Kaum ist der Zar gestürzt, kehrt Wladimir Iljitsch Lenin aus dem Exil zurück und fordert auch noch den Sturz der Provisorischen Regierung. Alan Gibson beschreibt die ausschlaggebende Rolle Lenins und seiner »Aprilthesen« vor 100 Jahren
»Das ist das Delirium eines Wahnsinnigen«, meinte Alexander Bogdanow über die Rede, die Wladimir Iljitsch Lenin nach seiner Ankunft auf dem Finnischen Bahnhof in Petrograd Anfang April 1917 hielt. Es war diese Rede, welche die Prawda am 20. April 1917 veröffentlichte und die unter dem Namen »Aprilthesen« bekannt wurde.
Nicht nur Bogdanow, ein ehemaliges Mitglied von Lenins bolschewistischer Fraktion, war schockiert über Lenins »Delirium«. Auch viele führende Bolschewiki in Petrograd und anderen Städten im Land waren beunruhigt und fassungslos über die Analyse Lenins und das Programm, das er vorlegte. Einer erinnerte sich später: »Lenins Thesen schlugen ein wie eine Bombe.«
Nach der Februarrevolution
Was hatte Lenin also gesagt und warum gewann es so sehr an Sprengkraft? Der Führer der Bolschewiki war fünf Wochen nach dem Sturz der dreihundert Jahre alten autokratischen Herrschaft der Romanows im Februar in Petrograd angekommen. Aus dem Aufruhr waren fast parallel zwei politische Machtzentren entstanden: die Provisorische Regierung, zusammengesetzt aus bürgerlichen Politikern und Gutsbesitzern einerseits, und die Arbeiter- und Soldatenräte, Sowjets, mit ihren Delegierten aus Kasernen und Betrieben der Stadt und des Hinterlands andererseits, die sich Schlachten mit der Polizei geliefert und in den fünf Aufstandstagen Barrikaden gebaut hatten.
Diese Zeit der Doppelherrschaft stellte beide Zentren vor ein Dilemma: Einerseits waren der Provisorischen Regierung weitgehend die Hände gebunden, wenn die Sowjets ihren Vorhaben nicht zustimmten. Andererseits glaubte die Führung der Räte trotz der großen Macht, die sie in Händen hielt, dass die Provisorische Regierung die Regierungsgewalt im Sinne einer historischen Etappe übernehmen sollte.
Zunächst kapitalistische Herrschaft
Zu diesem Zeitpunkt glaubte die Mehrheit – einschließlich vieler Bolschewiki – noch, mit dem Februaraufstand erreicht zu haben, was sie seit der gescheiterten Revolution von 1905 angestrebt hatten: eine bürgerlich-demokratische Revolution unter Führung der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft. Sie stützten sich dabei auf die Vorstellung, dass das russische Bürgertum zu schwach und zu feige war, um eine Revolution in eigenem Namen durchzuführen – wie sich durch sein Vorgehen, oder Nichthandeln – im Jahr 1917 erwies, dass Russland aber nach wie vor durch eine Phase kapitalistischer Herrschaft gehen müsse, um die Bedingungen für eine sozialistische Arbeiterrevolution zu schaffen.
Zu dieser Analyse kam ein weiterer Faktor, weshalb die Führung der Sowjets bereit war, die Macht zu übergeben: Anfangs stammte die Mehrheit der Delegierten in den Sowjets aus der Schicht des Kleinbürgertums, das sich lieber der Führung liberaler Politiker unterstellte. Die Sowjets änderten das: »Befehl Nummer 1« – »das einzige würdige Dokument der Februarrevolution«, wie Trotzki ihn nannte – erlaubte es immerhin, bei allen Truppenteilen Wahlkomitees zu schaffen, die Aufsicht über die Waffen zu übernehmen und sie »unter keinen Umständen den Offizieren auszuliefern«. Außerdem wurden »Ehrenbezeigungen und Titulierungen der Offiziere außerhalb des Dienstes« abgeschafft. (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/b1-kap14.htm)
Niederlage des eigenen Landes
Diese Sowjetführer wollten die Provisorische Regierung auch deshalb an der Macht sehen, weil es galt, die Errungenschaften der Revolution nicht nur gegen eine mögliche zaristische Konterrevolution zu verteidigen, sondern auch gegen eine deutsche Invasionsarmee. Das bedeutete, mit den kriegsverbündeten Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und der USA Abkommen zu schließen.
Gleichzeitig wären weiterhin Tausende Bauern als Soldaten auf das Schlachtfeld an der Front geschickt und die Lebensmittel rationiert worden, während das Kriegsgewinnlertum in Dörfern und Städten gedieh.
