Martin Luthers 95 Thesen wälzten Europa um. Luther trotzte der Macht von Papst und Kaiser. Doch er hetzte auch gegen die Rebellion der Armen und huldigte dem Obrigkeitsstaat. Chris Harman über die widersprüchliche Rolle des großen Reformators
Im Jahr 1517 veröffentlichte der 34 Jahre alte Mönch und Theologielehrer Martin Luther in Wittenberg seine 95 Thesen. Darin prangerte er den Ablasshandel der katholischen Kirche an. Mit einem Ablass konnten sich die Menschen damals von ihren Sünden loskaufen und sich einen Platz im Himmel sichern. Seine Tat wurde zum Auslöser der größten Spaltung der westlichen Kirche. Die Städte Süddeutschlands und der Schweiz – Basel, Zürich, Straßburg, Mainz – stellten sich hinter Luther, ebenso einige der mächtigsten deutschen Fürsten.
Schon bald gab es Anhänger in Holland und Frankreich und das trotz der Gegenmaßnahmen der Behörden, wie der Verbrennung von vierzehn lutheranischen Handwerkern auf dem Marktplatz von Meaux im Jahr 1546.
Luthers Angriff auf die Kirche
Luther begann mit theologischen Disputen über den Ablass, über Kirchenzeremonien, die Aufgabe der Priester als Vermittler zwischen den Gläubigen und Gott und über das Recht des Papstes, die Priesterschaft zu disziplinieren. Die katholische Kirche war aber ein so wesentlicher Bestandteil der mittelalterlichen Gesellschaft, dass diese Fragen unvermeidlich sozialen und politischen Charakter annehmen mussten. Faktisch griff Luther die Institution an, die in der Feudalordnung die ideologische Herrschaft ausübte. Wer aus dieser ideologischen Herrschaft seinen Nutzen zog, musste zurückschlagen.
Luther war ein brillanter Polemiker und verfasste ein Traktat nach dem anderen, in denen er seine Auffassungen darlegte. Er übersetzte die Bibel, was erheblich zur Entwicklung der deutschen Sprache beitrug. Doch das an sich erklärt noch nicht die weitreichenden Folgen seines Handelns. Es gab eine lange Tradition der Opposition zur römisch-katholischen Kirche mit ähnlichen Vorstellungen wie denen Luthers.
Seit zweihundert Jahren bestand die Untergrundkirche der Waldenser mit Anhängern in vielen europäischen Großstädten. Hussiten hatten hundert Jahre zuvor für ähnliche Ideen in Böhmen gekämpft, und in England gab es immer noch viele »Lollarden« (Laienprediger), Anhänger des Reformers Wyclif und seiner Lehren Ende des 14. Jahrhunderts. Diese Bewegungen hatten aber die Kirche und die bestehende Gesellschaft niemals ernsthaft gefährdet. Das war anders bei Luther und den Reformern wie Zwingli in Zürich und Calvin in Genf.
Eine Gesellschaft im Umbruch
Um zu verstehen, warum es dazu kam, müssen wir uns den nach der Krise des 14. Jahrhunderts einsetzenden übergreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel ansehen.
Zunächst gab es den langsamen, immer wieder unterbrochenen Fortschritt in den Produktionstechniken der Handwerker, Schiffsbauer und Heerestechniker, die Neuerungen aus Eurasien und Nordafrika aufgriffen und mit eigenen Entwicklungen verbanden. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts gab es eine Menge Gerätschaften, die im 12. Jahrhundert und oft noch im 14. Jahrhundert unbekannt gewesen waren. Dazu gehörten mechanische Uhren, Wassermühlen, Windmühlen, Hochöfen zur Herstellung von Gusseisen, neue Methoden des Schiffsbaus, Geräte zur Ortsbestimmung auf See, die Kanone und die Muskete für die Kriegsführung, die Druckerpresse zur Massenerzeugung von Schriften, die bis dahin nur als eifersüchtig gehütete Manuskripte in ausgewählten Bibliotheken lagen.
Diese technischen Errungenschaften waren unabdingbare Voraussetzung für alle weiteren Veränderungen. In der Frühphase des Feudalismus wurde für den unmittelbaren Gebrauch produziert – für den Lebensunterhalt der Bauernfamilie und das Luxusleben des Grundherrn. Jetzt begann sich die Produktion am Markt auszurichten.
Ab Mitte des 15. Jahrhunderts begannen die Preise zu steigen und der Lebensstandard der großen Masse fing an zu fallen. Die Reallöhne sanken ab Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Ende des 16. Jahrhunderts auf die Hälfte bis zu einem Drittel, während die Bauernschaft immer mehr unter Druck gesetzt wurde, verschiedenste Abgaben an die Grundherren zu zahlen.
