In der bürgerlichen Geschichtsschreibung gilt Lenin als geistiger Vater der monolithischen Partei stalinistischen Typs. Doch dieses Bild hat mit seinen Gedanken und mit seiner Praxis in der Organisationsfrage herzlich wenig zu tun. Von Stefan Bornost
Kurz nach dem Tod des russischen Revolutionärs Wladimir Lenin 1924 hielt der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Josef Stalin eine Reihe von Vorlesungen an der Swerdlow-Universität in Moskau. Sie erschienen später unter dem Titel »Grundlagen des Leninismus« und schufen einen mächtigen Mythos: dass es mit dem »Leninismus« eine reine Lehre des großen Revolutionsführers gäbe, die zu befolgen für alle Kommunistinnen und Kommunisten der sichere Weg zum Erfolg sei. Essenzieller Bestandteil: Die leninistische Partei. Nur gibt es in Wirklichkeit gar kein einheitliches Parteikonzept von Lenin. Er entwickelte seine Ideen anhand des Klassenkampfes weiter und brach dabei auch mit alten Vorstellungen.
Die Organisationsfrage bei Marx und Engels
Schon bei Marx und Engels spielte die Frage der Partei eine große Rolle – schließlich beteiligten sich beide neben ihren theoretischen Studien auch führend an der Gründung der Ersten Internationalen und begleiteten auch die Entwicklung der deutschen Sozialdemokratie in der Frühphase ab 1870. In ihren Vorstellungen schwangen Optimismus und Fortschrittsgläubigkeit mit. Marx und Engels gingen davon aus, dass der Klassenwiderspruch Arbeiterinnen und Arbeiter zum Kampf gegen das Kapital nötigt. In diesem Kampf gewinnen sie dann Einsichten in die Natur des kapitalistischen Staats und die Notwendigkeit des Sozialismus.
Diese Reifung spiegelt sich dann in der steigenden Qualität der Arbeiterorganisationen wieder, die in dem Maße besser, also kampffähiger und inhaltlich klarer werden, wie die Klasse sich ihrer Lage, aber auch ihrer potenziellen Macht bewusster wird. Marx und Engels sahen und kritisierten, dass sich im Rahmen der breit aufgestellten revolutionären Sozialdemokratie auch Individuen und Strömungen sammelten, die eher auf Akzeptanz durch und Versöhnung mit den Herrschenden schielten. Dennoch war ihre Grundannahme, dass eine wachsende Arbeiterbewegung solche Strömungen an den Rand drücken würde.
Russische Sozialdemokratie und Bolschewiki
In der sich Ende des 19. Jahrhunderts entwickelnden russischen Sozialdemokratie sah man die Dinge anders. Der Grund dafür war nicht, wie es später die stalinistische Mythenbildung darstellte, dass der geniale Lenin ein neues revolutionäres Parteikonzept aus dem Hut zauberte und jesusgleich immer mehr Jünger dazu bekehrte. Vielmehr war die Entwicklung der Bolschewiki in Theorie und Praxis ein sich langsam und in Brüchen vortastender Lernprozess, der in den besonderen Bedingungen Russlands und seiner Arbeiterbewegung wurzelte.
Der Zar beherrschte Russland als brutaler Diktator. Arbeiterparteien, Gewerkschaften, Streiks – alles verboten. Aber Russland hatte auch eine Tradition des Widerstands gegen die Zarendiktatur. Führend hierbei waren die als verschwörerischer Geheimbund organisierten »Narodniki« (Volksfreunde), die wahlweise als Erzieher und Lehrer »zum Volk gingen« oder als eine Art russische RAF Terroranschläge auf zaristische Würdenträger verübten. Die russischen Revolutionäre bewunderten zwar den Mut der Narodniki, lehnten aber deren Methoden ab. Sie folgten dem Kernsatz des Marxismus, wonach die Befreiung der Arbeiterklasse das Werk der Arbeiterklasse selbst sein müsse.
Besondere Bedingungen in Russland
Allerdings war unter den Bedingungen des russischen Polizeistaats der Aufbau einer breiten Sammlungspartei der gesamten Arbeiterklasse nach dem Vorbild der westlichen Sozialdemokratie völlig ausgeschlossen. Der Staat hätte so eine Organisation mit Agenten unterwandert und sie binnen kurzem von innen heraus zerstört. In dieser Situation entstand innerhalb der russischen revolutionären Sozialdemokratie ein Mittelweg zwischen der Geheimbündelei der Narodniki und den breiten sozialdemokratischen Massenparteien des Westens, den Lenin in seiner bekannten Broschüre »Was tun?« aus dem Jahre 1902 theoretisch formulierte.