Für die Bolschewiki hätte das geheißen, ihr seit Ausrufung des Kriegs im Jahr 1914 verkündetes Prinzip aufzugeben, dem sie bis dahin treu geblieben waren, nämlich für die Niederlage des eigenen Landes einzutreten und den imperialistischen Krieg in einen Klassenkrieg zu verwandeln. In den Augen vieler hatte der Februar jedoch alles verändert: Ein Delegierter auf einer Konferenz der Bolschewiki wenige Tage vor Lenins Ankunft erklärte, »solange der Frieden nicht geschlossen ist, müssen wir unter Waffen bleiben. Wir verteidigen jetzt unsere soeben errungenen Freiheiten«.
Lenin kehrt aus dem Exil zurück
Vor diesem Schlamassel widerstreitender Ideen und Entscheidungen stand Lenin, als er am 16. April aus seinem Zug ausstieg und von Tausenden Soldaten, Arbeiterinnen und Arbeitern und einer Abordnung der Regierung und der Sowjets empfangen wurde. Nachdem ihm ein riesiger Blumenstrauß übergeben worden war, wurde er offiziell von Nikolai Tschcheidse begrüßt, einem Menschewik und zu jenem Zeitpunkt Vorsitzender des Exekutivkomitees der Petrograder Sowjets.
Tschcheidse sagte: »Wir sind der Ansicht, dass die Hauptaufgabe der revolutionären Demokratie jetzt in der Verteidigung unserer Revolution gegen alle Anschläge, von innen wie von außen, besteht … Wir hoffen, dass Sie gemeinsam mit uns diese Ziele verfolgen werden.« Ein »junger Flottenequipagekommandeur« äußerte den Wunsch, Lenin möge Mitglied der Provisorischen Regierung werden.
Epoche der sozialistischen Revolution
Nikolai Suchanow, ein führendes Mitglied des Petrograder Sowjets und Augenzeuge dieses Ereignisses, berichtete später: »Er stand da mit einem Ausdruck, als betreffe all das Geschehene ihn nicht im Geringsten: […] von der Delegation des Exekutivkomitees schon völlig abgewandt, ,antwortete‘ er: ,Liebe Genossen, Soldaten, Matrosen und Arbeiter! Ich bin glücklich, in eurer Person die siegreiche Russische Revolution zu begrüßen, euch als die Avantgarde der proletarischen Weltarmee zu begrüßen … Die Stunde ist nicht fern, wo auf den Ruf unseres Genossen Karl Liebknecht die Völker die Waffen gegen ihre Ausbeuter, die Kapitalisten, richten werden … Die Russische Revolution, von euch vollbracht, hat eine neue Epoche eingeleitet. Es lebe die sozialistische Weltrevolution …‘«
Danach wurde Lenin von einer jubelnden Menschenmenge zu dem vorläufigen Hauptquartier der Bolschewiki in einem der leerstehenden Palais der Stadt begleitet. Es wurden weitere Reden gehalten, bis Lenin laut Leo Trotzki »über dieses Auditorium mit einem reißenden Strom leidenschaftlicher Gedanken herfiel, die sehr häufig wie Geißelhiebe klangen. […] In Wirklichkeit war der Eindruck der Rede, selbst bei den Allernächsten, vorwiegend gerade der der Angst.« (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1930/grr/b1-kap15.htm)
Lenin präsentiert »Aprilthesen«
Am folgenden Tag präsentierte Lenin der Parteiversammlung der Bolschewiki eine kurze Darstellung seiner Ansichten, die »Aprilthesen«, die Trotzki später eins der wichtigsten Dokumente der Revolution nannte. In diesen erklärte Lenin:
- Es dürfe keine Zugeständnisse an die Unterstützung des imperialistischen Krieges geben.
- Russland befinde sich im Übergang von der ersten Etappe der Revolution zur zweiten Etappe der Revolution, »die die Macht in die Hände des Proletariats und der ärmsten Schichten der Bauernschaft« legen müsse.
- Es dürfe keine Unterstützung der Provisorischen Regierung geben: »Entlarvung der Provisorischen Regierung statt der unzulässigen, Illusionen erweckenden ,Forderung‘ dieser Regierung«.
- Nötig sei »Aufklärung der Massen darüber, dass die Sowjets der Arbeiterdeputierten die einzig mögliche Form der revolutionären Regierung« seien.
Lenin forderte weiterhin die Abschaffung von Polizei, Armee und Beamtenschaft; Entlohnung aller Beamten, die wählbar und jederzeit absetzbar sein sollten, nicht über den Durchschnittslohn eines guten Arbeiters hinaus; die Einziehung allen Landbesitzes, wobei die Verfügungsgewalt bei den Arbeiter- und Bauerndeputierten liegen sollte; die Verschmelzung der Banken zu einer Nationalbank und Kontrolle der Nationalbank durch die Räte; Kontrolle der Räte über die gesellschaftliche Produktion und Verteilung der Güter. (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/04/april.htm)
Brot, Frieden und Freiheit
Lenin sprach aber auch eine Warnung aus. Seit den Februarereignissen hatte Lenin, damals noch im Züricher Exil, Briefe an die Prawda geschickt, in denen er seine Ansichten zu den Ereignissen erläuterte und feststellte, dass die Februarrevolution seine bisherigen Überlegungen über den Haufen geworfen hatte.
