Wie kann die Verkehrswende gelingen? Klimaaktivist:innen und Beschäftigte planen gemeinsam zu streiken. Damit skizzieren sie zugleich, wie die zukünftigen Kämpfe ums Klima gewonnen werden können. Von Ronja Mahler und Frieda Holm
Die aktuelle Lage mit Blick auf die Klimakrise ist den meisten von uns klar: Ihre Bewältigung ist die größte und dringlichste Herausforderung unserer Zeit (Lies hierzu den marx21-Artikel: Klimaschutz und der fossile Kapitalismus). Wir brauchen dafür Strategien und Aktionsformen, die der zeitlichen Dringlichkeit der Klimakrise gerecht werden. Gleichzeitig dürfen wir dabei die Reichweite der notwendigen Veränderungen nicht aus dem Blick verlieren – ein Bruch mit dem auf Wachstum und der Nutzung fossiler Energieträger basierenden kapitalistischen Wirtschaftssystem. Entscheidender Kern unserer Strategien muss daher der Aufbau einer Bewegung sein, die über die notwendigen Machtmittel verfügt, um Kräfteverhältnisse nachhaltig zu verschieben. Nur so können wir die Kämpfe um unsere Zukunft auf diesem Planeten heute und in den nächsten Jahrzehnten gewinnen.
TVN2024 – Zeitfenster der Tarifauseinandersetzung im ÖPNV
Die Tarifauseinandersetzung im Öffentlichen Nahverkehr (ÖPNV) 2024 markiert hierfür ein Zeitfenster. In einem Schulterschluss von Klimaaktivist:innen und Beschäftigten kann es gelingen, punktuelle materielle Siege im Bereich der Verkehrswende zu erzielen, Streikauseinandersetzungen zu politisieren und eine solche Bewegung aufzubauen. Der gemeinsame Streiktag von Klimaaktivist:innen und ÖPNV-Beschäftigten im März 2023 war darin ein erster Schritt, an den es jetzt anzuknüpfen gilt. Die Verkehrswende ist eine der entscheidenden Stellschrauben im Kampf um sozial gerechten Klimaschutz. Denn ein großer Teil der CO2-Emissionen stammt aus dem Verkehrssektor, und die Emissionen sinken in diesem Bereich nicht – sie steigen. Soll die Verkehrswende gelingen, braucht es einen flächendeckenden Ausbau des ÖPNV, gute Arbeitsbedingungen und ausreichend Produktionsstätten für Bahnen und Waggons sowie ausreichend qualifizierte Mitarbeiter:innen. Das erfordert massive staatliche Investitionen. Doch statt die entsprechenden Weichenstellungen vorzunehmen, hofiert die Ampelregierung weiter die Autoindustrie.
Die Automobilkonzerne sind mächtige Gegner!
Mit den bisher dominanten Strategien der Klimabewegung – Massenmobilisierungen verbunden mit politischem Appell – ist es nicht gelungen, daran substantiell etwas zu ändern. Das verdeutlicht einmal mehr: Wollen wir als Klimabewegung Kämpfe gewinnen, reicht es nicht, inhaltlich richtige Forderungen zu stellen und diese möglichst öffentlichkeitswirksam zu artikulieren. Sondern wir müssen politische Weichenstellungen erzwingen, die sich gegen die Interessen von mächtigen Automobil- und fossilen Energiekonzernen und ihre Unterstützer:innen in Politik und Medien richten. Wir brauchen daher für unsere Forderungen vor allem Machtressourcen, um sie durchzusetzen. Im ÖPNV gibt es derzeit ein Gelegenheitsfenster, neue Durchsetzungsperspektiven aufzubauen und punktuell materielle Erfolge zu erringen. Im Frühjahr 2024 verhandeln die Beschäftigten in den Verkehrsbetrieben über ihre Arbeitsbedingungen. Die politische Forderung nach einer Verkehrswende bringt sie dabei in eine Offensivposition. Denn die Umstellung auf den öffentlichen Nahverkehr wird bislang auch durch die desolaten Arbeitsbedingungen im ÖPNV systematisch verunmöglicht: Viele Beschäftigte im ÖPNV arbeiten unter widrigsten Bedingungen im Schichtbetrieb und kommen mit ihren Löhnen knapp über dem Mindestlohn kaum noch bis zum Monatsende. Viele von ihnen verlassen deshalb den Job. Jetzt schon fehlen Zehntausende Fahrer:innen. Ohne massive Investitionen ins Personal und bessere Arbeitsbedingungen der Beschäftigten in den Verkehrsbetrieben wird die Verkehrswende an einem ihrer Grundpfeiler scheitern. Denn wenn es nicht ausreichend Personal im ÖPNV gibt, welches die Elektrobusse der Zukunft fahren kann, wird durch diese auch kein Gramm CO2 eingespart werden. Kurz: Es geht in den Tarifauseinandersetzungen der nächsten Jahre um einen Überlebenskampf des ÖPNV.
