Der preisgekrönte russische Film »Leviathan« zeigt die Tragik des Alltags in Putins Russland. Nun läuft er auch in deutschen Kinos. Eine Besprechung von Phil Butland
Die goldene Palme in der Kategorie »bestes Drehbuch« in Cannes, eine Oscarnominierung und viele enthusiastische Kritiken gab es bereits für »Leviathan«. Nun ist der epische russische Film auch hierzulande zu sehen. Das neue Werk des Regisseurs Andrei Zvyagintsev ist sehr ambitioniert: Der Philosoph Hobbes wird ebenso erwähnt wie die Bibel, besonders das Buch Hiob. Die Musik stammt aus Philipp Glass’ »Echnaton«, einer Oper über den altägyptischen König.
Kolia hadert mit seinem Schicksal. Der Automechaniker soll seine Wohnung an den korrupten Bürgermeister Vadim verlieren. An dessen Wand prangt ein Portrait von Putin.
Auch die orthodoxe Kirche bietet Kolia keine Hilfe. Ein Priester beschwört ihn, wie Hiob sein Leid zu akzeptieren, dann würde ihm Gott ein langes Leben schenken. Doch der Geistliche selbst ist gut gekleidet und lebt in Wohlstand. Nicht einmal seiner Frau und seinem besten Freund kann Kolia mehr trauen. Wodka wird gesoffen, darauf folgt unglücklicher Sex und zuletzt gibt es einen Todesfall.
Kampf gegen Entfremdung
Den Mächtigen geht es blendend, während Kolia wie alle, die er kennt, erfolglos gegen die Entfremdung ankämpft. In einer Schlüsselszene feiern sie einen Geburtstag und schießen auf Fotos von ehemaligen russischen Präsidenten. Putin fehlt noch (»bis wir mehr historische Perspektive haben«), aber es wird deutlich, dass die Schützen eigentlich keinen Unterschied zwischen den Herrschenden sehen und sie alle hassen.
So verwundert es kaum, dass Regisseur Zvyagintsev Probleme mit den russischen Behörden bekommen hat. Der Kulturminister persönlich hat den Film als »antirussisch« denunziert und der kremltreue Politikwissenschaftler Sergei Markov nannte ihn »ein filmisches Anti-Putin-Manifest«. Laut dem russischen Medienportal Interfax drohen namentlich nicht genannte Funktionäre des Kulturministeriums damit, »Filme, die die Nationalkultur diffamieren« zu verbieten – offensichtlich haben sie »Leviathan« im Visier.
Finanzierung durch das Kultusministerium
Daher scheint es zunächst widersprüchlich, dass der Film bis zu 35 Prozent seiner Finanzierung von ebenjenem Kulturministerium erhalten hat und der russische Staat bei der Oscarvergabe hinter ihm steht. Manche Kritikerinnen und Kritiker behaupten, das Ministerium habe nicht geahnt, was für ein Film das werden würde. Ich glaube aber, es ist komplizierter.
Erstens weiß man im Ministerium, dass ein Erfolg bei den Oscars auf das Ansehen des russischen Staats abfärbt, auch, oder sogar besonders, wenn der Film der Regierung sehr kritisch gegenübersteht. Auf diesen Zusammenhang gehe ich auch kurz in dem Artikel »Kunst braucht Bewegung« in der aktuellen Ausgabe des marx21-Magazins ein.
Keine Gefahr für Putin
Zweitens bin ich davon überzeugt, dass der Film wegen seiner überaus pessimistischen Grundhaltung letztendlich keine Gefahr für Putin darstellt. Von Beginn an ist völlig klar, dass Kolia nicht gewinnen kann. Staat und Kirche sind zu mächtig.
Zvyagintsev ließ keinen Zweifel an seinem Standpunkt: »Es gibt zwar gesellschaftliche Debatten, aber die führen nirgendwo hin. Es ist absolut sinnlos, so zu tun, als hätten die Leute bei irgendetwas ein Mitspracherecht. Ich bin gerade 50 geworden und habe in meinem Leben noch nie gewählt. Denn ich bin fest davon überzeugt, dass das in unserem System überhaupt keine Auswirkungen hat.«
»Free Pussy Riot« steht auf dem Schild
Die Diskussion darüber, ob Wahlen in Putins Russland sinnvoll sind, überlassen wir besser den Russinnen und Russen. Aber es gibt doch auch Widerstand. Und der wird in einer kleinen Szene auch gezeigt. Kolia ist – wie immer – betrunken. Im Hintergrund sieht man einen Fernseher laufen. Plötzlich erscheint dort ein Schild: »Free Pussy Riot«. Ein paar Sekunden nur, dann ist es wieder verschwunden. Obwohl es eigentlich nicht in Zvyagintsevs Weltbild passt, erkennt er doch an, dass es Möglichkeiten gibt, sich zu widersetzen.
»Leviathan« ist ein mehrdeutiger Titel. Thomas Hobbes argumentierte in seinem gleichnamigen Buch aus dem Jahr 1651, dass alle Menschen dem König oder Staat ein wenig ihrer Freiheit opfern müssen, um eine friedliche und geordnete Gesellschaft zu schaffen. Neoliberal geprägte Politikwissenschaftler sehen im »Leviathan« eher einen bürokratischen Apparat, der Freiheit und Wohlstand vernichtet.
König Putin bleibt unangreifbar
Ursprünglich ist der »Leviathan« ein Seeungeheuer in der jüdischen und christlichen Mythologie. Am Ende des Films ist ein gestrandetes riesiges Walskelett zu sehen. Wir könnten das Skelett wie Percy Bysshe Shelleys Gedicht »Ozymandias« über die Überreste einer gigantischen Pharaostatue interpretieren – als Symbol einer alten Weltordnung, die von der Geschichte überholt wurde.
Darauf folgen Aufnahmen von Wellen, die beständig gegen Felsen rollen. Im Lauf von Jahrhunderten werden sie die Felsen aushöhlen, aber im Hier und Jetzt sind keine Veränderungen zu bemerken. Schon möglich, dass es mit der Oligarchie in Russland irgendwann einmal vorbei sein wird, aber heute bleibt König Putin unangreifbar, obwohl die Gesellschaft alles andere als friedlich und geordnet ist.
Pessimistische Weltanschauung
In Zvyagintsevs pessimistischer Weltanschauung ist kein Platz für schnellere Veränderungen. Deshalb ist sein Film von einem Gefühl der Ratlosigkeit bestimmt und es überwiegen Bilder düsterer Landschaften. Die Überzeugung des Regisseurs, dass es keine merkbaren Veränderungen geben kann, wirkt sich auf die künstlerische Ausdrucksweise aus: Das Tempo des Films ist oft sehr langsam, für meinen Geschmack zu langsam.
Grundsätzlich positioniert sich der Film aber trotzdem auf der richtigen Seite. Obwohl wir die mediale Hetze in Deutschland gegen Russland ablehnen sollten, verdeutlicht der Film, dass Putin auch kein Ansprechpartner für Sozialistinnen und Sozialisten sein kann. Er zeigt Arbeiterinnen und Arbeiter, die – teils aktiv, teils widerstrebend – eine Alternative zur Herrschaft der Oligarchen suchen. Insofern leistet »Leviathan« trotz seiner Schwächen einen wichtigen Beitrag zu dieser Debatte.
Schlagwörter: film, Kultur, Putin, Russland