In seinen fünf »Briefen aus der Ferne« warf er den Führern der Sowjets Verrat vor, weil sie der Arbeiterklasse sagten, sie müsse die Provisorische Regierung unterstützen. Er sprach von der Notwendigkeit, den Staatsapparat zu »zerschlagen« und diese »Maschine durch eine Organisation des bewaffneten Volkes« zu ersetzen, um die Revolution zu verteidigen, um die Sache von »Brot, Frieden und Freiheit« voranzubringen. (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/bri-fern/index.htm)
Den Warnungen war keine Beachtung geschenkt worden. Seine Thesen riefen bei den versammelten Delegierten im besten Fall Fassungslosigkeit hervor, im schlimmsten Fall Feindseligkeit. Lew Kamenew und Josef Stalin, die nach ihrer Entlassung aus der Verbannung während der Februarereignisse die Chefredaktion der Prawda übernommen hatten, reagierten besonders ablehnend. Kamenew erklärte, die Thesen enthielten keine »konkreten Handlungsanweisungen«, und er bestand darauf, dass die »Revolution eine bürgerliche, keine proletarische« sei. Viele Delegierte waren der Ansicht, Lenin habe den Kontakt mit Russland verloren und könne die Lage nicht einschätzen.
Wochen der Diskussion
In den folgenden Tagen jedoch rückte eine weitere wichtige Frage, die Lenin aufgeworfen hatte, in den Vordergrund: »Solange wir in der Minderheit sind, besteht unsere Arbeit in der Kritik und Klarstellung der Fehler, wobei wir gleichzeitig die Notwendigkeit des Übergangs der gesamten Staatsmacht an die Sowjets der Arbeiterdeputierten propagieren, damit die Massen sich durch die Erfahrung von ihren Irrtümern befreien«, hatte Lenin in den Aprilthesen festgehalten. (https://www.marxists.org/deutsch/archiv/lenin/1917/04/april.htm)
In der Partei hieß dies mehrere Tage Debatten auf informellen und formellen Versammlungen in ganz Petrograd mit Delegierten verschiedener Abteilungen der bolschewistischen Partei. Drei Wochen nachdem Lenin die große Mehrheit seiner Genossen mit seinen Thesen schockiert hatte, konnte er schließlich die Mehrheit der Delegierten auf der siebten gesamtrussischen Konferenz der Partei von seiner Position überzeugen.
Auf dem Weg zur Oktoberrevolution
Lenin konnte sich schließlich auch deshalb durchsetzen, weil es breite Proteste und große Demonstrationen gegen die Provisorische Regierung gab, die »den Weltkrieg bis zum endgültigen Siege« führen und sich die Beute mit den Verbündeten teilen wollte. Die Besatzung der Kriegsschiffe und die Soldaten in den Kasernen waren empört und innerhalb weniger Tage belagerten sie das Mariinskipalais, in dem die Regierung tagte. Diese Ereignisse zeigten, wie schnell Tausende Soldaten, Arbeiterinnen und Arbeiter, die zuvor die Regierung unterstützt hatten, sich revolutionären Ideen zuwandten, um die Krise zu lösen.
Die Bedeutung von Lenins Sieg kann gar nicht überschätzt werden. Die Bolschewiki hatten zwei Jahrzehnte lang zu den führenden linken Parteien gehört, und obwohl sie im Untergrund arbeiten mussten und ständig von Verhaftung, Gefängnis und Verbannung bedroht waren, hatten sie doch eine nicht unbeträchtliche Anhängerschaft unter Arbeiterinnen und Arbeitern gefunden, die durch ihre Arbeitskämpfe gestählt worden waren. Die Bolschewiki hatten bei ihnen Einfluss gewonnen und dies umso mehr, als die Revolution auf dem Weg zum Oktober mit immer neuen Krisen konfrontiert war.
Lenin kam in Petrograd an, als die Russische Revolution einen kritischen Punkt erreicht hatte. Seine Entschlossenheit, die Partei »umzubewaffnen«, wie Trotzki es nannte, die Diskussion in der Partei zu führen, rüstete die Bolschewiki nicht nur mit der Politik aus, immer mehr Unterstützung für den Umsturz zu gewinnen, sondern die Revolution im Oktober auch durchzuführen.
(Zuerst erschienen im Socialist Review: http://socialistreview.org.uk/423/how-lenin-set-course-october. Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning)
Schlagwörter: 1917, bolschewiki, Februarrevolution, Karl Liebknecht, Kommunismus, Lenin, Menschewiki, Oktoberrevolution, Revolution, Russische Revolution, Sozialismus, Trotzki