Öffentliche Daseinsvorsorge wird durch Streiks erkämpft
Es stellen sich in den Tarifauseinandersetzungen also Fragen von Investitionen in die öffentliche Daseinsvorsorge, Verteilung von Reichtum und Entscheidungsmacht. Die Beschäftigten im Nahverkehr verfügen dabei über den Hebel, durch die Macht des Streiks Druck aufzubauen, der über Appelle hinausreicht und unmittelbar Veränderung bewirken kann. Denn mit ihrer Streikmacht können die Kolleg:innen im ÖPNV den Verkehr innerhalb von kürzester Zeit zum Erliegen bringen und die öffentliche Infrastruktur erheblich stören. Streiks im ÖPNV haben das Potenzial, eine politische Krise auszulösen und die Politik zu Zugeständnissen und notwendigen Investitionen in die Arbeitsbedingungen und damit die Zukunft des ÖPNV zu zwingen. Die jüngsten Arbeitskämpfe im Gesundheitssektor skizzieren, wie das konkret aussehen könnte und welches Potenzial in einer solchen Form offensiver und kämpferischer Gewerkschaftsarbeit liegt. In starken Streikbewegungen ist es den Beschäftigten in Krankenhäusern gelungen, mehr Personal durchzusetzen. Sie haben so nicht nur eine Verbesserung ihrer Arbeitsbedingungen bewirkt, sondern auch die Frage guter Gesundheitsversorgung faktisch zum Gegenstand einer tariflichen Auseinandersetzung gemacht. Neben dem Aufbau der eigenen Streikstärke haben sie im Rahmen der sogenannten Entlastungsbewegungen gezielt das Bündnis mit zivilgesellschaftlichen Akteur:innen gesucht. Denn auch in diesem Bereich waren politische Zusagen notwendig, um den Forderungen nach mehr Personal die nötige Durchschlagskraft zu verschaffen. Die Krankenhausbewegungen sind so innerhalb weniger Jahre zum schärfsten Mittel geworden, um das Gesundheitssystem grundlegend zu verändern.
Verkehrswende durch Arbeitskämpfe erreichen
Ähnlich wie im Gesundheitsbereich oder anderen Teilen der öffentlichen Daseinsvorsorge fällt auch im ÖPNV das Interesse der Beschäftigten nach besseren Arbeitsbedingungen zusammen mit der gesamtgesellschaftlichen Forderung nach einer klimagerechten Verkehrswende. 2024 kann es gelingen, diese Interessengleichheit nicht nur öffentlichkeitswirksam zu artikulieren oder symbolisch auf die Straße zu tragen, sondern ausgehend davon im öffentlichen Nahverkehr einen gesamtgesellschaftlichen Kampf um die öffentliche Daseinsvorsorge zu führen. Dann wären umfangreiche finanzielle Zugeständnisse inklusive einer deutlichen Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten ein denkbares und gewinnbares Ziel. Uns als Klimabewegung kommt hierbei eine entscheidende Rolle zu. Wir können unsere Mobilisierungskraft und diskursive Macht einsetzen, um Arbeitsniederlegungen im ÖPNV zu legitimieren und den Beschäftigten und ihrem Machthebel zu größerer Durchschlagskraft zu verhelfen. Gleichzeitig können wir Spaltungslinien zwischen den streikenden Beschäftigten und den vom Streik betroffenen Teilen der Bevölkerung schließen. Durch eine Ausrichtung auf Arbeitskämpfe lassen sich so neue Machthebel und breitere gesellschaftliche Unterstützung für ökologische Anliegen erschließen.
Wir müssen Streiks politisieren, um weitreichende Forderungen durchzusetzen
Gleichzeitig braucht es, wie eingangs skizziert, für eine Verkehrswende zusätzlich zu guten Arbeitsbedingungen weitere, umfangreiche Investitionen in den ÖPNV. Es geht also bei dem Schulterschluss von Klimabewegung und Beschäftigten im ÖPNV um mehr als nur Solidaritätsarbeit. Auch wollen wir nicht nur dort punktuell zusammenarbeiten, wo in der öffentlichen Daseinsvorsorge politische Forderungen und Tarifauseinandersetzungen zusammenkommen. Es geht darum, dass wir uns als Bewegung und Beschäftigte Streikauseinandersetzungen grundsätzlich als gemeinsames Machtmittel nutzbar machen. Wir müssen daher Wege finden, um Streiks zu politisieren und im nächsten Schritt (klima-)politische Fragen faktisch zum Gegenstand einer Tarifauseinandersetzung zu machen. Einen spannenden Impuls gibt uns hierfür das Konzept des »Bargaining for the Common Good« (zu dt.: Verhandeln für das öffentliche Gut). Besonders während der starken Lehrer:innenstreiks in den USA wurde dieses Konzept umgesetzt. Lehrer:innen stellten gemeinsam mit Eltern, Schüler:innen und beispielsweise mit migrantischen Organisationen Forderungen für die Tarifverhandlungen auf, welche teils weit über die eigenen Arbeitsbedingungen hinaus reichten (etwa die Einschränkung von rassistisch motivierten Kontrollen von Schüler:innen oder auch die schulbehördliche Regulierungen von Schulprivatisierungen). Hierüber gewannen sie ihre Bündnispartner:innen über die in Gewerkschaften gängige Solidaritätsarbeit hinaus. Stattdessen begriffen die Schüler:innen, Eltern und weitere Partner:innen die Streikauseinandersetzungen als ein zentrales Machtmittel in einem gemeinsamen Kampf. In der Verbindung aus Streikmacht und politischem Druck konnten so weitreichende Forderungen durchgesetzt werden, die eigentlich als nicht tarifierbar galten.
