In der vergangenen Ausgabe beschrieb unser Autor, wie gesellschaftliche Entwicklungen neue Möglichkeiten und Grenzen für Kunst bestimmen. Im letzten Teil der Serie zeigt er anhand des Beispiels Film, welche materiellen Schranken uns den Zugang zu Kunst verwehren. Doch sie sind nicht unüberwindbar. Von Phil Butland
Eine der ideologischen Grundlagen im Kapitalismus ist die Behauptung, alle hätten die gleichen Chancen. Auch die Diskriminierung von Frauen und nichtweißen Personen sei heutzutage überwunden. Wer keinen Erfolg hat, sei demnach also unbegabt oder faul.
Diese Ideologie erstreckt sich auch auf die Kunst. Angeblich beweist die Vergabe des Oscars für die beste Regie an Kathryn Bigelow (2009) und an Steve McQueen (2014), dass Frauen und Schwarze heute im Filmgeschäft gleichgestellt seien. Aber trotz des Erfolgs dieser zwei Personen sind nur sieben Prozent der Regieführenden in Hollywood schwarz und weniger als fünf Prozent weiblich. Die diesjährigen Oscarnominierungen sind so deutlich von weißen Männern dominiert wie seit Jahrzehnten nicht mehr. In allen Bereichen der Kunst geht der Trend eher in Richtung Ungleichheit. Popmusik etwa erscheint als ein Feld, das offen für alle ist. Aber eine Studie aus dem Jahr 2011 ergab, dass die Mehrheit britischer Musikerinnen und Musiker Privatschulen besucht hat. Aufgrund von hohen Studiengebühren, Niedriglöhnen und Zwangsmaßnahmen für Arbeitslose fehlen Menschen ohne Privatvermögen die Zeit und die Mittel für ihre künstlerische Entfaltung.
In der Filmindustrie geht die Tendenz zum Konservatismus
Diese Entwicklung zeigt sich auch beim Film. In den 1980er Jahren hat die Regierung Reagan in den USA große Filminvestoren durch steuerfreie Subventionen noch weiter begünstigt. Disney konnte seinen Marktanteil in diesem Jahrzehnt verfünffachen. Gleichzeitig sanken die Löhne in der Filmindustrie um 17 Prozent.
Nicht nur in den USA wird die Filmindustrie mit Steuerersparnissen geködert. In Großbritannien und Irland werden nicht rückzahlbare Darlehen vergeben, wenn man in den jeweiligen Ländern dreht. Osteuropäische Staaten wie Rumänien, Bulgarien und Ungarn bieten zusätzlich infrastrukturelle Anreize, etwa durch technisch perfekte Studioeinrichtungen. Auch Deutschland, Italien und Frankreich gewähren steigende finanzielle Zuschüsse.
Die neuen Finanzierungsmodelle haben Auswirkungen auf die Kunst. Die Kosten für Filmproduktionen steigen ins Unermessliche. Unter Berücksichtigung der Inflation wurden 44 der 50 teuersten Filme aller Zeiten im letzten Jahrzehnt gedreht. Nur einer wurde vor 1995 produziert.
Das moderne Hollywood erreichte seinen bisherigen Höhepunkt in den Filmen von Michael Bay. Seine Filmreihe »Transformers« ist ein sinnfreies Feuerwerk an Spezialeffekten, das hauptsächlich der Vermarktung im Film gezeigter Produkte dient. Während es immer schwieriger wird, Mittel für innovative Filme zu bekommen, macht sich Konservatismus bezahlt. 31 der 50 teuersten Filme aller Zeiten sind Fortsetzungsfilme. Weitere sechs sind Neuverfilmungen oder Kinoadaptationen von Fernsehserien oder sogar eines Brettspiels (»Battleship«). Drei Viertel der erfolgreichsten Filme sind nur ein Neuaufguss.
Film ist von Vermarktung abhängiger denn je
Oft heißt es, die sinkenden Kosten für technische Ausrüstung bedeuteten für Filmschaffende mehr Unabhängigkeit von Hollywood. Das meistzitierte Beispiel dafür ist Robert Rodriguez‘ Film »El Mariachi«, der nur 7000 Dollar gekostet haben soll.
Doch so einfach ist es nicht. Die Version des Films, die dann im Kino lief, hat viel mehr gekostet. Der Columbia Filmverlag gab 200.000 Dollar zusätzlich für einen neuen Schnitt und Millionen für das Marketing aus. Die Botschaft? »Hier ist der 7.000-Dollar-Film!« Das konnte nur funktionieren, weil der Markt eben nicht mit Filmen überschwemmt ist, die mit geringen Kosten produziert wurden. Es wäre nicht profitabel, ein Projekt wie »El Mariachi« zu wiederholen. Übrigens hatte Rodriguez‘ neuester Film, »Sin City 2: A Dame to Kill For«, ein Budget von 65 Millionen Dollar.
