Wie sah der Alltag in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten aus? Der französische Sozialist David Rousset berichtet vom Abgrund des deutschen KZ-Universums. Von Christoph Jünke
Ein dreiviertel Jahrhundert nach dem Weltkriegsende und der Befreiung vom nationalsozialistischen Herrschaftssystem hat der zum Suhrkamp-Konzern gehörende Jüdische Verlag ein bemerkenswertes Buch nun endlich auch auf Deutsch veröffentlicht.
Am beeindruckendsten an diesem 1945 von dem französischen Linkssozialisten David Rousset (1912-1997) unmittelbar nach seiner eigenen Befreiung geschriebenen, essayistischen Bericht über seine Erlebnisse und Erfahrungen im KZ Buchenwald ist seine stilistische Form. Der Autor arbeitet mit einer dezent und unaufgeregt daherkommenden Sprache, die dem zu erzählenden Schrecken in abgetönten und gelegentlich fast schon zarten Wendungen entgegentritt und gleichermaßen souveräne Distanz wie tiefe Ergriffenheit ausdrückt. Einer klassischen Filmkameraführung gleich nähert sich Rousset dem vielgestaltigen deutschen Lagersystem und jenem Konzentrationslager Buchenwald, in das er selbst als ein im Herbst 1943 festgenommener trotzkistischer Resistance-Kämpfer deportiert wurde. Er beschreibt die Prozeduren der Aufnahme und des auf sie folgenden Alltagslebens, die ganze brutale Gewalt und Ideologie der Entmenschlichung, die das Lagerleben durchzieht: »Die langen, stillen Reihen der Erhängten lösen nur mäßige Furcht aus. Die auf Dauer gestellte, zur Daseinsform gemachte Folter unterhält hingegen eine Angst von ganz anderer Kraft.«
Gewalt, Gier und Hass im KZ-Universum
Schnell versteht er an diesem Ort, »dass wir um jeden Preis gegen den allmählichen Zerfall der Ideen und alles dessen kämpfen mussten, was dem Leben einen Sinn gibt«, denn »Macht ist das Einzige, was zählt. Sie basiert auf physischer Kraft oder Hinterlist.« Macht und Herrschaft werden in diesem KZ-Universum repräsentiert vor allem vom Apparat der SS-Aufseher mit ihrem besinnungslosen Hass und ihrem wollüstigen Genuss, die Körper der von ihnen bewachten »Untermenschen« zugrunde zu richten – einem menschenverachtenden und menschenvernichtenden Hass, der sich für Rousset nicht aus einem deutschen Charakter speist, sondern aus den Ressentiments einer spezifischen Gesellschaftsklasse, »aus all den gescheiterten armseligen Ambitionen, all dem Neid und all der Verzweiflung, die der spektakuläre Zusammenbruch der Mittelschicht im Deutschland der Zwischenkriegszeit hervorgebracht hat. Wer behauptet, hier zeigten sich die Atavismen einer Rasse, spiegelt nur die Mentalität der SS.« Macht wird in diesem Lagersystem aber auch repräsentiert durch eine von der SS zwar beaufsichtigte, aber nur indirekt organisierte, in gewissem Sinne eigenständige innere Häftlingshierarchie. Mit ihren auf eigenen Entscheidungsbefugnissen und auf der Schwarzhandelskorruption beruhenden (und eindringlich dargestellten) Privilegien ähnelt diese Bürokratie aus Häftlingen mehr einer Häftlingsaristokratie, die sich selbst wiederum vor allem nach nationalen, politischen und sozialen Kriterien organisiert.