Politisch sollte die revolutionäre Organisation auf die gesamte Arbeiterklasse ausgerichtet sein: Hilfe zur Selbsthilfe leisten, Kämpfe unterstützen und aufbauen, den Kampf behindernde Barrieren wie die Spaltungen nach Geschlecht, Religion, Hautfarbe, Nationalität einreißen und theoretische Arbeit in der Klasse leisten. Organisatorisch aber sollte die Partei allerdings nicht alle Teile der Klasse umfassen, sondern nur die politisch bewusstesten und fortschrittlichsten Arbeiterinnen und Arbeiter – was Lenin die »Avantgarde«, also Vorhut nannte. Aus diesem Gedanken machte Stalin später ein eisernes Gesetz, andere brandmarkten ihn als elitäres Parteikonzept.
Klassenbewusstsein und Revolution
Allerdings waren es die praktischen Notwendigkeiten, die damals eine politische Vorsortierung der Mitgliedschaft sinnvoll machten. Ein Beispiel: Antisemitismus war in Russland ein großes Problem – vor allem in der zaristischen Bürokratie und im Militär, aber er wirkte auch bis in die Arbeiterschaft hinein und spaltete sie. Eine revolutionäre Organisation, welche die Klasse im Kampf vereinen wollte, musste einen scharfen Kampf dagegen führen. Der wäre schlecht möglich gewesen mit einer Mitgliedschaft, die selbst antisemitische Vorurteile hat. Lenin schrieb daher, dass Arbeiter, wenn sie für höhere Löhne streiken, einfach Gewerkschafter seien. Erst wenn sie aus Protest gegen Angriffe auf Juden streiken, seien sie Sozialisten.
Das war nicht nur ein deutlicher Bruch mit den Auffassungen von Marx und Engels, sondern auch mit den sogenannten ökonomistischen Strömungen in der russischen Sozialdemokratie, welche die Arbeit der Revolutionäre auf soziale Forderungen beschränken wollten. Nach der von Lenin 1902 vertretenen Theorie bildet sich sozialistisches Bewusstsein in der Klasse nicht automatisch, sondern ist Produkt des bewussten Einwirkens einer organisierten revolutionären Minderheit auf die Mehrheit. In Lenins Zuspitzung klingt das so: »Das politische Klassenbewusstsein kann dem Arbeiter nur von außen gebracht werden.«
Lenin lernte anhand des Klassenkampfs
Im weiteren Verlauf seiner Polemik benennt Lenin, wer das Bewusstsein von außen bringt: »Die Lehre des Sozialismus ist aus den philosophischen, historischen und ökonomischen Theorien hervorgegangen, die von den gebildeten Vertretern der besitzenden Klassen, der Intelligenz ausgearbeitet worden sind.« Diese Gegenüberstellung von bewusstseinsgehemmten Arbeitern und erleuchteter Intelligenz ist falsch. Vielmehr entdeckte die Arbeiterklasse wesentliche Bausteine des Sozialismus im Kampf. Intellektuelle arbeiteten sie theoretisch auf. So folgerte Marx anhand der Pariser Kommune 1871, dass die Arbeiterklasse den bestehenden Staat nicht übernehmen kann, sondern zerschlagen muss.
Lenin wollte unbedingt eine feste, klar umrissene, politisch klare Organisation haben und hat dafür in »Was tun?« allerhand Argumente angeführt: richtige, wie die Notwendigkeit der Zusammenführung fortschrittlicher Arbeiterinnen und Arbeiter, um aufgrund klarer Prinzipien um die Mehrheit zu kämpfen. Und falsche, wie die Gegenüberstellung des vermeintlich nur gewerkschaftlichen Arbeiterbewusstseins gegen die fortschrittliche Intelligenz. Allerdings überlebte diese falsche Auffassung die nächste große Erschütterung nicht – die russische Revolution von 1905. Wieder lernte Lenin selbst anhand des Klassenkampfs.
Lenins Kehrtwende von 1905
Im Januar 1905 ermordeten zaristische Soldaten mehr als 1000 Menschen vor dem Winterpalast in Sankt Petersburg. Es folgte eine gigantische Erhebung in ganz Russland, die erst 1907 vollständig niedergeschlagen wurde. Der Prozess radikalisierte ganz neue Schichten, die Lenin unbedingt in seiner Organisation sammeln wollte. Dem entgegen stand der durchgreifende Erfolg seiner Vorstellungen von 1902. Nach diversen Konflikten und Spaltungen hatten Lenin und seine Leute unter dem Namen Bolschewiki tatsächlich eine sehr harte, zuverlässige und straff organisierte Truppe um sich gesammelt, die auch erste bescheidene Erfolge im Organisationsaufbau hatte.
