Lenin hat heutzutage meistens schlechte Presse. Zu seinem 150. Geburtstag lohnt es sich, nachzulesen, was manche Zeitgenossen über ihn dachten. Von Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn
Vor 150 Jahren kam Wladimir Iljitsch Uljanow zur Welt, genannt Lenin. Seine Figur ist schon lange und bis heute umstritten. Im eigenen Lager begann die sowjetische Führung um Stalin unmittelbar nach Lenins Tod 1924, ihn zum unfehlbaren Anführer einer unfehlbaren Partei zu verklären.
Auf der anderen Seite verdammen bürgerliche Kräfte Lenin als Personifizierung der Oktoberrevolution; nicht zu Unrecht, denn sie steht für das mögliche Ende ihrer Herrschaft. Im Wust dieser Lenin-Mythen Texte zu finden, die sich der realen Person nähern, ist daher kein leichtes Unterfangen, hin und wieder aber es lohnt sich.
Trotzki über Lenin
Ein wichtiges Buch mit Bezug auf die frühe Sozialisierung des späteren Lenins ist das 1936 erschienene »Der junge Lenin« von Leo Trotzki. Sofort fallen die ständigen bissigen Spitzen auf, ja die zum Teil offene Verspottung der offiziellen sowjetischen Geschichtsschreiber und ihre lächerlichen, aber geschichtlich folgenreichen Versuche, Uljanows Leben als eine einzige Heiligengeschichte darzustellen.
Ob es Not tat, auch gegen die weiblichen Geschwister Lenins sowie seine Frau und Mitstreiterin Krupskaya immer wieder zu sticheln, sei dahingestellt. Es erklärt sich möglicherweise aus Trotzkis zunehmender Erfahrung von Isolierung und offener Anfeindung, die leider auch von Lenins Familie mit vorangetrieben wurde.
Die Rolle der Familie
Letztere spielt eine entscheidende Rolle in diesem Buch, welches mit dem Umzug des 23-jährigen Advokaten und beginnenden Sozialdemokraten Lenin von Samara nach St. Petersburg 1893 endet. Vor allem die Beziehungen des von allen nur »Wolodya« genannten Wladimir zu seinem Vater Ilja und zu seinem älteren Bruder Alexander (»Sascha«) werden vom Autor dahingehend untersucht, inwiefern diese sowohl zu Lebzeiten als auch durch ihre verfrühten, kurz aufeinanderfolgenden Tode (Trotzki nennt sie »Schicksalsschläge«) auf Uljanows späteren Werdegang Einfluss genommen haben.
So entsagt sich Wolodya erst nach dem krankheitsbedingten Ableben des Vater der bis dato von ihm nicht hinterfragten Religiosität im Hause Uljanow, während die wegen versuchten Zarenmords erfolgte Hinrichtung Alexanders, mit dem es zeitlebens keine innige brüderliche Verbindung gab, dem jungen Iljitsch endgültig den Weg hin zum Revolutionsführer bahnen sollte.
Lenin und die Bauern
Ansonsten besticht das Buch durch seine detaillierte politische Schilderung der russischen Provinz (z.B. Simbirsk, Kasan, Samara) kurz vor und während der großen sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Umwälzungen im zaristischen Russland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Immer wieder kommt Trotzki auf die Bauernschaft zu sprechen, seien es die Bestrebungen Alexanders III, die im Jahre 1861 erfolgte Aufhebung der Leibeigenschaft in Russland so gut wie möglich zu unterminieren, seien es die unterschiedlichen, auch vor individuellem Terror nicht zurückschreckenden, stets aufs Neue scheiternden Versuche der sozialrevolutionären städtischen Intelligenz (Semlja i wolja, Narodnaja Wolja), das Zarentum vom Land aus zu stürzen oder zumindest zu Zugeständnissen zu zwingen.
Die Vorgeschichte der Revolution
Im Gegensatz zu anderen ist Trotzki durchaus bereit, die Wichtigkeit dieser turbulenten Phase der russischen Geschichte sowohl für die Radikalisierung Lenins anzuerkennen als auch sie in die Vorgeschichte der bolschewistischen Revolution mit aufzunehmen. Auch an dem von der offiziellen, d.h. stalinistischen Geschichtsschreibung immer wieder geleugneten, ideologisch aber durchaus entscheidenden Einfluss der ersten russischen Sozialdemokraten um Plechanow auf den schon zu jungen Erwachsenenzeiten extrem disziplinierten, aber auch irritierend selbstsicheren Lenin, lässt der Autor keinen Zweifel.