Roussets Bericht verdeutlicht diese – O-Ton – »Celine’sche Welt voller kafkaesker Obsessionen« in dem von Russen und Polen, von Griechen und Tschechen, von Dänen, Franzosen und vielen anderen Nationen und Ethnien bevölkerten KZ-Universum. Und er beschreibt die gnadenlosen, auf Korruption und Gewalt, Gier und Hass aufbauenden Überlebensstrategien der Insassen und Häftlingsaristokraten – er nennt sie »das neue Gesicht des Klassenkampfes«. Doch immer vermeidet sein Sprachstil dabei den allzu intimen und allzu sensationslüsternen Blick heutigerer Kameras – dass hier auch viele »Prominente« auftauchen, erfährt man erst durch das wissenschaftliche Nachwort. Rousset erinnert nicht nur, aber vor allem an jene Insassen, die versuchten, sich den Umständen entsprechend aufrecht und anständig zu verhalten. Einzelnen deutschen Kommunisten (die unter den politischen Gefangenen die Mehrheit bildeten) setzt er hier geradezu ein kleines Denkmal: »Ich habe diese Männer ins Herz geschlossen«, schreibt der antistalinistische Kommunismuskritiker, »trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Schwächen und Makel, die sie das ganze Elend in einem menschlichen Licht betrachten ließen, denn durch sie habe ich den Menschen selbst in all seiner Hässlichkeit und Größe entdeckt, den Menschen, der an sich wertvoll ist, unabhängig von allen Überzeugungen und Sitten. Emil, Walter, welche einzigartige Lektion war mir euer Leben, welche Schule echter Stärke im Angesicht all der Katastrophen.«
Kein Grund zur pessimistischen Verzweiflung
Nach der ersehnten Befreiung wollten die deutschen Kommunisten, wie er darstellt, ein Tribunal abhalten über das eigene Verhalten aller im KZ-Universum inhaftierten deutschen und ausländischen Kommunisten (denn nicht alle haben sich ihrer kommunistischen Überzeugung entsprechend verhalten) – nicht als verspätete Abrechnung, sondern als Rechenschaftslegung für einen wirklichen humanistischen Neuanfang. Umgesetzt wurde dieser beeindruckende Plan aber nicht mehr, denn die Verwüstung am Ende von Krieg und Faschismus war vollkommen: »Die Köpfe waren leer. Die so sehnlich erwartete und immer wieder in die Ferne gerückte revolutionäre Situation kam nie. Selbst als die Alliierten das gesamte System zum Einsturz gebracht hatten, kam sie nicht. Nur eine Art Leere. Eine totale Stille. (…) Die Konzentrationslager haben Deutschland seiner Substanz beraubt.«
Für Rousset jedoch war dies kein Grund zur pessimistischen Verzweiflung. Am Ende seines im August 1945 fertiggestellten Berichts formuliert er als spezifisch positive KZ-Erfahrung und trotz aller grausamen Zerstörung und Ernüchterung ein »dynamisches Bewusstwerden der Kraft und der Schönheit der schieren Tatsache, am Leben zu sein«, eine »faszinierende Entdeckung des Humors« und die »Entschlossenheit im Handeln und Klarheit im Urteil«. »Für manche war es die Bestätigung, für die meisten aber eine frappierende Entdeckung: Hinter den eingestürzten idealistischen Fassaden und Mythen, in der Nacktheit des KZ-Universums, wurde offensichtlich, dass die Lage des Menschen von ökonomischen und sozialen Strukturen abhängt, dass sein Verhalten auf realen materiellen Verhältnissen beruht. In letzter Konsequenz strebt diese Erkenntnis zur konkreten Aktion, im Wissen, wo die Schläge zu setzen sind, was man zerstören und wie man aufbauen muss.«
Totale Isolation auf der Linken
Wenn er in diesen letzten Absätzen einmal mehr jedwede nationalistische und ethnologische Schuldzuschreibung an »die Deutschen« zurückweist und vielmehr »die ökonomischen und sozialen Grundlagen des Kapitalismus und Imperialismus« überwunden haben möchte, haben wir es mit jenem damals weit verbreiteten und sich gerade politisierenden Geist eines sozialistischen Humanismus zu tun, den sich spätere Generationen angewöhnt haben zu belächeln. Mit einem ebenso völker- wie klassenübergreifenden radikalen Humanismus gedachte man, die nun am Boden liegende bürgerlich-kapitalistische Welt ebenso ökonomisch wie politisch und kulturell grundlegend demokratisieren zu können. Selbst Konservative und Liberale vertraten damals, in der Schlussphase des antifaschistischen Kampfes und in den unmittelbaren Nachkriegsjahren, eine mit den Methoden von Planung und Lenkung arbeitende, neue Form von Wirtschaftsdemokratie.