Es stellte sich aber heraus, dass diese Truppe unflexibel im Umgang mit der neuen Situation war. Viele der leitenden Revolutionäre fürchteten den Zustrom von »Unerfahrenen«, die nicht genügend theoretisch ausgebildet seien. Um diese Haltung zu brechen, machte Lenin 1905 eine Kehrtwende: »Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Revolution den Arbeitermassen in Russland den Sozialdemokratismus beibringen wird (…). In einem solchen Augenblick drängt die Arbeiterklasse instinktiv zur offenen revolutionären Aktion (…) Die Arbeiterklasse ist instinktiv und spontan sozialdemokratisch (…)« – wobei sozialdemokratisch bei Lenin gleichbedeutend mit revolutionär ist.
»Die Wahrheit ist immer konkret.«
Nun wird auch bei Lenin das revolutionäre Bewusstsein nicht mehr von außen herangetragen, sondern entsteht spontan und mit solcher Wucht, dass die Bolschewiki aufpassen müssen, damit der Zug der Bewegung nicht an ihnen vorbeirauscht und sie keine Bindung zu den neu radikalisierten Arbeiterinnen und Arbeitern finden. Böswillige könnten behaupten, dass ein Theoretiker, der einmal dies behauptet und drei Jahre später das Gegenteil, ein Problem mit der Kohärenz seiner Gedanken hat. In Wirklichkeit zeigt diese Episode nur, dass Lenin fähig war, auf eine veränderte Lage auch zu reagieren, denn, wie er selbst sagte: »Die Wahrheit ist immer konkret.«
Eine Beschränkung auf die altgedienten Parteimitglieder hätte die Bolschewiki von der großen Bewegung abgeschnitten und dadurch das Ziel des Aufbaus einer revolutionären Partei der Arbeiterklasse untergraben. Also forderte Lenin: »Öffnet die Tore der Partei«, ohne allerdings die programmatischen Grundsätze und Prinzipien über Bord zu werfen. Der Verlauf der Revolution machte zudem neu radikalisierten Schichten bestimmte Dinge klar, weil sie offensichtlich waren: Die Brutalität und Unreformierbarkeit des Zarenregimes, die ängstliche Haltung der Bürgerlichen, die die Revolte mehr fürchteten als den Zaren, aber auch die potenzielle eigene Macht.
Leninistische Partei und stalinistische Karikatur
Nach Auseinandersetzungen in den eigenen Reihen über Mitgliedschaftskriterien und Fragen des Parteiaufbaus machten die Bolschewiki im Verlauf des Jahres 1905 enorme Fortschritte; vor allem, nachdem Lenin im November aus dem Exil zurückkehren konnte. Zu diesem Zeitpunkt zählten sie 8400 Mitglieder. Im April 1906 waren es 13.000 Mitglieder und 1907, als die Revolution endgültig niedergeschlagen wurde, waren die Bolschewiki mit 46.000 Mitgliedern der stärkste Flügel der russischen Sozialdemokratie. Es folgten dann wieder diverse Rückschläge. Dennoch verfügten die Bolschewiki bei Ausbruch der Revolution 1917 über eine in der Arbeiterklasse verankerte und handlungsfähige Partei.
Und was ist nun eine leninistische Partei? Die beiden Sprünge in der Organisationstheorie 1902 und im Verlaufe der Revolution 1905 lassen sich formelhaft als »Fest in den Prinzipien, flexibel in der Taktik« zusammenfassen. Die Umstände mögen sich seitdem geändert haben. Trotzdem ist jeder, der sich heute mit den Fragen des Aufbaus von Organisationen zum Kampf gegen den Kapitalismus befasst, gut beraten, sich mit den grundsätzlichen Ideen Lenins zum Parteiaufbau auseinanderzusetzen – aber nicht mit der stalinistischen Karikatur namens »Leninismus«.
Weiterlesen:
Rebels Guide: Wer war Lenin? | von Ian Birchall | ca. 80 Seiten | Zweite Auflage | EUR 4,50 | 2018
100 Jahre Oktoberrevolution | theorie21 | mit Beiträgen von Mike Haynes, Katrin Schierbach, Jan Maas, Tilman von Berlepsch, Robert Blättermann, Rhonda Koch, Kasper Ange und Sebastian Zehetmaier | 263 Seiten | 2017
Marxismus und Partei | von John Molyneux | 190 Seiten | 4,50 Euro | 2016
Foto: christophandre
Schlagwörter: Arbeiterklasse, bolschewiki, Bolschewismus, Klassenbewusstsein, Lenin, Leninismus, Marx, Marxismus, Menschewiki, Oktoberrevolution, Pariser Kommune, Russische Revolution, Russland, Stalin