sind es wert, angerissen zu werden. Erstens erarbeitet Marx in den frühesten Entwürfen des »Kapitals« einen Plan für eine ganze Reihe von Büchern, die ein breiteres Themenspektrum als die drei Bände, die wir besitzen, abdecken sollten. Diese frühe Version wurde teilweise entlang einer Unterscheidung strukturiert zwischen dem, was Marx »Kapital im Allgemeinen« und »viele Kapitale« nannte, wobei das letztere sich mit der Konkurrenz [im deutschen sprechen Bürgerliche lieber von »Wettbewerb« statt von Konkurrenz] zwischen den Kapitalisten beschäftigen sollte. Als »Das Kapital« begann, Gestalt anzunehmen, war Marx gezwungen, mit Teilen seines früheren Planes zu brechen. Ein Thema ist die Rolle der Konkurrenz im Text. Konkurrenz findet zwar seinen Eingang in den ersten Band des Kapitals, aber oft schreckt Marx immer noch davor zurück, sie vollständig zu diskutieren und fügt manchmal eine Erklärung hinzu, die suggeriert, dass eine vollständige Ausarbeitung an anderer Stelle, im späteren Werk, zu finden ist. Die Konkurrenz bleibt jedoch für das Verständnis der Funktionsweise des Kapitalismus von zentraler Bedeutung: Der Konkurrenzdruck jeder Kapitaleinheit auf die anderen ist es, der die grundlegenden Bewegungsgesetze des Kapitalismus durchsetzt. Ich werde daher versuchen, hier die Rolle der Konkurrenz stärker herauszuarbeiten.
Zweitens zeige ich an verschiedenen Stellen, wie einige von Marx’ frühesten Konzepten wie Entfremdung und die Frage nach der Möglichkeit menschlicher Freiheit im »Kapital« wiederauftauchen. Diese Lektüre steht im Widerspruch zur Interpretation des französischen Marxisten Louis Althusser, der auch heute noch in linken akademischen Milieus sehr populär ist. Er glaubte, es gebe einen »erkenntnistheoretischen Bruch« zwischen dem jungen »humanistischen« Marx und dem reifen, der das »Kapital« schrieb. Der Beweis des Gegenteils ist jedoch so zwingend, dass ich mich nicht dafür entschuldige, regelmäßig darauf aufmerksam zu machen. Mit dieser kurzen Zusammenfassung der Methode von Marx im »Kapital« sind wir soweit, den Text selbst zu lesen.
Dieser Text ist die Einleitung aus dem Buch »Das Kapital lesen«. Im Original sind Fußnoten enthalten.
Das Buch: »Das Kapital lesen«, Joseph Choonara, Edition Aurora, Berlin 2018, 6,50 Euro
Foto: Royal Opera House Covent Garden
Schlagwörter: Das Kapital, Kapital, Kapitalismus, Marx, Marxismus