Und auch Rousset sollte bald schon in diesem Kampf eine prominente Rolle spielen, als er 1947/48 mit Jean-Paul Sartre das Rassemblement Démocratique Révolutionaire (RDR) gründete, eine linke Partei des »Dritten Weges«, die man als eine frühe Form dessen betrachten kann, was später die Neue Linke werden sollte. Schon wenige Jahre später jedoch wurden das RDR und andere »Dritte Wege« im aufziehenden Kalten Krieg wieder zerrieben. Und während sich Sartre daraufhin für viele Jahre zum Weggenossen der Kommunisten machen sollte, geriet Rousset in die totale Isolation auf der französischen Linken, weil er es zur gleichen Zeit wagte, seine Lagererfahrungen auf die sich gerade wieder stalinisierende Sowjetunion anzuwenden und deren Gulag-System einer scharfen publizistischen Kritik zu unterziehen…
Hoffnung auf Befreiung und Emanzipation
Es ist diese sozialistisch-humanistische Hoffnung auf Befreiung und Emanzipation, die in seinem geradezu links-existentialistischen KZ-Bericht eine tragende Rolle spielt. »Still« jedoch, wie Jeremy Adler in seinem Nachwort zum Buch schreibt, war diese Hoffnung nicht – wohl aber dezent. Auch sonst bietet das Nachwort zur deutschen Ausgabe zwar viele notwendige und nützliche Hinweise zu dem in deutschen Diskussionen ganz zu Unrecht ignorierten Autor und Werk und zur Einordnung desselben in die damalige und spätere Lagerliteratur, wird ihm aber nicht immer gerecht. Adler formuliert selbst, dass wir heute »einiges aus(blenden), was am Ende des Krieges erfolgte«, merkt aber nicht, wie stark er selbst Rousset auf seinen eigenen kleinen Horizont des Nachgeborenen reduziert und Unrecht tut, wenn er ihn zum »Pragmatiker« und »Demokraten« stempelt, gar zu einem »homo religiosus«, »für den sich die Welt in Gut und Böse teilt«.
Und obwohl er Rousset gleichzeitig gegen Vorwürfe in Schutz nimmt, er gehe hier zu wenig auf das spezifische Schicksal der Juden ein (Rousset widmete ihnen nur kurz darauf ein zweites Buch), behauptet Adler nichts desto trotz, dass es sein klassenkämpferischer Marxismus sei, der ihn »die eigentlich intendierten Opfer kaum wahr(nehmen)« ließ – ein typisches Missverständnis von Form und Anliegen dieses kleinen Büchleins. Auf der Ebene des Menschen als solchem, und auf dieser bewegt sich Rousset hier ebenso faktisch wie programmatisch, können die Juden (und die Nationalitäten) nur bedingt vorkommen, denn damit würde, wie Adler selbst betont, »die erzählerische Perspektive brechen, an der die Überzeugungskraft seines Berichts hängt«.
Christoph Jünke ist marxistischer Historiker und Vorsitzender der Leo-Kofler-Gesellschaft.
Das Buch:
David Rousset
Das KZ-Universum
Berlin 2020
Suhrkamp-Verlag/Jüdischer Verlag
141 Seiten
22 Euro
Weiterlesen:
Soeben erschienen: Bernd Hüttner/Christoph Jünke (Hrsg.)
Von den Chancen der Befreiung. Der 8. Mai 1945 und seine Folgen
Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS-Materialien Nr. 32)
Als pdf-download und kostenlos bestellbar auf www.rosalux.de
Schlagwörter: Antifaschismus, Bücher, Nationalsozialismus