Geschichtswissenschaftler haben eine Menge Zeit damit vergeudet, sich über die genaue Beziehung zwischen Kapitalismus und Protestantismus zu streiten. Eine ganze Schule in der Tradition des deutschen Soziologen (und Nationalisten) Max Weber behauptet, der Kapitalismus sei durch protestantische Werte geschaffen worden, ohne zu erklären, woher der angebliche protestantische »Geist« gekommen war. Andere Schulen haben behauptet, es habe gar keine derartige Beziehung gegeben, da viele der ersten Protestanten keine Kapitalisten waren und in den Gegenden Deutschlands, in denen der Protestantismus besonders tief verwurzelt war, eine »zweite Leibeigenschaft« entstand.
Die Verbindung zwischen beiden ist aber leicht zu erkennen. Technischer Wandel und neue Marktbeziehungen zwischen Menschen im Feudalismus brachten eine »gemischte Gesellschaft« hervor, den »Marktfeudalismus«, in dem beides ineinandergriff, es aber auch zu einem Zusammenstoß zwischen kapitalistischen und feudalen Denk- und Handelsweisen kam.
Aufgrund der Überlagerung der Feudalstrukturen mit den Strukturen des Markts musste die Mehrheit der Menschen unter den Mängeln beider Systeme leiden. Ein sich ausdehnender Überbau der Konsumtion der herrschenden Klasse destabilisierte die Grundlage bäuerlicher Produktion – und im Verlauf des 16. Jahrhunderts geriet die Gesellschaft in eine neue Krise, in der sie zwischen Fort- und Rückschritt zerrissen wurde.
Kirche in Unordnung
Jede Klasse der Gesellschaft war deshalb in Verwirrung gestürzt und alle versuchten sich an ihre alten religiösen Glaubenssätze zu klammern, nur um dabei feststellen zu müssen, dass auch die Kirche in Unordnung war. Die Menschen konnten mit dieser Situation nur zurechtkommen, wenn es ihnen gelang, ihre noch aus dem alten Feudalismus stammenden Ideen neu zu formulieren. Leute wie Luther, Zwingli, Calvin, John Knox – sogar Ignatius von Loyola, der den Jesuitenorden gründete und sich an die Spitze der katholischen Gegenreformation stellte – boten ihnen einen solchen Weg an.
Martin Luther und Johannes Calvin hatten nicht die Absicht, revolutionäre Bewegungen oder auch nur Bewegungen für gesellschaftliche Reformen ins Leben zu rufen. Sie waren allerdings bereit, die bestehende religiöse Ordnung radikal herauszufordern. Für sie handelte es sich jedoch um eine theologische Auseinandersetzung über die Entstellung der in der Bibel dargelegten Lehren Jesu und der Apostel durch die katholische Kirche. Was zählte, betonten sie, war der »Glaube« des Einzelnen, nicht die Vermittlung von Priestern oder »gute Taten«, und schon gar nicht solche, die mit Geldzahlungen an die Kirche verbunden waren. Die Palette katholischer Heiliger, die in Gestalt von Statuen und Schreinen angebetet wurden, war nichts Geringeres als ein Götzendienst an der biblischen Botschaft. Wegen solcher Fragen waren die ersten Protestanten bereit, große Risiken auf sich zu nehmen, selbst wenn die Strafe für Ketzerei öffentliche Verbrennung bei lebendigem Leib hieß.
In gesellschaftlichen Fragen waren Luther und Calvin allerdings konservativ gestimmt. Im Jahr 1521, als die Reichsoberen Luthers Kopf forderten, bestand dieser darauf, der Obrigkeit in Fragen, die nicht die Religion betrafen, Folge zu leisten: »Denn Aufruhr hat keine Vernunft. Deshalb sind Obrigkeit und Schwert eingesetzt, die Bösen zu strafen und die Frommen zu schützen.«
Dennoch gaben ihre Lehren den Anstoß für gesellschaftliche Kämpfe, in denen sie sich auf die eine oder andere Seite stellen mussten.
Luther vor dem Reichstag zu Worms
Luther, zunächst Mönch, dann Theologieprofessor, gehörte zur »humanistischen« Renaissance, die sich über Europa verbreitet hatte, und konnte Einzelne aus diesem Milieu für sich gewinnen. Er verschaffte sich auch den Schutz mächtiger Personen wie des Kurfürsten Friedrich von Sachsen, der seine eigenen Händel mit der Kirche hatte. Der wirkliche Grund für die geschwinde Verbreitung seiner Lehren in den 1520er Jahren in Süddeutschland lag aber darin, dass sie eben die unzufriedenen Schichten ansprachen, denen Luther so misstraute.
