Als Teil einer internationalen Delegation war Julia K. im besetzten Palästina auf dem Jugendfestival der Palästinensischen Volkspartei und hat dort mitdiskutiert und gearbeitet. Parallel besuchte sie verschiedene Orte und machte sich ein Bild von dem Leben unter der israelischen Besatzung.
Palästina jenseits des deutschen Mainstreams
»Verletzte zählen wir eigentlich nicht nach einer Demo, für gewöhnlich nur Tote«, antwortet mir ein Mitte-40-jähriger Genosse auf meine Frage, ob es außer der zwei Jungs mit Gips noch mehr Verletzte nach der Demo gibt, von der wir vor einigen Stunden zurückkehrten. Unser Sitznachbar teilt uns mit, dass ein weiterer Junge gerade noch im Krankenhaus sei. Man wolle überprüfen, ob mit seinem Kopf alles in Ordnung sei, aber es sehe alles gut aus, kein Grund zur Sorge, sagt er, um mich – sichtlich beunruhigt – zu besänftigen.
Unsere gemeinsame Teilnahme an einer Demonstration am dritten Tag des von der Jugend der Palästinensischen Volkspartei (Palestinian People’s Party, PPP) veranstalteten Farkha-Festivals ist Ausdruck der gelebten Solidarität, die fürs gesamte Festival charakteristisch ist. Sie begegnet uns, wenn die palästinensischen Familien im Dorf ihre Schlafzimmer für uns räumen, damit wir internationalen Gäste in den gemütlichsten Betten schlafen können, oder wenn wir von einem Frauenkollektiv mit dem besten Essen, das sich für 300 Leute zaubern lässt, bekocht werden.
Die gelebte, tatkräftige Solidarität zieht sich durch das Programm: Jeden Vormittag unterstützen wir das Dorf gemeinsam mit palästinensischen Jugendlichen bei der Instandhaltung der Infrastruktur. Eine Gruppe renoviert die örtliche Schule, die nächste baut eine Zementmauer und wieder eine andere arbeitet im Ökogarten des Dorfes. In Nullkommanix kommen wir so mit den anderen Festivalteilnehmer*innen in Kontakt, lernen einige Wörter Arabisch, hören wie kompliziert ihr Alltag ist, machen Quatsch zusammen. Am Nachmittag informieren uns die inhaltlichen Veranstaltungen über die Lebensbedingungen und die Kämpfe der Frauen in der palästinensischen Gesellschaft und über das Apartheidsystem, in dem die Palästinenser*innen gezwungen werden zu leben.
Israelische Siedlungen in der Westbank
Die Konzepte »Apartheid« und »Siedlerkolonialismus« fand ich schon vor meiner Reise aufgrund von Wissen über die Verhältnisse in Palästina und Israel passend, bis dahin aber schwer greifbar. In Deutschland kommen noch die moralische Entrüstung großer (wenn gleich kleiner werdender) Teile meines linken politischen Umfelds, sowie eine extrem verzerrte Berichterstattung hinzu. Die Demonstration, sowie jeder einzelne weitere Tag, den wir als »internationals« Seite an Seite mit unseren palästinensischen Genoss*innen bestritten, hat jegliche Unsicherheit und Unklarheit über die Verwendung dieser Konzepte in Luft aufgelöst.
Was war der Anlass und der Ablauf einer Demonstration, von der drei Kinder mit mittelschweren Verletzungen und circa 30 weitere Teilnehmer*innen mit von Tränengas roten, schmerzenden Augen wieder heimkehrten? Und wie lässt sich erklären, dass all diese Verletzten nur uns deutsche, italienische, kurdische und dänische Sozialist*innen überraschten, wohingegen alle Landsleute diesen Ausgang als alltäglich ansahen?
Grund der Demonstration im Dorf Beit Dajan (»Dadschan«) in der Westbank ist die sukzessive Landnahme der Felder rund um das Dorf durch einen radikal-nationalistischen israelischen Siedler. Israelische Siedlungen in der Westbankwerden vom Internationalen Gerichtshof und den Vereinten Nationen als völkerrechtlich illegal eingestuft. Für die Palästinenser*innen gehen die Siedlungen mit einem Verlust von Land oder Häusern und zunehmender israelischer Militärpräsenz einher. Seit zwei Jahren protestieren die Bewohner*innen gegen die illegale Ausweitung der Farm dieses einen Siedlers, welche das Leben eines ganzen Dorfes verändern dürfte.