Machtaufbau durch Schluterschluss
Kombinieren Kolleg:innen in den Verkehrsbetrieben und Aktivist:innen in dieser Weise ihre Machtressourcen, können sie der Forderung nach sozial gerechtem Klimaschutz im Rahmen der anstehenden Tarifauseinandersetzungen zu neuer Durchschlagskraft verhelfen. Welches Bedrohungspotential auch von Seiten der Herrschenden in einer Politisierung von Streikbewegungen dieser Art gesehen wird, offenbart die Reaktion der Regierenden und Bosse auf den gemeinsamen (Klima-)Streik von Klimabewegung und Beschäftigten im ÖPNV am 3. März 2023: Der Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), Steffen Kampeter, sah sich anlässlich dieses Schulterschlusses genötigt, den gemeinsamen Streiktag öffentlich als »gefährliche Grenzüberschreitung« zu bezeichnen. Indem ver.di die Streiks im Rahmen der Tarifauseinandersetzung im öffentlichen Dienst mit den allgemeinpolitischen Anliegen der Klimabewegung verknüpfe, begebe sich die Gewerkschaft auf das Terrain des politischen Streiks. Auch wenn auf dem Weg zu einer klimapolitischen Streikbewegung noch viele Schritte zu gehen sind, zeigt diese Reaktion: Wir sind auf dem richtigen Weg.
Für zukünftige Bündnisse zwischen Klima- und Gewerkschaftsbewegung
Die Klimakrise wird zu einem Verteilungs- und Überlebenskampf der globalen Arbeiter:innenklasse. Vielerorts werden sich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten Konflikte um Nahrung, Ressourcen und Lebensraum zuspitzen. Wie diese Kämpfe ausgehen, entscheidet sich nicht im Moment ihres Ausbruchs. Ob eine selbstbewusste Arbeiter:innen- und Klimabewegung in der Lage sein wird, unsere Gesellschaft grundlegend zu verändern, ist auch eine Frage der gemeinsam gemachten Kampferfahrungen. Die Auseinandersetzung im Nahverkehr 2024 muss deshalb mehr sein als eine punktuelle Zusammenarbeit entlang einer einzelnen gemeinsamen Forderung. Davon ausgehend braucht es Kerne von Beschäftigten und Aktivist:innen, die bereit sind, die Erfahrung ihres gemeinsamen Machtpotentials in zukünftigen Kämpfen zu nutzen und zu erproben. Dafür kann die Zusammenarbeit mit den Beschäftigten im ÖPNV Strahlkraft für die Klima- und Gewerkschaftsbewegungen als Ganze entfalten – auf dem Weg zu einem Generalstreik fürs Klima. Mittelfristig können so beispielsweise auch gemeinsame Kämpfe von Automobilbeschäftigten und Aktivist:innen um eine klimagerechte Konversion entstehen. So können sich schrittweise Perspektiven entwickeln, auch über den Mobilitätssektor hinaus Druck von unten für gerechten Klimaschutz aufzubauen. Dafür werden wir die Erfahrung und das Selbstbewusstsein aus der gemeinsamen Auseinandersetzung mit den Kolleg:innen im Nahverkehr brauchen.
Zusammen können wir die Kämpfe der Zukunft gewinnen
Es liegt jetzt an uns als Klimaaktivist:innen, diesen Plan zu realisieren. Wir können gemeinsam mit den Beschäftigten im ÖPNV einen entscheidenden Schritt in der Zusammenarbeit machen, die Streiks im ÖPNV politisieren und Kerngruppen von Beschäftigten und Aktivist:innen mit Selbstbewusstsein herausbilden, die sich mit ihrer gemeinsamen Kampferfahrung und starken Machtmitteln daran machen, die Kämpfe um unsere Zukunft zu gewinnen. Das Gelegenheitsfenster dafür ist jetzt. Es wird sich nur nutzen lassen, wenn die linken Teile der Klimabewegung die Entscheidung treffen, diesen Weg gemeinsam einzuschlagen und eine wirkliche Streikmacht fürs Klima auch mittelfristig aufzubauen. Wir haben etwas zu gewinnen! Zeit, uns gemeinsam auf den Weg zu machen.
Angaben zu den Autor:innen: Ronja Mahler und Frieda Holm sind Klimaaktivistinnen und aktiv in der Kampagne #wirfahrenzusammen.
Schlagwörter: Gewerkschaft, Klimabewegung, Verkehrswende