Schließlich werden der Leserschaft noch eine Reihe von »anderen Lenins« (Tamara Deutscher) präsentiert, wobei neben Lenin, dem begeisterten, aber allzu jähzornigen Jäger (»dieser junge Mann entspannte sich ebenso intensiv und leidenschaftlich wie er lernte«); Lenin, dem am Reck durchtrainierten Sportsmann; Lenin, dem erfolglosen Advokaten; und Lenin, dem sich von niemandem ablenken lassenden, das weibliche Geschlecht betreffend »keuschen« Turgenjew-Vernarrten, insbesondere Lenin, der nicht nur in der Schule wissbegierige und gut zuhören wollende Schüler (»Lenin, im Larvenstadium«) und zu guter Letzt Lenin, der listige, unbarmherzige Schachspieler, speziell zu erwähnen sind.
Offizieller Lenin-Kult
Lenin, der Schüler, bricht mit dem vom offiziellen Leninkult verbreiteten Unsinn des unfehlbaren Vaters der UdSSR samt seiner fast 300 Millionen, anscheinend nur für bedingt intelligent befundenen, »neuen Menschen«.
Lenin, der Schachliebhaber, hingegen, funktioniert auch 2020 noch als mobilisierende Metapher für die Notwendigkeit, so strategisch und gut vorbereitet wie möglich in die uns immer wieder bevorstehenden sozialen Kämpfe zu ziehen und diese dann auch »leninistisch« hartnäckig zu bestreiten: »Wladimir unterbrach nicht die anderen, aber er ließ auch sich nicht von den anderen unterbrechen. So wie beim Schachspiel nahm er selbst niemals einen Zug zurück, gestattete es aber auch den anderen nicht.«
Lukács huldigt Lenin
Apropos Strategie und Vorbereitung, das 1924 veröffentlichte »Lenin – Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken« ist eine wahrhaft meisterhafte, intellektuell anspruchsvolle Huldigung Lenins, verfasst vom »Philosophen des Leninismus« (Slavoj Žižek), dem Budapester Georg Lukács (1885-1971), 1919 Volkskommissar für Bildung und Kultur in der viel zu kurzlebigen ungarischen Räterepublik, angeführt von Béla Kun.
Dabei geht es dem seit Jahren von der Regierung Orbán systematisch diffamierten Lukács erst im 1967 hinzugefügten Postskript vorübergehend um »Lenin als Menschentyp«, den der Literaturkritiker als Asket der Revolution, nicht aber als asketische Persönlichkeit bezeichnet: »Er ist lebhaft und humorvoll; er genießt alles, was das Leben bietet, von Jagen, Angeln und Schach spielen bis hin zum Lesen von Puschkin oder Tolstoi; vor allem aber widmet er sich Menschen aus Fleisch und Blut.«
Den Charakter definieren
Ansonsten sind die knapp hundert Seiten dieses mit Lukácser Gründlichkeit (Michael Löwy) geschriebenen Werks ein sehr wertvoller Versuch, den Dialektiker Lenin, seine situationsbedingten multiplen Persönlichkeiten und seinen unnachgiebigen Kampf für die proletarische Revolution ebenso solidarisch-dialektisch wie auch historisch-materialistisch zu denken, basierend auf Lukács‘ fast rührend-revolutionärem Wunsch, sein »spontanes Bedürfnis zu befriedigen und den geistlichen Mittelpunkt des Leninschen Charakters theoretisch zu definieren«.
Allzeit bereit
Diesem setzt Lukács als die »Verkörperung eines ständig Bereitseins « zur Aktion und somit eines »neuen Ausdrucks einer beispielhaften Haltung gegenüber der Realität« ein Denkmal. Dank Lenins »Leben der fortwährenden Selbstbildung«, seiner »stets vorhandenen Offenheit gegenüber den durch direkte Erfahrung gewonnenen neuen Lektionen« sowie seiner »strengen Ansprüche gegenüber sich selbst« wird er zum Inbegriff des unaufhebbaren, revolutionstheoretisch aber unausweichlichen Widerspruchs zwischen »der Unendlichkeit des Wissens und den allgegenwärtigen Geboten der korrekten, unmittelbaren Aktion«: »[Lenin] verstand, dass sein Lernen von der Realität niemals aufhören wird, dass aber das, war er von ihr bereits gelernt hatte, von und in ihm so organisiert und in Bewegung war, dass er jeden Moment in Aktion treten konnte.«
Die »Aktualität der Revolution«
Lukács untersucht einige Momente des sich zu jeder Zeit gegenseitig befruchtenden theoretischen und praktischen Eingreifen Lenins in die »Aktualität der Revolution«, eingebettet in eine sich unaufhörlich verwandelnde Totalität objektiver und subjektiver Bedingungen von Klassenbewusstsein bis Klassenkampf.
Dabei gibt er sich meistens damit zufrieden, seinen Lehrer Lenin zu studieren, zu beschreiben und zu interpretieren (»Darum muss Lenin von den Kommunisten so studiert werden, wie Marx von Lenin studiert wurde«), um so denjenigen, die »das Wesen seiner Methode verkennen«, den Spiegel vorzuhalten und eine weitere Verbreitung des bereits damals real existierenden und später zur Staatsreligion erhobenen »Vulgärleninismus« (letztlich leider erfolglos) zu unterbinden.
