Der mexikanische Präsident Andrés Manuel López Obrador hat große Ziele. Erreichen wird er sie nur mit Hilfe einer ebenso großen Bewegung, meint Hans Krause
Als Andrés Manuel López Obrador im Juli 2018 zum Präsidenten gewählt wurde, hatte er das politische System über den Haufen geworfen. Zum ersten Mal in der Geschichte Mexikos wurde weder der Kandidat der liberalen PRI noch der konservativen PAN Präsident, sondern López Obrador von der linken MORENA (Nationale Erneuerungsbewegung).
In den Jahren 1988 und 2006 wurde linken Kandidaten noch höchstwahrscheinlich mittels Wahlfälschung die Präsidentschaft gestohlen – 2006 traf es López Obrador selbst. Doch diesmal war der Vorsprung für Manipulationen zu groß: »AMLO«, wie er in Mexiko oft genannt wird, erreichte 53 Prozent der Stimmen, der zweitplatzierte Kandidat 22 Prozent.
Angriff auf korrupte Parteien
Seine Wahlkampagne richtete sich scharf gegen die herrschenden Parteien, besonders gegen die extrem korrupte PRI, die enge Verbindungen zu den Kartellen des Drogenkriegs hat. Er forderte unter anderem allgemeine Gesundheitsversorgung, kostenloses Internet für alle, kostenlose Schulen, Studienplätze und Stipendien für arme Menschen.
»Innere Sicherheit« ist in den meisten Regionen der Welt kein echtes Problem, sondern ein Thema, mit dem Politiker Angst verbreiten. In Mexiko ist sie jedoch eine Frage von Leben und Tod für alle Menschen.
Nach einer Untersuchung des Washingtoner Wilson Center sind im mexikanischen Drogenkrieg von 2006 bis 2018 etwa 270.000 Menschen ermordet worden. Das sind 61 Opfer pro Tag. Die meisten sind arme Menschen. Die Täter sind hauptsächlich Kartelle, die eng mit Polizei, Armee und Regierung verbunden sind.
Arbeitsplätze statt Armee
López Obrador forderte, den Drogenkrieg mit »abrazos, no balazos« (Umarmungen statt Kugeln) zu bekämpfen. Gemeint sind mit diesem Slogan Arbeitsplätze und höhere Löhne für die regionale Polizisten, damit sie nicht vom Bestechungsgeld der Kartelle abhängig sind. Der bisher massive Einsatz der Armee soll beendet und eine Wahrheitskommission zur Aufklärung der vom Staat angeordneten Morde gegründet werden.
Die Amtseinführung des Präsidenten im Dezember war dementsprechend unvergleichbar mit allen vorherigen. Während es sonst eine Zeremonie war, bei der sich die herrschende Klasse zu ihrer Macht gratulierte, kamen diesmal 160.000 Menschen auf den zentralen Platz von Mexiko Stadt, um das erste Mal »ihren« Präsidenten zu feiern mit Sprechchören wie »Präsident! Präsident!«, »Du bist nicht allein« und »Es ist eine Ehre, bei Obrador zu sein«.
»Danke, dass die Wahl nicht gefälscht wurden«
In seiner Einführungsrede »dankte« AMLO ironisch seinem böse dreinblickenden Vorgänger Pena Nieto dafür, dass er die Wahl diesmal nicht gefälscht habe. Der neue Präsident kündigte eine »Regierung des Volkes – der Arbeiter, der Bauern, der Ureinwohner« an, rief in einer Anspielung auf US-Präsident Trumps »America-First«-Parole: »Arme Menschen kommen zuerst« und erklärte, die neoliberale Wirtschaftspolitik seiner Vorgänger sei »ein Desaster« gewesen.
López Obrador kündigte zudem an, seine Regierung werde die »vierte Transformation Mexikos« sein: nach der Unabhängigkeit von Spanien 1821, der Entmachtung der Katholischen Kirche in den 1850er und der Mexikanischen Revolution in den 1910er Jahren. Um dies zu unterstreichen, öffnete er alle Räume des traditionellen Präsidentenpalastes für Besichtigungen und wohnt weiter in seinem Haus. Alle Flugzeuge des Präsidenten wurden verkauft. AMLO fliegt nur Economy-Klasse.
Der Präsident verdient 4900 Euro
In Umfragen hatte er mit 80 Prozent die höchsten jemals für einen Präsidenten gemessenen Beliebtheitswerte und sein Wahlbündnis erreichte auch in beiden Parlamentskammern die absolute Mehrheit. Es gibt eine Chance für Reformen und López Obrador hat in den ersten sechs Monaten seiner Präsidentschaft einige begonnen: Er stoppte den neuen Flughafen von Mexiko-Stadt, dessen Bau bis 2065(!) geplant war und schon nach heutiger Berechnung umgerechnet 12 Milliarden Euro gekostet hätte. Zum Vergleich: Die Kosten für den Berliner Skandal-Flughafen betragen nach jetziger Schätzung 7,3 Milliarden.
