Eine Berliner Band suchte in Mali nach legendären Musikern, um zusammen ein Album aufzunehmen. Ein Interview mit Markus Schmidt, der den Roadtrip filmte
marx21: Markus, Du hast das Omniversal Earkestra mit einem Filmteam nach Mali begleitet. Was ist das Omniversal Earkestra?
Markus Schmidt: Das ist ein Bigband-Projekt. Die spielen seit 2011 jeden Montag in Berliner Underground-Clubs. Im Moment natürlich nicht. In der vollen Besetzung sind es 12 Bläser plus Bass und Schlagzeug. Als Gage gibt’s selten Geld, sondern Freibier. Gespielt werden eigene Kompositionen, aber auch Arrangements, das heißt, man passt fremde Musikstücke an die eigene Instrumentenbesetzung an.
Warum das Bigband-Format?
Alle sind richtige Vollblut-Musiker, also Leute, die sonst in verschiedenen Band-Projekten oder z.B. in der Oper spielen. In diesem Bigband-Format können sie ihre Lieblingsmusik selbst arrangieren. Mich hat von Anfang an fasziniert, dass es dabei keinen Leader gibt. Sonst gibt es in Bigbands immer einen Leader, aber hier gibt es keine Hierarchie.
Bigband ohne Leader
Wie kann ich mir das vorstellen?
Sonst ist es im Jazz oft so, dass erstmal das Thema kommt und dann improvisiert jemand, während die Band die aufgeschriebenen Teile des Arrangements weiterspielt. Im Earkestra improvisiert die Band auch die Backings, also die Teile der Begleitung. Zum Beispiel nimmt sich ein Saxofonist einen Teil aus dem Arrangement, improvisiert einen Teil der Backings, und andere Instrumente setzen irgendwelche Harmonien darauf. Das besondere am Earkestra ist, dass es kein Harmonieinstrument wie Gitarre oder Klavier gibt. Akkorde entstehen nur durch Zusammenspiel aller. Ich denke manchmal, das ist vielleicht ein Modell, wie man auch gesellschaftlich miteinander umgehen kann.
Wie meinst Du das?
Es gibt zwar äußere Regeln wie Harmonie und Beat, aber ansonsten läuft es aufgrund von Absprachen mit den direkten Nachbarn. Das ist eine Art Schwarm-Intelligenz. Dieses Verständnis untereinander hat mich begeistert.
Welche Verbindung hast Du zum Omniversal Earkestra?
Ich bin als Jazz-Liebhaber zu den Konzerten gegangen. Irgendwann haben Leute angefangen, vor den Auftritten und in den Pausen Platten aufzulegen. Da brachte irgendwann jemand Platten aus Mali aus den 1960er und -70er Jahren mit. Wir haben da viele Fachsimpeleien ausgetauscht, über bestimmte Platten und Bands aus der Zeit.
Musik aus Mali
Wie kommt man in Berlin auf Musik aus Mali? Musiker aus Afrika genießen ja selten Berühmtheit. Man kennt vielleicht noch Fela Kuti aus Nigeria, aber dann hört es schnell auf.
Das ist nicht zwingend, das stimmt. Es gibt zum Beispiel einen Trompeter namens Tidiane Koné, der nach dem Militärputsch in Mali in den 1970ern bald nach Lagos gekommen ist. Der hat mit Fela Kuti gespielt und für ihn arrangiert. Und wenn man dann ein Plattencover von Fela Kuti in der Hand hat, auf dem Tidiane Koné steht, fragt man sich eben, was der sonst noch gemacht hat. So sind wir auf Mali gekommen. Koné hatte vorher noch ein unglaublich grooviges Afrobeat-Projekt in Cotonou/Benin. Solche Platten haben wir viel gehört.
Wie kam es vom Auflegen zur Zusammenarbeit mit Musikern?
Auf Umwegen. Ich habe 2016 den Film »Mali Blues« geschnitten, eine ganz andere Musikrichtung. Als wir diesen Film fertig hatten, gab es eine Premiere in Berlin, wo die Musiker aus dem Film mal fünf Minuten spielen durften. Ich dachte mir, das kann ja wohl nicht angehen. Wenn die schon hier sind, müssen sie auch richtig auftreten. Dann habe ich sie mit dem Earkestra zusammengebracht und heraus kam ein unglaublich geiles Konzert. Das war der allererste Kontakt mit Musikern aus Mali.
