Sie wünschten sich ein Zusammenleben ohne Besitz, Rang und materielle Not: US-amerikanische Siedler gründeten im 19. Jahrhundert an verschiedenen Orten Kommunen. Doch diese waren keineswegs nur Inseln der Glückseligkeit. Loren Balhorn hat für uns das Buch »Das kommunistische Amerika« gelesen
Rudolf Stumbergers Buch liest sich wie ein Reiseführer. Für »Das kommunistische Amerika« reiste der Journalist durch die Vereinigten Staaten und besuchte die Orte von acht ehemaligen »utopischen Kommunen« des 19. Jahrhunderts. Er stellt ihren Aufstieg und Niedergang dar und beschreibt, was von ihnen übriggeblieben ist: Museen, Pensionen und Aktiengesellschaften. Auf diese Weise möchte er »die Geschichte dieses anderen Amerikas« vor dem Vergessen bewahren.
Verhütungspflicht für Männer
Einer der interessantesten Fälle sind die »Shakers«. Diese wurden nach den Schüttelbewegungen benannt, die sie beim kollektiven Gebet machten. Sie lehnten jede Form von Liebe und sexuellem Kontakt ab (weshalb sie vermutlich irgendwann ausstarben). Im Gegensatz dazu handelte es sich bei den »Perfektionisten« um eine Kommune, in der alle Gemeindemitglieder in einem riesigen Haus zusammenwohnten und regelmäßig die Sexualpartner wechselten. Ihr Ziel war es, das Ego des Individuums und die individuelle Liebe in eine Art gemeinschaftlicher Gruppenpartnerschaft aufzulösen.
Manche ihrer Praktiken wirken heute durchaus fortschrittlich, wie die Etablierung einer Verhütungspflicht für die männlichen Mitglieder der Kommune, die zeitgenössischen Berichten zufolge die Freude der weiblichen Hälfte der Kommune an Sex erheblich steigerte. Gleichzeitig gab es jedoch eine ritualisierte Form der Vergewaltigung, denn der Gründer John Humphrey Noyes behielt sich das Recht vor, jedes Mädchen der Kommune zu entjungfern. Daher ist es etwas unglücklich, wenn Stumberger die Perfektionisten als »Sex-Kolonie« bezeichnet. Denn sie hatten genauso viel mit sexueller Gewalt und Kontrolle in einer männlich dominierten Gesellschaft zu tun wie mit dem sexuallibertären Utopismus, den der Autor auf sie zu projizieren versucht.
Alles andere als kommunistisch
So spannend solche mikrosoziologischen Fundstücke sein mögen, muss man doch bezweifeln, ob die Bezeichnung »kommunistisch« der Natur der vorgestellten Kommunen gerecht wird. Stumberger stützt sich auf den Journalisten Charles Nordhoff. Der hatte im Jahr 1875 einen Bericht über diese Kommunen unter dem Titel »The Communistic Societies of the United States« (»Die kommunistischen Gesellschaften der USA«) veröffentlicht. Doch Stumberger vermutet selbst, dass sie eher eine Art des »utopischen Sozialismus« waren, den Marx und Engels vehement kritisierten.
Er verweist immer wieder auf den scheinbaren Widerspruch, dass diese egalitären, »kommunistischen« Gemeinden im kapitalistischen Wettbewerb oft extrem erfolgreich waren. Doch eigentlich ist es wenig erstaunlich, dass streng hierarchische Arbeitskollektive, die keine Löhne auszahlten und auf der Autorität eines charismatischen Führers und einer strikten Arbeitsethik basierten, auf dem Markt besonders konkurrenzfähig waren. Wenn die Ware Arbeit durch ideologische Verblendung künstlich billig gehalten wird, lässt sich die Profitrate durchaus steigern.
Enteignung, Vertreibung und Ausrottung
Tatsächlich basierten diese Kolonien auf einer der effektivsten Methoden zur kurzfristigen Profitsteigerung überhaupt – nämlich der Enteignung, Vertreibung und Ausrottung der indigenen Bevölkerung. Diese Tatsache kommt in dem Buch leider viel zu kurz. Dennoch wäre es mehr als 150 Jahre später zu einfach, die Kommunen aufgrund ihrer Verstrickung in die Kolonisierung Nordamerikas als besonders patriarchal oder rassistisch zu verteufeln. Denn viele ihrer Angehörigen strebten wirklich nach einem freien Zusammenleben ohne Besitz, Rang und materielle Not. Doch die beschränkte Reichweite dieser Experimente und auch die Gräueltaten, die in ihrem Namen verübt wurden, machen es schwierig, von einem frühen, US-amerikanischen Kommunismus zu sprechen.
Dennoch ist Stumbergers Buch eine interessante und etwas kuriose Lektüre über oftmals surreale Gepflogenheiten. Es erinnert daran, wie widersprüchlich, verworren und vielschichtig die menschliche Geschichte oft ist.
Das Buch:
Das kommunistische Amerika. Auf den Spuren utopischer Kommunen in den USA Mandelbaum
Wien 2015
240 Seiten
19,90 Euro
Foto: Wikipedia
Schlagwörter: Buch, Bücher, Buchrezension, indigene, Kommune, Kommunismus, Kultur, Rezension, USA