Die städtische Reformation erfasste die süddeutschen und Schweizer Städte, nachdem Luther berühmt geworden war, weil er sich im Jahr 1521 auf dem Reichstag zu Worms dem Kaiser widersetzt hatte. Die Städte wurden von alten Oligarchien aus den Familien reicher Kaufleute und des niederen Adels regiert. Sie hatten Rat und Senat seit Generationen beherrscht. Viele der Oligarchien hatten ihr eigenes Hühnchen mit der Kirche zu rupfen – zum Beispiel, weil die Geistlichen für sich Steuerbefreiung beanspruchten und andere umso mehr zahlen mussten. Die Stadträte fürchteten zudem die Macht der lokalen Fürsten. Gleichzeitig fanden sie Mittel und Wege, sich einen Teil des Kirchenzehnten selbst anzueignen. Sie suchten eher den schrittweisen Wandel, der ihnen vermehrten Einfluss auf das religiöse Leben der Stadt und Zugriff auf die Kirchengelder ermöglichte, ohne größere Unruhen zu riskieren.
Unterhalb dieser sozialen Schicht aber befand sich eine große Zahl Krämer und Handwerker – und auch Priester, Nonnen und Mönche aus Handwerkerfamilien –, die es leid waren, für eine Geistlichkeit zu zahlen. Durch ihre Agitation wurde der Sieg der Reformation von Stadt zu Stadt getragen. In Erfurt kam es zum Pfaffensturm mit der Demolierung von Häusern der Geistlichen, beteiligt waren Studenten und Handwerker, nachdem Martin Luther im Jahr 1521 durch die Stadt gekommen war. In Basel forderten die Weber, das Evangelium solle nicht allein mit dem Geist erfasst werden, »sondern auch mit den Händen greifbar sein«. Die Gelder für die Kirchenbeleuchtung sollten einem »anderen Armen, dem es in der Winterszeit an Holz, Licht und anderen notwendigen Dingen mangelt«, zukommen. In Braunschweig, Hamburg, Hannover, Lemgo, Lübeck, Magdeburg, Memmingen, Mühlhausen, Stralsund und Wismar zwangen »Ausschüsse« der Handwerker und Krämer die Stadträte zur Umsetzung religiöser Neuerungen. Wittenberg wurde »von Konflikten zerrissen und war den Bilderstürmern anheimgefallen«. Auf diese Weise gingen zwei Drittel der Reichsstädte Deutschlands zu der neuen Religion über. Luther schrieb den Erfolg seiner Lehre dem göttlichen Willen zu. In Wirklichkeit war es Klassenbewusstsein in Zeiten der Wirtschaftskrise, weshalb die Menschen zur Aufnahme seiner Lehren bereit waren.
Den Stadträten und Senaten gelang meist die Umsetzung einiger Reformen und sie konnten die Unruhen wieder eindämmen.
»Revolution des gemeinen Mannes«
Am Ende des Jahres 1524 brach eine zweite und sehr viel gewaltsamere Bewegung aus, bekannt als »Bauernkrieg« und »Revolution des gemeinen Mannes«. Im vorhergehenden halben Jahrhundert hatte es bereits eine Reihe lokal begrenzter ländlicher Unruhen in Süddeutschland gegeben. Jetzt wirkten die Nachrichten von den religiösen Wirren in den Städten wie ein Brennglas für die aufgestaute Verbitterung.
Spontan bildeten sich Armeen aus Tausenden, ja Zehntausenden Bauern und trugen die Bewegung von einem Gebiet zum nächsten, als sie durch die Süd- und Mittelgebiete des Reichs zogen, Klöster plünderten, Burgen angriffen und die Städte für ihre Sache zu gewinnen suchten. Die Feudalherren und Bischöfe wurden völlig überrascht und versuchten die Aufständischen durch Verhandlungen zu besänftigen, während sie gleichzeitig die Kurfürsten um Hilfe anflehten.
Den Aufständischen gelang die Einnahme einiger Städte und andere konnten sie auf ihre Seite ziehen. In Heilbronn stand der Magistrat so sehr unter dem Druck der Bürger und »namentlich der Weiber«, dass er den Aufständischen die Stadttore öffnete, die dann alle Konvente und geistlichen Einrichtungen besetzten. So konnten die Aufständischen die Kontrolle über Städte wie Memmingen, Kaufbeuren, Weinberg, Bermatingen, Neustadt, Stuttgart und Mühlhausen übernehmen.
Überall stellten die Rebellen Listen mit Beschwerden auf. Eine dieser Listen bestehend aus zwölf Artikeln, die von Bauern in der Umgebung Memmingens aufgestellt worden waren, entwickelte sich geradezu zu einem nationalen Manifest der Erhebung und wurde immer wieder nachgedruckt.