Aber auf dem Album Le Mali 70 spielen jetzt ganz andere Leute.
Richtig. Ich war danach noch ein zweites Mal in Mali, als Tonmann für einen anderen Film und habe in den Pausen nach den alten Platten gesucht, die hier so schwer zu finden sind. In Bamako gibt es einen Laden, dessen Geschäftsmodell darin besteht, Vinylplatten aufzunehmen und die Kassetten zu verkaufen. Früher auf Kassette, heute kommt man da mit seiner SD-Karte an. Pure Piraterie natürlich, aber die haben alles und kennen sich total aus. Da habe ich megabyteweise Musik beschafft und als ich zurückgekommen bin, war ich plötzlich der König, weil ich von den ganzen Stücken Originalaufnahmen auf dem Server liegen hatte. Das haben wir gehört, und die Musiker haben angefangen, Arrangements fürs Earkestra zu schreiben und die Stücke live zu spielen.
Reise nach Bamako
Wie ist die Idee entstanden, mit dem Omniversal Earkestra nach Mali zu fahren und dort mit den Musikern aus den 1960er und -70er Jahren ihre Musik neu aufzunehmen?
Ich fand es immer krass, dass das Earkestra überhaupt kein Geld verdient. Zugleich hat es mich geärgert, dass es für sie unmöglich ist, mal woanders zu spielen, weil es abartig viel Geld kostet, 14 Leute durch die Gegend zu schaffen. Heutzutage kann man mit Musik nur Geld verdienen, indem man live spielt. So ein Programm braucht aber irgendeine Story, um eine Chance auf dem Markt zu haben. Die Story von Le Mali 70 ist, an die Quellen der malischen Musik zu reisen. Um diese Story zu erzählen, brauchten wir den Film. Also musste es ein Hybrid-Projekt werden. Dafür Geld zu bekommen, hat ewig gedauert. Im Endeffekt haben wir das Geld für eine Reise mit Plattenaufnahme 2019 über ein Projekt der Kulturstiftung des Bundes namens TURN bekommen.
Was ist an der Musik aus Mali anders als zum Beispiel an der aus Nigeria aus der gleichen Zeit?
Mali war früher ein riesiges Reich in Westafrika, das bis nach Ghana reichte. Im 14. Jahrhundert kam der reichste Mann der Welt aus Timbuktu. Umgerechnet wäre er heute reicher als Bill Gates. Die Kernkultur hieß wie die Sprache: Mandingue. Darauf geht viel Musik und insbesondere der Beat zurück. Mit der Sklaverei gelangten diese Elemente nach Amerika und auch nach Kuba. Deswegen gibt es eine enge Beziehung zwischen malischen und kubanischen Beats. Das ist ein Unterschied zu dem Afrobeat, den zum Beispiel Fela Kuti gespielt hat, der in London gelebt hat und eher von europäischer und nordamerikanischer Musik beeinflusst war und sie dann mit den Yoruba-Traditionen aus Nigeria gemischt hat. Ich will hier nichts bewerten, aber mein Eindruck ist, dass die Mandingue-Musik vom Beat her vielfältiger und komplexer ist als die Yoruba-Traditionen. Aus Mali kommen ja auch Instrumente wie die Kora oder die N’goni, Vorläufer der Gitarre. Aber vielleicht bin ich da auch einfach nur befangen, nach unserem Trip durch Mali.
Mali und Kuba
Wie hat sich die Beziehung zwischen malischen und kubanischen Beats weiterentwickelt?