Zudem legte AMLO sein Präsidentengehalt auf monatlich umgerechnet 4900 Euro fest und das Parlament beschloss, dass kein Staatsangestellter oder -beamter mehr verdienen darf als er. Das ist besonders bedeutend, weil die Führer der bisher regierenden Parteien den Staat seit Jahrzehnten missbrauchen, um mit extrem hohen Gehältern reich zu werden.
So verdienten die Richter des Obersten Gerichtshofs bisher umgerechnet 28.000 Euro pro Monat in einem Land, in dem das Durchschnittsgehalt bei umgerechnet 280 Euro liegt. Deutsche Verfassungsrichter verdienen zum Vergleich 15.000 Euro monatlich.
Kein Angriff auf Reiche, Banken und Konzerne
Was López Obrador bisher jedoch nicht gewagt hat, ist die Besteuerung der Reichen, Banken und Konzerne, um den in einem Land wie Mexiko so dringend nötigen Sozialstaat aufzubauen.
Stattdessen wird Geld für soziale Programme ausgegeben, das an anderer Stelle gekürzt wurde. Während die staatliche Unterstützung für Rentner, Arbeitslose und den verarmten Süden Mexikos gestiegen ist, wurden Ausgaben für das schon jetzt unterfinanzierte Gesundheitssystem und Kinderbetreuung gestrichen. Während der Mindestlohn in ganz Mexiko auf umgerechnet 4,70 Euro und in der Grenzregion zu den USA auf 8,15 Euro pro Tag(!) angehoben wurde, senkte die Regierung gleichzeitig die Steuern speziell für Unternehmen an der Grenze.
Mehr Migranten festgenommen
Ebenso wenig hat AMLO sein Versprechen umgesetzt, Geflüchtete und Einwanderer zu unterstützen. Stattdessen wurden im April 79 Prozent mehr Migranten festgenommen als ein Jahr zuvor. Die Einwanderungspolitik wurde verschärft, nachdem US-Präsident Trump ihm erst mit Schließung der Grenze und dann mit Einfuhrzöllen drohte, sollte Mexiko Migrantinnen und Migranten nicht daran hindern, in die USA zu gelangen.
Dass López Obrador sich gegen seine eigene Überzeugung erpressen ließ, weist auf sein größtes strategisches Problem hin: Er betreibt die »vierte Transformation Mexikos« bisher überwiegend als Ein-Mann-Show. Obwohl AMLO zumindest mit Wahlkampagnen viel Erfahrung hat, versuchte er seit der Amtsübernahme noch kein einziges Mal, seine Partei MORENA mit 320.000 Mitgliedern, Gewerkschaften oder die Ureinwohner-Bewegung für einen gemeinsamen Kampf für Reformen zu gewinnen.
Keine Macht ohne Bewegung
Zwar ist der Umstand, dass die neue Regierung Streiks nicht für illegal erklärt ein großer Fortschritt gegenüber früher. Aber das allein wird nicht reichen, um das Leben der unter großer Armut, Drogenkrieg und Korruption leidenden Mexikaner dauerhaft zu verbessern.
Wenn López Obrador weiter nur auf die Kraft seines Amtes setzt, droht ihm ein ähnlicher Rechtsschwenk wie Alexis Tsipras in Griechenland.
Ohne eine große Bewegung im Rücken ist fast jede Regierung von in- und ausländischen Konzernen und Präsidenten erpressbar. Versuchen AMLO und seine Partei jedoch aus ihrer großen Wählerschaft entsprechende aktive Unterstützung für gerechte Politik aufzubauen, haben sie eine Chance.
20 Prozent Lohnerhöhung erstreikt
Erst im Februar haben 30.000 Fabrikarbeiter an der mexikanisch-us-amerikanischen Grenze, die meist weniger als 2,50 Euro pro Stunde verdienen, für höhere Löhne gestreikt. Die Streiks waren so erfolgreich, dass sie zur sogenannten »20/32-Bewegung« ausgeweitet wurden: 20 Prozent Lohnerhöhung und 32.000 mexikanische Pesos, entspricht 1500 Euro extra pro Jahr.
Im Rahmen dieser Bewegung drohten in der Region später auch 8000 Angestellte von Einzelhandelsketten mit Streik, der von den Unternehmen nur mit 5,5 Prozent Lohnerhöhung verhindert werden konnte.
Mit Hilfe solcher Bewegungen kann der neue linke Präsident von Mexiko vieles durchsetzen. Ohne sie ist er nicht an der Macht, sondern nur an der Regierung.
Foto: MarioDelgadoSi
Schlagwörter: Lateinamerika, Mexiko