Weltgeist trifft Esther von nebenan: Kate Tempest verbindet auf ihrem Hörbuch-Rap-Album Individualschicksale mit der großen Weltpolitik. Von David Jeikowski
Islamismus, AfD, Zuwanderung – die deutsche Gesellschaft scheint heute gespalten wie nie. Die Grenzziehung verläuft dabei allzu oft nicht zwischen oben und unten, sondern fatalerweise innerhalb der eigenen Klasse. Prekär Beschäftigte schimpfen auf Geflüchtete, Studierende verdrängen Alteingesessene, Marginalisierte verteidigen die »deutsche Leitkultur«, die sie selbst seit jeher ausschließt. Wer jedoch regelmäßig mit dem Zug fährt, hat vielleicht schon einmal erlebt, dass es ein Thema gibt, das die hiesige Bevölkerung wie kein zweites zu vereinen vermag: die Inkompetenz der Deutschen Bahn. Ob ausgefallene Klimaanlage, defekte Reservierungsanzeigen oder 120 Minuten Verspätung aufgrund einer »Verzögerung im Betriebsablauf« – Wildfremde werfen sich plötzlich über ihre Smartphones hinweg verbrüdernde Blicke zu, Frauen mit Kopftuch tauschen sich mit bayerischen Rentnern über ihre schlimmsten Bahn-Fiaskos aus. Wäre die britische Rapperin Kate Tempest aus Deutschland, so gäbe es keinen geeigneteren Ort als diesen, um ihr neues Konzept-Album »Let them eat chaos« zu inszenieren. Doch der Reihe nach.
Keine gewöhnliche Rapperin
Die 30-jährige Kate Tempest ist keine gewöhnliche Rapperin. Sie wuchs im ärmlichen Süden Londons auf, verbrachte nach eigenen Angaben ihre Jugend damit, »an Streikposten abzuhängen und Demo-Bullen anzurappen«. Mit 16 schmiss sie die Schule, fand über den Rap ihren Weg zu Poetry-Slam und Spoken Word, schrieb später Gedichtbände und Theaterstücke. In Großbritannien wird sie mit Auszeichnungen überhäuft, Zeitungen wie der »Guardian« überschlagen sich regelmäßig vor lauter Lobpreisungen.
»Let them eat chaos« ist nun Tempests zweites Solo-Album. Mit einem beispiellosen Gespür für atmosphärische Dichte führt sie nacheinander in die Welt von sieben Protagonisten (und einer Naturgewalt) ein, um daraufhin jeweils für einen Song deren Perspektive einzunehmen. Die mal offen benannte, mal implizit mitschwingende Quintessenz ist die allgegenwärtige Symbiose von Großem und Kleinem, von Weltpolitik und Individualschicksal, die Tempest mit beeindruckender Leichtigkeit immer wieder aufzuzeigen vermag.
Alles für die Reichen
Es beginnt mit einer kosmischen tabula rasa: »Stell dir ein Vakuum vor. Eine endlose und bewegungslose Dunkelheit / Frieden oder, zumindest, die Abwesenheit von Terror«, instruiert uns Tempest in die Stille hinein. Wir nähern uns unserem Sonnensystem, staunen über die elegante Schönheit von Mutter Erde, nur um im nächsten Moment hart auf ihr aufzuknallen. Sirenen heulen rhythmisch auf, wie eine unheilvolle Vorahnung eines Instrumentals. Wir sind in London gelandet, vermutlich im Süden. Es ist 4:18 Uhr morgens, doch die Protagonisten finden keinen Schlaf. Sie wälzen Probleme, sorgen sich um die Zukunft. Sie wissen nichts voneinander, obwohl sie doch in derselben Straße leben, fragen sich, ob sie die einzigen sind, die kein Auge zukriegen.
Gemma (»Ketamine for breakfast«) macht sich beispielsweise Vorwürfe, sich trotz aller Bemühungen immer den falschen Leuten anzuschließen: »Versuche dagegen anzukämpfen, aber ich bin mir sicher / wenn du schlecht für mich bist, mag ich dich noch mehr/«, rappt Tempest in ihrer Rolle kraftvoll über übellaunige Grime-Synthesizer.
Zur selben Zeit sitzt Zoe (»Perfect coffee«) zwischen gepackten Umzugskartons und malt sich die kommenden Tage aus. Ihre Wohnung wird aufgewertet, die Miete verdreifacht. »London ist eine ummauerte Festung, es ist alles für die Reichen / Wenn du finanziell zurückfällst, fällst du, und du weißt, wo die Tür ist /«. Schon bald wird sie selbst »der Eindringling in einer anderen Gegend sein /«, perfekten Kaffee in eben eröffneten Szene-Cafés trinken und ihren neuen Nachbarn selbst die Gentrifizierung bringen.
Ein gewaltiger Sturm zieht auf
Ein definitiver Anspieltipp ist auch der Monolog von Esther (»Europe is lost«), einer Krankenschwester, die grade erst ihre Nachtschicht beendet hat. Über ein vor Coolness strotzendes E-Gitarren-Sample lässt sie richtig Dampf ab: wie oberflächliche Ideale geschaffen und Jugendliche kriminalisiert werden, wie über Migranten hergezogen wird und die Herrschenden mit jedem Skandal davonkommen – »doch schau, der Verkehr geht immer weiter/ das System ist zu ausgefuchst, um nicht mehr zu funktionieren / (…) außerdem gibt es im Club grade zwei Drinks zum Preis von einem/«.
Am Ende des Albums zieht ein gewaltiger Sturm auf. Zuckende Blitze lassen die sieben aufschrecken und sie erst ihre Stadt neu und sich dann plötzlich gegenseitig erkennen. Erstaunt laufen sie auf die Straße, lösen erst ihre körperliche Habachtstellung und dann die geistige. In einer erlösenden Katharsis ist ihre Vereinzelung plötzlich aufgehoben.
Nun wäre es sicherlich zu viel verlangt, dass sich bei jeder Verspätung der Deutschen Bahn alle Passagiere gleich solidarisch in den Armen liegen. Einen Versuch wäre es jedoch zumindest wert, Wetter und Deutsche Bahn sind ja bekanntermaßen immer für eine Überraschung gut.
Das Album: Kate Tempest: Let them eat chaos, Caroline (Universal Music) 2016
Foto: Tramlines Festival Official
Schlagwörter: David Jeikowski, Kultur, Musik, Rap