Nach der Unabhängigkeit 1960 hatte Mali einen sozialistischen Präsidenten, Modibo Keita. Dieser hatte Beziehungen zu Kuba aufgenommen. Es gibt Bilder von Che Guevara auf Staatsbesuch in Mali. Es gab nicht nur klassische Entwicklungshilfe aus Kuba, sondern auch Austausch von Musik und Instrumenten. Wir haben 2019 zum Beispiel Massamou Wele Diallo getroffen, der seine komplette Musikausbildung in Kuba gemacht hat. Der erzählt Stories im reinsten Kubanisch über seine sieben Jahre als Musiker in Kuba. Elhaj Mahalmadane von Le Mystère Jazz de Tombouctou hat uns erzählt, dass kubanische Ausbilder ihnen die Blasinstrumente beigebracht haben.
Die Blasinstrumente waren nichts originär Malisches an der Musik?
Nein, die waren neu. Klar, während der Kolonialzeit haben die Franzosen malische Trompeter ausgebildet, um zum Appell zu rufen. Da haben einige Malier auch das Spielen gelernt. Deren Kinder haben das von den Vätern übernommen, und nach der Unabhängigkeit die Songs, die im Radio liefen, mitgespielt. Damals war kubanische Musik besonders angesagt. Insgesamt ist durch den Reimport der Beats in Verbindung mit den Bläsern eine ganz besondere Rückkopplung entstanden. Das ist das Interessante an diesem Seitenarm der malischen Musik: eine Erneuerung ihrer eigenen Tradition. Ich habe bei den Menschen in Mali immer einen besondereren Stolz darauf gespürt – wie auch insgesamt die Mentalität in Mali auf Werten wie Würde und Respekt basiert.
Was meinst Du damit?
Es bettelt dich zum Beispiel kaum jemand an. Das ist für die Menschen in Mali unter ihrer Würde.
Tradition und Moderne
In dem begleitenden Film »Berlin Bamako Allstars« fragt der Bariton-Saxofonist Franz Stahl den Taxifahrer nach seinem Einkommen. Umgerechnet vier bis fünf Euro am Tag. Wie gehen die Menschen mit dieser Armut denn um?
Auf jeden Fall nicht so, dass Du als Weißnase grundsätzlich das Doppelte bezahlen musst. Es gab noch einen anderen Taxifahrer, unseren Lieblings-Chauffeur. Der ist selbst Saxofonist und kannte die ganzen alten Stücke auswendig. Seinem Saxophon fehlten zwar ein paar Klappen – so wie seinem ollen 123er Benz –, die hat er einfach mit Stöckchen zugedrückt. Bestimmte Töne konnte er nicht spielen. Aber er hat uns trotzdem die Bläsersatze vorgespielt. Der war drin in seiner Musikkultur und hat das in gewisser Weise als Reichtum empfunden. Manche Musiker können noch das Dorf lokalisieren, aus dem ein Beat ursprünglich kommt. Mit den Bläsern haben diese Bands die Musik dann urbanisiert.
Inwiefern?
Cheick Tidiane Seck, der Keyboarder der Railband, erzählte uns, dass nahezu alle Stücke auf ganz alten traditionellen Liedern basieren. Zugleich haben die Musiker damals viel Radio gehört und wurden beeinflusst von Konzerten von Louis Armstrong und Miles Davis, wie auch von kubanischem Zeugs. Dann haben sie die alten Stücke urbanisiert und Bläsersätze dazu geschrieben. Zum Beispiel das Stück »Batoumanbe« der Super Biton de Segou basiert auf einem uralten Beat von Mieruba, einem Sänger, der nördlich von Segou lebte. Einer der Haupt-Arrangeure der Super Biton, Karamoko Niang, hat den Grundstein gelegt durch Adaptionen solcher traditionellen Stücke. Dieses Stück »Batoumanbe« hat uns umgehauen, das klingt in der Interpretation der Bitons ja unglaublich kubanisch. Benjamin Koenig hat dann daraus wiederum ein orchestrales Arrangement geschrieben für dieses Projekt.
In einer Filmszene im Studio streiten sich der Tenorsaxofonist Georg Pfister und Cheick Tidiane Seck um den richtigen Beat. Was bedeutet Dir diese Szene?
Da geht es genau um den erwähnten Stolz. In dem Teaser zum Film ist ein Ausschnitt davon zu sehen: Schorsch hatte das Stück bereits in Berlin für das Earkestra arrangiert. Da er lange in Kuba lebte und dort auch Musik machte, hat er dem Stück seine kubanische Interpretation verpasst. Daher hat er in sein Arrangement eine kubanische Clave eingebaut.