Was ist »Leninismus«?
Genau dieses Bestreben Lukács‘, das Erbe Lenins mittels der Neuartikulierung einige seiner wichtigsten Positionen zu verteidigen und den »Leninismus als eine neue Phase in der Entwicklung der materialistischen Dialektik zu etablieren«, führt zu einer Art Weiterdenken durch Präzision und zu einer konsequenten Anwendung des Leninismus auf Lenin selbst, so wie dieser selbst seinen Lehrer Marx durch seine »konsequente Anwendung des Marxismus« konkretisiert hat.
Ob bezüglich der Rolle des Proletariats, der Partei, des Staates, der Demokratie, des Imperialismus oder der Neuen Ökonomischen Politik: Lukács haucht Lenins handelndem Denken im Jahr 1 nach seinem Tod neues Leben ein und bringt es so »den Tageskämpfen des Proletariats noch näher«.
Richtungsstreit in der Sozialdemokratie
Nebenbei wird der eine oder andere Richtungsstreit innerhalb der Sozialdemokratie gegen stur mechanistisch oder revisionistisch denkende »Opportunisten« und kompromisslose, voluntaristische »Linksradikale« weitergeführt bzw. nachträglich, entschieden, z.B. im Fall der Deutungshoheit über den von Lenin gegen seine Zweifler erzwungenen Friedensvertrag von Brest-Litowsk 1918. Die erfolgreiche Revolution, ermahnen uns Lukács und Lenin, wird jedoch nicht automatisch in einem Sieg der arbeitenden Massen münden, auch deshalb, weil das kapitalistische Geleise zwar verlassen wurde, die junge sowjetische Gesellschaft aber noch nicht auf das neue Geleise geraten war.
Was bleibt ist der Klassenkampf ohne Illusionen in Bezug auf das Tempo der Verwirklichung des Sozialismus: »Napoleon schrieb: ›On s’engage et puis on voit.‹ […] »Zuerst stürzt man sich ins Gefecht, das weitere wird sich finden.« »S’engager« bedeutet aber auch, sich etwas intensivst zu widmen und zu verpflichten, das Subjektive und Objektive stets als Einheit zu leben. Lenin, daran lässt sein Jünger Lukács keinen Zweifel, hat dies zeitlebens bewusst getan. In diesem Sinne war und bleibt er ganz unbestritten ein unvollendetes Vorbild für diejenigen von uns, die dem revolutionären Schneckentempo unserer Tage noch nicht Tribut gezollt haben oder vielleicht erst noch auf die mittlerweile ökologisch nachhaltig angetriebene Lokomotive der Geschichte aufspringen wollen.
Eine gute Heiligengeschichte
Kurzum, es gibt politische Heiligengeschichten und politische Heiligengeschichten. Die einen verdummen eher, betäuben Körper und Geist und erziehen zu einer sich letztlich politisch selbst entmachtenden masochistischen Führerhörigkeit, die anderen aber – ja, es gibt sie wirklich – vermögen die historische Bedeutung einer bestimmten Persönlichkeit affektiv-pädagogisch so zu formulieren, dass sie die Vertiefung des eigenen Klassenbewusstseins nicht nur mit Kopf, sondern auch mit Haut und Haaren befördern und gleichzeitig dazu einladen, sich individuell und kollektiv politisch zu mobilisieren hin zu einer radikal gerechteren, klassenlosen Gesellschaft in der Jetztzeit.
Lukács Büchlein gehört – einiger irritierenden sprachlichen Superlativen zum Trotz – zweifellos zur zweiten Kategorie, und deshalb ist »Lenin – Studie über den Zusammenhang seiner Gedanken« auch heute noch – besser gerade heute noch – die Lektüre, einschließlich kollektiver Diskussion und fortdauernder Umsetzung in die Praxis wert.
Denn es liegt ja an uns, den Kampf weiterzuführen und ihn beizeiten vielleicht sogar zu gewinnen. Es wäre überfällig.
Bibliographische Angaben
Leo Trotzki
Der Junge Lenin
Verlag Fritz Molden
Wien 1969
271 Seiten
Antiquarisch erhältlich oder online unter: www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1936/junglenin/index.htm
Georg Lukács
Lenin – A Study on the Unity of his Thought
NLB
London 1972
104 Seiten
Antiquarisch erhältlich oder online unter: www.marxists.org/deutsch/archiv/lukacs/1924/lenin/index.htm
Autorenangaben:
Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn ist ein deutsch-bolivianischer Theatermacher und gelegentlicher Autor. Er arbeitet zurzeit an einem auf Englisch verfassten Sammelwerk über Lenin (Lenin150) zu Ehren seines 150. Geburtstags in diesem Jahr. Bei Interesse bitte melden unter communitybasedtheatre@posteo.de.
Foto: kryshen
Schlagwörter: Bücher, Lenin, Marxismus, Revolution