Maschinengewehre zielen auf uns
Unsere Genoss*innen gehen vor der Demo davon aus, dass sie weitgehend friedlich ablaufen wird, da die israelischen Soldat*innen uns Internationals durch ihre Kameras und Drohnen direkt erkennen und ihre Gewalt demnach herunterschrauben würden. Dennoch empfehlen sie uns, uns weiter nach hinten zu stellen, wenn wir kein Tränengas abbekommen wollen, denn damit sei auf jeder Demonstration zu rechnen.
Als wir aus dem Bus aussteigen, muss ich schlucken. Wir, circa 60 Demonstrant*innen, stehen auf einem Feldweg, ringsum nichts als kleine Büsche, Hügel und in ihnen positionierte Soldat*innen. Sie stehen teils direkt vor unserem Demozug und versperren den Weg, stehen rechts 30 Meter von uns entfernt und links etwa 100 Meter. Die Maschinengewehre sind auf uns gerichtet. Die Soldat*innen, die nicht mit Gewehren auf uns zielen, machen Fotos von uns. Ich fühle zum ersten Mal Angst um mein Leben.
Vorne auf der Demo beginnen Gesänge und Reden, von denen ich kaum etwas mitbekomme, da ich mich nicht weiter nach vorne traue. Plötzlich beginnen die Menschen aus den vorderen Reihen zu rennen. Ich höre Schüsse, eine, zwei, drei Tränengas-Granaten fallen. Ich renne so schnell ich kann, meine Knie wackeln. »Gummi«geschosse kommen hinzu: Metallgeschosse, mit Gummi umhüllt – »weniger tödlich« aber durchaus fähig, tödliche Verletzungen herbeizuführen.
Als ich mich umdrehe, stehen alle Demoteilnehmer*innen um einen vom Gas verqualmten Krankenwagen herum, den wir aus dem Dorf mitgebracht haben. Ich sehe einen Stein in Richtung der Soldaten fliegen. Die Schüsse, die auf YouTube dokumentiert sind, gehen wieder los und landen in der Nähe des Krankenwagens. Nacheinander kommen unsere Genoss*innen an unserem Reisebus an, manche können kaum noch laufen oder stehen, sacken vor dem Bus zusammen, das Tränengas hat sie orientierungslos gemacht. Die stärker Verletzten werden mit dem Auto abtransportiert.
Gemeinsam in Leid und Rausch
Auf einer Seite illegaler, durch Maschinengewehre und Drohnen geschützter Landraub, auf der anderen Gesänge und von Kindern vom Boden ausgehobene Steine: Von dem »Nahostkonflikt« und »Israelhasserdemos«, wie sie uns in den deutschen Medien versucht werden weißzumachen, könnte diese Konfliktkonstellation nicht weiter entfernt sein.
Während ich erschüttert im Bus sitze, beginnen die Kinder und Jugendlichen hinter mir zu singen, zu lachen, weiterzumachen. Sie suggerieren, dass es eine normale Demonstration für sie war. Die Jugendlichen mit den Gipsen sitzen am Abend wieder in der großen Debattenrunde und lauschen einem Vortrag. Wie jeden Abend beginnt irgendwann wieder jemand zu singen, zu klatschen, wir tanzen mit Dutzenden Menschen gemeinsam palästinensische Tänze.
Die Gräuel des Tages geraten vollkommen in Vergessenheit. Plötzlich meine ich zu verstehen, dass die Gastfreundschaft und das Kollektiv, das wir hier erleben und das unbeschreibliche Unrecht, das die Menschen in Palästina erfahren wohl zwei Seiten einer Medaille sind. Man leidet gemeinsam, man begibt sich gemeinsam in den Rausch des Tanzens und Singens.
Durch den Checkpoint zur Moschee
Die physische und psychische Gewalt gegen die Palästinenser*innen, die mir auf der Demonstration begegnete, zog sich vom ersten bis zum letzten Tag unserer zweieinhalb Wochen dort. So zum Beispiel auch bei unserer Tagestour nach Al-Khalil (Hebron), dem Ort, an dem die Unterdrückung der Palästinenser*innen wie unter einem Brennglas sichtbar wird. In Al-Khalil haben sich ca. 800 israelische Siedler*innen unter dem Schutz von ca. 2.000 israelischen Soldat*innen mitten im Stadtkern niedergelassen.