Was ist eine Clave?
Das ist ein strukturelles Grundelement des Beats, das meist über zwei Takte geht. Ursprünglich wird das mit zwei Holzsticks gespielt: Tack Tack, Da Tack Tack. Oder eben umgekehrt. Im Endeffekt geht diese Diskussion darum, welcher der beiden Takte der erste ist, womit also das Muster anfängt. Cheick hat darauf bestanden, dass die Kubaner es falsch machen, dass also die malische Version die richtige ist. Es gibt in Westafrika einige Bands, die kubanische Musik direkt nachspielen, das Orchestre Baobab aus Senegal oder die Maravillas de Mali zum Beispiel, die singen sogar auf kubanischem Spanisch. Aber nicht diese malischen Musiker, mit denen wir Musik machten, die bestehen auf den malischen Traditionen. Cheick und Schorsch sind beide solche Dickköpfe, dass ich irgendwann dachte, das wird nichts mehr, die werden das Stück am Ende nicht einspielen zusammen. Gleichzeitig habe ich mich diebisch gefreut. Für den Film hätte mir nichts Schöneres passieren können.
Wie ist der Streit ausgegangen?
Salif Keita, der Sänger der Railband, hat den Schiedsrichter gespielt. Er war nach der Beat-Battle zu den Proben gekommen. Als die Band ihm das Stück vorgespielt hatte, meinte er, das sei eben unsere Interpretation ihres alten Stückes, er werde das nicht ändern. Man müsse nicht in den alten Zeiten verharren, es ginge immer weiter. Das war übrigens das erste Stück, das Salif jemals mit der Railband gespielt hatte, insofern auch besonders für ihn. Ich fand es sehr beeindruckend, dass er diesen Blick auf die alte Musik hat. Am Ende haben sie die Clave einfach komplett weggelassen, also nicht mit der Cowbell laut drauf gespielt. Jetzt muss man schon mitklatschen, dann kann man sie noch hören. Das war der diplomatische Move des Drummers Philip Bernhardt.
Stolz und Würde
Am Anfang des Films äußert einer der Berliner Musiker, Benjamin Koenig, die Sorge, von den malischen Musikern anerkannt zu werden. Wie haben diese ihre Besucher aufgenommen?
Auch da hat der Stolz eine Rolle gespielt. Wir sind aus einem der reichsten Länder in eins der ärmsten gereist und haben uns für alte Musiker interessiert, von denen sehr viele längst in Vergessenheit geraten waren. Nicht nur die Musiker selbst haben sich dadurch unglaublich geehrt gefühlt. Als wir während der Recherche-Reise Jimmy Soubeiga von Super Biton de Ségou getroffen haben, war der total umgehauen davon, dass der Saxofonist Oliver Fox die alten Sachen einfach so runterspielen konnte. Der hat gleich ein kleines Konzert mit Musikern der Biton organisiert.
War das bei allen so?
Nein. Es haben auch Leute gedacht, dass jetzt die reichen Deutschen kommen und Geld oder Mercedes-Ersatzteile mitbringen. Die haben schwer verkannt, dass wir hier der totale Underground sind. Es gibt Leute in der Band, die haben noch nicht mal Hartz IV, weil es denen zu blöd ist, die Papiere auszufüllen. Das sind unglaublich virtuose Musiker, aber die leben nur von Studiogigs, Konzerten oder geben Unterricht. Es gab zwei Kandidaten in Mali, die im Voraus auch für die Proben bezahlt werden wollten. Aber unser Budget hat gerade für die Reise und die Aufnahmen gereicht. Geld gibt es für die Recordings, nicht für die Proben, anders leben wir hier in Berlin auch nicht. Am Ende haben deswegen zwei Leute von Super Biton nicht mitgemacht. Das Projekt hat trotzdem funktioniert, aber es war für einige schwer zu verstehen, dass wir zwar Weißnasen sind, aber eben keine reichen Weißnasen.