In Prinzip könnte jede und jeder mit billiger Technik einen Film drehen, aber um die Kosten wieder herein zu bekommen, muss man ein Publikum erreichen. Wegen der Konzentration des Kapitals und der Umorientierung staatlicher Förderung ist Film abhängiger als jemals zuvor von seiner Vermarktung, also von der Hollywoodindustrie.
Im Kapitalismus ist Film vor allem eine Industrie. Den großen Konzernen im Filmgeschäft geht es darum, Profit zu akkumulieren. Nationalstaaten sehen die Ansiedlung von Filmindustrie als Vorteil in der internationalen Wirtschaftskonkurrenz. Die Filmkunst wird diesen Zielen untergeordnet.
Blockbuster mit Produktionskosten von 200 Millionen Euro sind zwar risikoreich, bieten aber hohe Kapitalrenditen. »Avatar – Aufbruch nach Pandora« kostete 237 Millionen Dollar, spielte aber 2.788 Millionen Dollar ein und brachte damit eine Kapitalrendite von sagenhaften 1100 Prozent. Die rekordverdächtigen 150 Millionen Euro Marketingbudget sind ein Ausdruck dafür, dass der Konkurrenzkampf härter geworden ist.
Wie jede Industrie ist die Filmindustrie stetigem Wandel unterworfen. Die einschneidendste Veränderung für Hollywood entstand durch die Entwicklung einer neuen Technik: dem Aufstieg des Fernsehens nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Studios in Hollywood reagierten darauf, indem sie zunehmend auf Blockbuster, Spezialeffekte und neue Techniken wie 3D setzten. Zudem haben die Eintrittspreise sich in den letzten 20 Jahren fast verdoppelt.
Wie der Roman in der Frühzeit des Kapitalismus aufkam, so ist der Film das Kind des Industriekapitalismus. Die ersten Filme wurden Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich gedreht. Als der Kapitalismus sich über die Welt ausbreitete, entstanden auch große Filmindustrien wie Bollywood in Bombay (jetzt Mumbai) und Nollywood in Nigeria.
Film entspricht nicht dem Klischee vom einzelnen künstlerischen Genie; er ist immer ein kollektiver Prozess. Im Filmabspann wird eine lange Liste von Namen gezeigt, die alle ihren künstlerischen Beitrag zu dem Film geleistet haben.
Im Kapitalismus ist diese Arbeit hierarchisch organisiert und prekär. Viele Filmschaffende pendeln zwischen Arbeitslosigkeit und immer schlechter bezahlter Arbeit. Kameraleute in Hollywood verdienen teilweise weniger als 25 Dollar pro Stunde – wenn sie Arbeit finden. Für Schauspielerinnen und Schauspieler ist das Leben noch instabiler: Die Arbeitslosenrate liegt bei 90 Prozent und fast alle sind auf Nebenjobs angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Auch widerständige Filmschaffende haben Zugang – sofern sie Profit generieren
Die kapitalistische Gesellschaft mag den Zugang zu Kunst erschweren, trotzdem sind Innovationen im Film möglich. In einer Klassengesellschaft gibt es immer eine Spannung zwischen den herrschenden Ideen (laut Marx die »Ideen der herrschenden Klasse«) und unserer Alltagserfahrung. Es ist dieser Widerspruch, von dem ausgehend Künstlerinnen und Künstler anspruchsvolle Kunst produzieren. Das gilt auch für den Film.
»The Lego Movie« scheint Hollywoods schlimmste Auswüchse zu verkörpern. Der Held ist eine Lego-Bauarbeiterfigur. Die Presseerklärung der Lego GmbH verkündete: »Inspiriert von den zentralen Szenen im Film und mit Lego Minifiguren in der Hauptrolle, wird eine Sammlung von 17 Lego Baukästen die gesamte THE LEGO MOVIE Aktion ins Spielzimmer liefern.«
So weit, so schrecklich. Aber der Schurke des Films heißt Lord Business und wird von einer Regenbogenkoalition gestürzt. Die Regisseure Christopher Miller und Phil Lord wollten nach eigener Aussage »einen anti-totalitaristischen Film für Jugendliche« machen. Die Webseite für Filmkritik Vulture nannte den Film »faktisch kommunistisch«.