Wir laufen durch eine Marktgasse. An ihrem Ende wird es wuselig. Es bildet sich eine Schlange von Menschen, denn hier befindet sich ein Checkpoint. Checkpoint, das bedeutet ein Drehkreuz, durch das auch unsere Reisegruppe durchwill, um einen weiteren Teil der Stadt zu sehen. Immer wieder stockt das Drehkreuz und auch ich stecke einige Sekunden fest, bis ich mich rausdrehen kann. Mein Herz schlägt schneller, als ich auf der anderen Seite auch hier von Soldat*innen mit Maschinengewehren empfangen werde.
Erst jetzt verstehe ich, dass das Ziel all der Menschen, die wie Tiere durch die Kontrolle gepresst werden, eine Moschee ist, die sich direkt neben dem Posten der Soldaten befindet. Ich stehe auf dem kleinen Platz, der bis auf einige Kinder, die uns Wasser verkaufen wollen, menschenleer ist und mir laufen die Tränen.
Ein Gefühl wie im Gefängnis
Die Kinder sammeln sich in unserer Nähe und fragen meine Mitreisenden, warum ich weine. Auch hier prallen wieder meine und ihre Normalität aufeinander: Während ich die Vorstellung, dass das israelische Militär die Menschen hier wie im Gefängnis eingepfercht (über)leben lässt, kaum ertragen kann, scheint das Leben zwischen den Soldat*innen für die Kinder von Al-Khalil gewissermaßen eine Normalität.
Auch hier werden bei Auseinandersetzungen wohl manchmal Steine geschmissen, auf die sich die Presse sicherlich genüsslich stürzt. Mir wird heute erklärt in welchen Momenten es gehäuft dazu kommt: Die Soldat*innen versperren nicht nur alle 100 Meter eine Straße für die Palästinenser*innen und bewachen die illegal besiedelten Häuser mitten im Stadtkern. Manchmal schließen sie auch ohne weitere Erklärung einen Checkpoint. Einige Kinder kommen dann nicht zur Schule. Warten ist dann eine Option, umdrehen einen weitere. Eine dritte Möglichkeit ist das Aufheben und Werfen eines Steins, die Wut wird in diesem Moment wohl zu groß.
Apartheid hautnah
In Al-Khalil werde ich Zeugin folgender »Konflikt«situation: Die eine Seite bewacht illegale Siedlungen und zerstückelt die Stadt zu einem Flickenteppich von Checkpoints. Manchmal betritt sie auch die Moschee mit Stiefeln, drängt die betenden Muslime heraus. Die andere Seite muss durch eine bewaffnete Kontrolle, um zu beten, darf nicht jede Straße betreten.
Auch über der alten Goldstraße leben heute israelische Siedler, die ihren Müll aus ihren Fenstern herauswerfen. Über einen Meter hoch gestapelt liegen alte Plastikstühle, Windeln, Essensreste. Wenn sie es sich leisten können, dann ziehen die Palästinenser*innen, die hier bisher lebten, weg.
Wirft ein*e Palästinenser*in einen Stein, kann er*sie unmittelbar verhaftet oder erschossen werden. Dass ein israelischer Soldat wegen Mord an einem Palästinenser verurteilt wird, ist ziemlich unwahrscheinlich. Auch das ist mit Apartheid gemeint. Ich frage mich, ob all die Journalist*innen, die so erbittert gegen diese Bezeichnung anschreiben, jemals hier gewesen sind.
Hoffnungslos in der Heiligen Stadt
Eine unserer letzten Stationen ist Jerusalem. Wider Erwarten ist es recht ruhig: Nur einen Tag vor unserer Ankunft drangen hunderte israelische Siedler in das Gelände der Al-Aqsa-Moschee ein. Nach zwei Wochen in Palästina geraten unsere Nerven langsam an ihre Grenzen. Die Hoffnungslosigkeit setzt ein, denn wir haben ja am eigenen Leib erfahren: Wer gegen das unrechtmäßige Eindringen in die Moschee auf die Straße geht, setzt seine Freiheit oder sein Leben aufs Spiel.