Mali in den 1970ern
In einer anderen Filmszene gucken sich die Berliner Musiker in einem alten Kino Aufnahmen von staatlichen Musikwettbewerben in den 1970ern an. Welche Rolle haben diese Biennalen gespielt?
Das ist eine Tradition aus der Zeit direkt nach der Unabhängigkeit in den 1960ern. In den einzelnen Regionen Malis gab es Orchester. Diese haben sich anfangs einmal im Jahr zu einem Wettbewerb getroffen. Der hat sämtliche Kunstformen umfasst, auch Theater und Malerei. Die Bedingung war, ausgerufen vom sozialistischen Präsidenten Modibo Keita, malische Kunst zu produzieren, nicht andere zu imitieren. Es gab eine Jury und im Fall des Musikwettbewerbs hatten dann die erste und zweite Band besonders gute Chancen, mal eine Aufnahme im Studio des nationalen Radios zu machen.
Die Basis, um ein bisschen Geld zu verdienen.
Nein, darum ging’s nicht. Die Musiker aus den Regional-Orchestern waren Staatsangestellte. Es gab natürlich nicht viel Geld, aber man war schon mal angestellt und hatte Anrecht auf eine Rente. Aus diesen Aufnahmen entstand die große Mehrzahl der Platten, die wir dann später gefunden und gehört haben. Von den meisten Bands gibt’s nur die eine Platte aus dem Jahr, wo sie Erster oder Zweiter wurden.
Gehört die Railband um Salif Keita auch in diese Kategorie?
Nein, wie der Name schon sagt, war das die Band der staatlichen Eisenbahngesellschaft. Die hat sich eine Band geleistet, weil es damals eine direkte Bahnverbindung von Bamako nach Dakar gab. Das muss sehr besonders gewesen sein, wenn da die Züge eingefahren sind. Die Band spielte in dem Restaurant am Bahnhof, das war einer der angesagtesten Clubs in der Zeit.
Die Railband von Bamako
Das war offenbar eine andere Form der Kulturförderung, als wir jetzt in Zeiten der Pandemie erleben.
Ja, man kann sich das gar nicht mehr vorstellen. Die Musiker haben keine eigenen Instrumente besessen. Die Instrumente gehörten der Eisenbahngesellschaft. Die liegen da bis heute in einem gammeligen Raum beim Buffet Hotel de la Gare. In dem Film bekommt Schorsch von Cheick die Saxofonkrypta gezeigt, da liegt sogar noch die vergammelte Trompete des Bandleaders Tidiane Koné.
Auf den Weg in den Norden sagt einer der Berliner Musiker, Robin Hut, er sehe keine Terroristen, nur Esel und lächelnde Menschen. Was habt ihr von der politischen Situation in Mali mitbekommen?
Natürlich hatten uns viele Leute gewarnt. Das Land ist bis heute nicht einfach zu bereisen. Wir hatten aber nie den Eindruck, in Gefahr zu sein, wenn wir in Bamako durch die Nightclubs zogen. Aber klar, man merkt es vielleicht nicht, bis man dann als Geisel genommen wird. Wir wollten unbedingt nach Timbuktu. Wir standen schon in Kontakt mit zwei Leuten von Le Mystere Jazz de Tombouctou. Die haben stark abgeraten. Das sei zu unsicher, da würden wir unterwegs aus dem Bus geholt und als Geiseln verkauft. Zufällig kannte ich den Sicherheitsbeauftragten der UN-Mission in Mali. Insofern hatten wir eine gute zweite Einschätzung. Er hielt das Risiko, zumindest bis Mopti zu kommen, unter bestimmten Bedingungen für überschaubar: Ein gutes Auto, keine Pannen, auf der Hauptstrasse bleiben, nicht nachts fahren. Also haben wir das gemacht. Ich glaube, in Deutschland wird die Bedrohung ebenso wie die Bedeutung der Ideologie bei den Terroristen übertrieben.
Wie meinst Du das?