»The Lego Movie« ist nicht sozialistisch – Miller und Lord sind eher libertär und stolz darauf, dass ihre politischen Gegner sowohl links als auch rechts von ihnen stehen. Das Beispiel zeigt jedoch, dass Kapitalismus so profitorientiert ist, dass auch widerständige Filmschaffende Zugang zur Filmindustrie haben, wenn sie genügend zahlungswilliges Publikum anziehen.
»Still The Enemy Within«, ein bewegender Dokumentarfilm über den britischen Streik der Bergleute von 1984/1985, wurde nicht durch Hollywood-Millionen finanziert, sondern durch ein Crowdfunding-Projekt (eine Spendensammlung), in dem 80.000 Pfund von Gewerkschaften und Aktivistinnen und Aktivisten gesammelt wurden. Weil staatliche Filmförderung Kunst und Kultur nicht um ihrer selbst willen unterstützt, sondern um dem eigenen Land Vorteile in der kapitalistischen Standortkonkurrenz zu verschaffen, sind innovative Projekte zunehmend auf solche Finanzierungsmodelle angewiesen. Es ist eine hervorragende Dokumentation geworden, insofern sind die Geldspenden gut angelegt. Dennoch ist es ein Irrglaube, alternative Finanzierung würde Künstlerinnen und Künstler von den Zwängen kapitalistischer Marktlogik befreien. Sinead Kirwan, Produzentin von »Still The Enemy Within«, bemerkte: »Weil klassische Finanzierung zunehmend gekürzt wird, wenden sich immer mehr etablierte Filmschaffende an Crowdfunding, was unbekanntere ausgrenzen kann. Du musst auch einige persönliche Ressourcen haben, bevor du mit Crowdfunding anfängst, weil Geldsammeln ein Vollzeitjob ist.«
Das letzte Beispiel ist viel eindeutiger. Alle kennen die Schlüsselszene aus »Spartacus«: Der Sklavenrebell Spartacus soll mit anderen Aufständischen gekreuzigt werden. Römische Soldaten sagen, sie werden alle anderen verschonen, wenn sie Spartacus verraten. Erst ruft einer, dann alle seine Leidensgenossen »Ich bin Spartacus«, um ihre Solidarität mit dem Anführer der Revolte zu beweisen.
Weniger bekannt ist die politische Vorgeschichte des Films. Das Drehbuch zu »Spartacus« wurde von Dalton Trumbo geschrieben, einem der »Hollywood Ten«. Das waren zehn Drehbuchautoren, die während der Kommunistenjagd des Senators Joseph McCarthy faktisch Berufsverbot hatten. Sie mussten entweder Pseudonyme benutzen oder Strohmänner beschäftigen, um weiter arbeiten zu können. Doch das Berufsverbot betraf auch andere Filmarbeiterinnen und -arbeiter.
Sie hatten kaum eine Möglichkeit, das Verbot zu umgehen und waren zur Arbeitslosigkeit verurteilt – bis zum Dreh von »Spartacus«. Für diesen Film wurden bewusst Technikerinnen und Techniker von McCarthys schwarzer Liste eingestellt und ihre Namen im Abspann gezeigt. McCarthy hatte die Wahl, entweder alle zu verklagen oder aufzugeben. Letztendlich hat die Solidarität gesiegt.
»Spartacus«, »The Lego Movie« und »Still The Enemy Within« haben alle auf ihre Weise einen wichtigen Beitrag für progressiven und anspruchsvollen Film geleistet. Doch nur »Spartacus« konnte die Kräfteverhältnisse in der Filmindustrie verschieben. Das hat weniger mit der Qualität der Filme zu tun als mit den gesellschaftlichen Bedingungen.
»Spartacus« wurde im Jahr 1960 gedreht. Martin Luther Kings Bürgerrechtsbewegung war auf dem Vormarsch und viele Filmschaffende waren Teil dieser Bewegung. Sie sahen eine natürliche Verbindung zwischen den drei Kämpfen für Gerechtigkeit, für bessere Arbeitsbedingungen und für bessere Kunst.
Die Frage, wer Zugang zu Kunst hat, können wir nicht von einer anderen Frage abkoppeln: Wer hat die Macht in dieser Gesellschaft? Der Kapitalismus erlaubt uns nicht, unser volles Potenzial auszuschöpfen. Aber in unserem Streben, dieses Potenzial zu verwirklichen, können wir sowohl für eine bessere Gesellschaft als auch für bessere Kunst kämpfen.
Foto: Profound Whatever
Schlagwörter: Antikapitalismus, film, Kapitalismus, Kultur, Kunst