Unser Freund führt uns nach Sheikh Jarrah, in die Straße, in der im vergangenen Jahr israelische Polizisten und schwer bewaffnete Soldat*innen einer »Anti-Terror-Einheit« anrückten, um die Zwangsräumung einer palästinensischen Familie durchzusetzen. Es entfachte eine Massenbewegung in Palästina und auf der ganzen Welt, um sie zu verhindern.
Jetzt stehen wir vor dem Haus, in dem mittlerweile illegale israelische Siedler leben. Auf dem Haus steht ein Davidstern, eine israelische Flagge und ca. 10 Kameras, die auf uns zeigen. Die palästinensische Familie, die hier lebte, schlief einige Zeit im Auto und dann bei Familienangehörigen. In ihr Haus wird sie wohl nie wieder zurückkehren.
Auf der anderen Straßenseite erwartet uns ein noch drastischeres Bild: Hier haben sich illegale Siedler im Vorgarten eines kleinen Hauses einer palästinensischen Familie niedergelassen. Ich versuche mir vorzustellen, wie es sein muss, jeden Morgen, wenn ich das Haus verlasse, an meinem seit einem Jahr illegal besetzten vorherigen zweiten Haus vorbeizulaufen und nichts tun zu können, keine rechtlichen Mittel zu haben, um dagegen vorzugehen. Ich scheitere.
Kein religiöser Konflikt
Ein alter Herr läuft die Straße entlang. Unser Freund stellt ihn uns als einen der Nachbar*innen vor, der, wie die meisten hier, die Proteste gegen die Zwangsumsiedlung von Anfang bis Ende miterlebt hat. Er erzählt uns, dass seine Enkelin seit einem Jahr im Gefängnis sitzt. Ihr wird vorgeworfen, im Zuge der Proteste Gewalt gegen einen Israeli angewandt zu haben. Sie ist 17 Jahre alt. Wann er sie wieder sehen wird, weiß er nicht.
Ich muss an die Rede eines jüdischen Genossen vor einigen Tagen auf dem Festival denken. Er sprach über die Differenz zwischen Judentum und dem Staat Israel und seine Solidarität zum palästinensischen Widerstand. Er beschrieb seinen Kummer, jedes Mal, wenn das Judentum und der Davidstern, den er um das Handgelenk trägt, von Israel oder von der deutschen Gesellschaft mit dem Zionismus gleichgesetzt werden. Denn für ihn sei seine Identität unvereinbar mit dem Unrecht, das der israelische Staat an den Palästinenser*innen verübe.
Er erntete großen Applaus für seine Rede. Von Skepsis aufgrund seiner jüdischen Identität keine Spur. Immer wieder wird mir auf dem Festival erzählt, dass man einige jüdische Freunde und Nachbarinnen habe, mit denen man in Frieden zusammenlebe.
Unendliche Wut und ein Funke Hoffnung
Im Flugzeug vermute ich, dass es die Gedanken an die Checkpoints und die Maschinengewehre sein werden, die mir zurück in Deutschland täglich im Kopf kreisen werden.
Tatsächlich sind es jedoch die Menschen, die uns auf dem Festival und in den Ausflügen im Vor- und Nachhinein mit so viel Wärme begegneten, an die ich am meisten denke. Ich denke an die zahlreichen grinsenden Gesichter, als wir das Festivalgelände betraten, an die Mädchen und Jungen, die Tänze aufführten, an das gemeinsame Streichen der Schule, welches alle halbe Stunde durch einen kurzen gemeinsamen Tanz mit Besen in der Hand unterbrochen wurde. Ich denke an all die Familien, die uns zum Bus brachten oder organisierten, dass wir von einer anderen Familie am nächsten Busbahnhof wieder abgeholt werden, damit uns ja nichts passiert.
Trotz der erschütternden Gewalt bin ich zurückgekommen mit unendlicher Wut und einem Funken Hoffnung. Denn die meisten Palästinenser*innen strahlten so viel Menschlichkeit und Gewissheit aus, dass sie sich auf keinen Fall gänzlich vertreiben lassen werden. Eines Tages, so wurde mir immer wieder gesagt, wird Palästina frei sein.
Julia ist Soziologin und im SDS Leipzig aktiv. Sie träumt davon, eines Tages ein freies Palästina zu besuchen.
Dieser Artikel erschient zuerst bei Critica-Zeitung Online.
Foto: Travel 2 Palestine
Schlagwörter: Besatzung, Palästina, Siedlungskolonialismus