Ich denke, dass bei den Leuten, die als Islamisten verschrien sind, selten eine fundierte Ideologie dahinter steckt. Das sind meist Leute, die aus offensichtlichen Gründen sozial abgestiegen sind. Was willst Du auch machen, wenn Du auf dem Land aufwächst: Nach der Grundschule ist da nichts mehr, aber auf dem Handy kannst du Los Angeles sehen. Jetzt nutzen sie jeden Anlass – kraft ihrer Kalaschnikow – Leute auszurauben. Das sind, salopp gesagt, Hotzenplotze aus dem Wald. Aber sie machen das nicht, weil Gott ihnen das angeblich befohlen hat.
Konflikte in Mali
Sondern?
Es geht um andere Konflikte, das ist schon vielschichtiger. Mal als Beispiel: In einem der vielen Konflikte spielt das Volk der Peul eine Hauptrolle. Das ist ein Nomadenvolk, das seit Jahrhunderten in Westafrika unterwegs ist. Viele sind sesshaft in Mali, bilden seit Jahrhunderten Teile der Gesellschaft. Andere sind Viehhüter und sehr wichtig in der Gesellschaft, weil sie Kühe halten und damit Milchprodukte produzieren. Aber sie leben eine andere, ältere Form des Islam als die große Mehrzahl der Bevölkerung in Mali. Um Mopti herum wohnen die Dogon, deren Religion eher traditionell animistisch ist. Wenn jetzt nomadische Peul ihre Herden über die Felder der seßhaften Dogon treiben, gibt’s da natürlich Konflikte, da sind Mechanismen der Xenophobie am Werk: fremde Herumtreiber gegen Sesshafte. Diese Konflikte werden dann mehrheitlich so interpretiert, dass die ursprünglich lebenden Dogon von Muslimen bedroht werden. Dann sind viele dieser Peul auch noch bewaffnet, also nennt man sie extrem, und schon sind sie angeblich Islamisten. Dagegen bilden Dogon-Dörfer eigene bewaffnete Bürgerwehren und schnell bleiben viele Tote zurück. Klar gibt es unter beiden Parteien Leute, die in Weißnasen im Endeffekt Lösegeld sehen. Diese Gefahr besteht, wenn man sich abseits der großen Straßen bewegt. Aber dass da eine hierarchisch organisierte, größere Islamisten-Miliz operiert, das glaube ich nicht.
Wie haben die Menschen das gesehen, mit denen Du unterwegs warst?
Auf die stütze ich meine Einschätzung. Elhaj hat von Timbuktu erzählt, als damals die Islamisten übernommen haben. Auch das hatte einen eher geringen religiösen Hintergrund – Hauptakteur war ja eine Tuareg-Miliz, die sich von wenigen zugereisten Islamisten hat ausnutzen lassen. Die Tuareg wollen schon lange ihre eigene Republik – Azawad –, weil sie im Norden so schlecht behandelt werden. Es gibt kaum Infrastruktur, miese Krankenhäuser, nahezu keine Schulen. Dann hat Gaddafi sie – mit geheimer Agenda – bewaffnet und ausgebildet und ihnen einen eigenen Staat versprochen. Als Gaddafi plötzlich weg war, hatten die Tuareg zwar viele Waffen, aber immer noch keinen Staat. Es waren zum Teil Elhajs eigene Musikschüler, die dann anrückten und meinten, sie hätten leider den Auftrag, alle E-Gitarren und Verstärker zu zerstören. Er hat noch in der Nacht alles zusammengepackt und ist in den Süden abgehauen. Man muss sich das mal vorstellen: Die Band Le Mystere Jazz hat vorne auf ihrem Plattencover ein Foto der berühmten Moschee von Timbuktu.
Das sind alle treue Muslime, nie hat denen jemand vorgeworfen, dass ihre Musik gotteslästerlich sei. Dann kommen 40 Jahre später ein paar verarmte Tuareg-Jungs, die gestern noch bei Elhaj Musikunterricht hatten, mit dem Befehl, Instrumente und Verstärker zu zerstören. Mit Religion hat das nur am Rande zu tun, da sind ganze Volksgruppen zum Spielball globaler Konflikte geworden. Aber hier bei uns betont man immer diesen einen Aspekt des Islamismus und wirft eine ganze Volksgruppe – die Tuareg – mit dem Islamischen Staat in einen Topf. Den Nutzen von dieser ganzen Unsicherheit in der Sahelzone hat – so sehen es viele in Mali – Frankreich.
Warum das?
Faktisch gesehen ist Mali – und auch Niger – eine der Hauptquellen für das Uran, das Frankreich einführt. Auch die malischen Goldminen sind in den Händen von französischen und chinesischen Firmen. Französische Konzerne haben die Schlüsselpositionen inne. Orange betreibt das Handynetz und das Stromnetz, Total hat auch überall seine Finger drin.
Frankreich und Deutschland
Wie sehen die Menschen in Mali Frankreich heute?
Die Verhältnisse nähren Hass gegen die ehemaligen Kolonialherren. Es ist wirklich schwierig, mit malischen Freunden darüber zu diskutieren. Es fängt ja damit an, dass Französisch die Verkehrssprache in Mali ist, die alle sprechen müssen, sonst könnten etwa die Tuareg aus der Wüste im Norden nicht mit den Bambara im Süden kommunizieren. Auch Leute, die länger in Frankreich gelebt haben oder sogar dort ausgebildet wurden, sind oft der Ansicht, dass Mali durch die Franzosen ausgebeutet wird. Ich kann das gut verstehen, auf der anderen Seite ist es damit auch leicht, die vielen hausgemachten Probleme – Korruption und Vetternwirtschaft – auf fremde Schuldige abzuwälzen. Dass die Währung CFA an den Euro gekoppelt ist, das sehen sehr viele als neo-koloniales Ausbeutungswerkzeug.
Wie wird die Präsenz der Bundeswehr gesehen?
Die Bundeswehr ist besser angesehen, aber nur, weil man die Franzosen noch schlimmer findet. Im Grundsatz wollen die meisten einfach, dass alle ausländischen Kräfte verschwinden. Dennoch ist es so, dass die Deutschen, die Dänen und andere immerhin unter einem UN-Mandat agieren. Die Franzosen haben sich selbst eine robustere Mission ausgesucht, vor Ort zu sein und mit Spezialtruppen, Kampfflugzeugen und Drohnen zuzuschlagen. Wenn ich dann sage, dass Deutschland auch Kolonien hatte, werden die Deutschen trotzdem noch besser angesehen.
Aber agiert Deutschland wirklich so anders?
Jedenfalls wird das Nicht-Militärische meiner Meinung nach nicht in dem Maße gefördert, wie man es sollte. Es gibt zum Beispiel kein Goethe-Institut in Bamako. Wer sich als Malier ganz legal für Deutschland interessiert und sich sagt: Okay, ich mache diesen ganzen Quatsch mit, ich will Deutsch lernen und eine Prüfung machen, um ein Langzeitvisum zu beantragen, der kann das nicht. Mission Impossible. Nach meiner Ansicht sollte Deutschland neben der militärischen Intervention viel mehr Mittel aufbringen, um die Zivilgesellschaft Malis zu stärken, sei es, wie in unserem Fall, durch Kulturpartnerschaften, oder durch Stärkung von Ausbildung und Infrastruktur. Das findet aber nahezu nicht statt. Die robuste Art der Entwicklungshilfe wird aber die Herzen der Malier nicht gewinnen. Am Ende wählen viele die Kalaschnikow oder den Weg im Schlauchboot.
Willkür bei der Einreise
Wie ist es denn den malischen Musikern ergangen, die zur Release Show eures Albums Le Mali 70 einreisen sollten?
Ich musste persönlich eine Verpflichtungserklärung ausfüllen und hafte jetzt für fünf Jahre mit meinem persönlichen Eigentum dafür, dass unsere Sängerin Mariam Koné nach dem Konzert auch wieder abreist. Die Frau ist in Bamako fest angestellt, spielt in verschiedenen Musikprojekten. Sie hat ein Haus dort, und wir haben dem Konsulat sogar den Grundbucheintrag vorgelegt. Sie verdient knapp 1000 Euro im Monat, das ist verdammt viel Geld dort. Das reicht aber dem Konsulat nicht dafür, dass sie ganz normal auf eigene Initiative als Gastmusikerin einreisen darf. Es gibt aber vom Auswärtigen Amt auch keine verbindliche Antwort auf die Frage, wie viel Geld jemand denn braucht, um für drei Wochen nach Deutschland zu kommen und Konzerte zu spielen. Ich habe den Eindruck, das ist extra so vage gestaltet, damit niemand einen Rechtsanspruch hat. Die Entscheidung fällt das Konsulat vor Ort nach deren Einschätzung. Kein Wunder, dass Malier diesen Prozess als willkürlich empfinden.
Nach Eurem Besuch 2019 gab es eine Massenbewegung und einen Militärputsch. Hast Du darüber mit euren Kontakten gesprochen?
Den Begriff Putsch lehnen sie schon mal ab, sie nennen es Transition. Vor der Wahl im Frühjahr 2020 ist der Oppositionskandidat mit den allergrößten Chancen auf einer Wahlkampftour plötzlich verschwunden. Da kann man sich schon fragen, was das für eine Wahl war, wenn der Präsident Ibrahim Boubacar Keita unter diesen Umständen, nach eigenmächtiger Verfassungsänderung, zur dritten Amtszeit an der Macht blieb. Dann wurde auch noch sein Sohn Verteidigungsminister, der sich aber die ganze Zeit auf Ibiza aufhält. Es gab jedenfalls unglaubliche Demonstrationen nach der Wahl. Die Leibgarde hat in die Menge geschossen, es sind Leute umgekommen. Es gibt eine sehr engagierte Zivilgesellschaft, die sich damit beschäftigt und solche Missstände anprangert. Das Militär hat dann die Macht übernommen und den Präsidenten abgeführt. Er ist kein einziger Schuss gefallen. Als eine der ersten Amtshandlungen hat der Militärrat den Oppositionskandidaten aus der Geiselhaft freigekauft. In der Übergangsregierung sitzen jetzt 30 Prozent Frauen.
Du hast Hoffnung, dass sich die Lage zum Besseren wendet?
Ja, aber eine große Frage ist, wie man mit der Währung CFA umgeht, die an den Euro gebunden ist. Das ist eine ähnliche Frage wie damals, ob Griechenland im Euro bleibt. Der Taxifahrer, von dem wir schon gesprochen haben, verdient CFA, bezahlt aber Preise für Strom oder Handy wie in Euro. Das kann nur zum sozialen Abstieg führen, und das kann gefährlich werden.
Auf Augenhöhe begegnen
Warum?
Der Islam in Mali ist heute noch bemerkenswert tolerant. Wir waren einmal auf einer Beerdigung. Der Mann war schon verstorben, der war Muslim. Und jetzt war die Frau gestorben, Christin. Da waren also der Imam und der Pastor bei der Zeremonie. Die beiden haben abwechselnd gebetet und alle Leute, Christen und Muslime saßen zusammen und haben zusammen Amen gesagt. Die nehmen den Respekt voreinander total ernst. Aber wenn ständig der soziale Abstieg droht, während Konzerne aus dem reichen Norden das Geld rausziehen, werden natürlich auch manche Leute extrem und denken, dass zuerst mal die Franzosen die Bösewichter sind. Dann ist es auch nicht mehr weit zu einem extremen Islam. Das ist die Gefahr. Die Chance liegt darin, die Menschen in ihren Traditionen zu bestärken und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen.
Passenderweise endet der Film mit dem Song Dugu Kamalemba, der Refrain heißt »Don’t pretend you know someone when you haven’t worked together«.
Ja, von der Railband, einer meiner Favorites, da hört man auch einige Roots des Afrobeats durch, ein Arrangement wie von Fela Kuti. Das groovt sich erstmal ewig ein, zwei Soli, bevor überhaupt mal der Hauptteil mit Vocals kommt.
Und der Refrain, darum geht’s im Kern: Wir haben ein funktionierendes Saxophon, aber der coole Groove kommt von euch.
Vielen Dank für das Gespräch, Markus.
Die Fragen stellte Jan Maas.
Schlagwörter: Afrobeat, Jazz, Kuba, Kultur, Mali, Musik