Das Manifest begann mit religiösen Forderungen, die für die große Mehrheit der Menschen besonders dringlich waren: das Recht der Gemeinden, ihre Pfarrer zu wählen und über die Verwendung des Zehnten selbst zu entscheiden. Weiterhin aber wurden Forderungen aufgestellt, die die Lebensgrundlage der Bauern betrafen, wie die Abschaffung der Leibeigenschaft, die Beseitigung verschiedener Abgaben an den Grundherrn, die Rückgabe widerrechtlich angeeigneten Gemeindelands, Aufhebung des Jagd-, Angel- und Holzsammelverbots und Beendigung der willkürlichen Gerichtsstrafen.
Das war kein revolutionäres Programm. Dahinter stand die Hoffnung, der Adel ließe sich überreden, sich der Sache der Bauern anzunehmen.
Dennoch stellten gerade die einfachsten Forderungen der Bauern einen Angriff auf die gesamten Grundlagen der Herrschaft von Kurfürsten und Adel dar.
Die Adelsschicht konnte keine Zugeständnisse machen, die ihre eigene Klassenstellung gefährdeten. Während sie sich also verhandlungsbereit zeigten, begannen die Grundherren ihre Landsknechtsheere zusammenzustellen. Im April 1525 schlugen sie los. Tausende – einige vermuten bis zu Hunderttausend – Bauern wurden getötet.
Luther und der Bauernkrieg
Luther war entsetzt über den Aufstand. Er warf sich ohne Schwanken hinter die Grundherren, ebenso wie Zwingli oder Melanchthon. Er schrieb das Traktat: »Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern«, worin er die Herren drängte, mit größter Härte Rache an den Aufrührerischen zu nehmen. In einem Brief betonte er: »Ich bin der Meinung: es ist besser, daß alle Bauern erschlagen werden als die Fürsten und die Obrigkeiten.«
Es gab aber auch protestantische Priester, die sich mit Leib und Seele dem Aufstand verschrieben. Der bekannteste war Thomas Müntzer. Er hatte an der Universität studiert und den Doktorgrad erworben. Zunächst stellte er sich bei den ersten Auseinandersetzungen Luthers mit dem Papst und dem Kaiser an dessen Seite. Schon etwa drei Jahre später begann er Luther wegen seiner Kompromissbereitschaft anzugreifen. Bald gingen seine eigenen Schriften und Predigten über religiöse Fragen hinaus und er wetterte gegen die Unterdrückung der Massen. Die Erfüllung des Christentums hieß für ihn jetzt revolutionärer irdischer Wandel: »Es ist der allergrößt Greuel auf Erden, daß niemand der Dürftigen Not sich will annehmen.« Die Ursache des »Wuchers, der Dieberei und Räuberei« seien »unser Herrn und Fürsten«. Dazu sage Luther nur: »Amen.« Müntzer befand: »Die Herren machen das selber, dass ihnen der arme Mann feind wird.«
Mit solchen Worten zog Müntzer den Zorn der Obrigkeit auf sich und er musste den meisten Teil des Jahres 1524 untertauchen, reiste durch das Land und baute kleine Geheimbünde auf. Luther drängte die Kurfürsten, gegen Müntzer vorzugehen. Selbst heute behandeln ihn die meisten Historiker mehr oder weniger als einen Wahnsinnigen. Das einzig »Wahnsinnige« bei Müntzer war aber, dass er die Sprache der Bibel benutzte, die fast allen Denkern seiner Zeit geläufig war, nicht um die Klassenherrschaft zu stärken, sondern sie zu bekämpfen.
Als der Aufruhr losbrach, machte Müntzer sich auf den Weg nach Mühlhausen im thüringischen Bergbaugebiet. Dort stürzte er sich sofort in die Arbeit, um gemeinsam mit radikalen Flügeln der Stadtbürger die Stadt als Hochburg der Revolution zu verteidigen. Er wurde gefangen genommen, auf dem Streckbett gefoltert und im Alter von 28 Jahren geköpft, nachdem die Aufständischenarmee bei Frankenhausen von dem lutherischen Landgrafen Philipp von Hessen und dem katholischen Herzog Georg von Sachsen geschlagen worden war.
Die Niederschlagung des Aufstands hatte einschneidende Folgen für die gesamte Gesellschaft Deutschlands. Danach war die Stellung der Kurfürsten erheblich gestärkt. Die geringeren Ritter, wie Götz von Berlichingen, denen die wachsende Macht der Kurfürsten missfiel, zeigten zu Beginn sogar gewisse Sympathie mit den Aufständischen. Jetzt sahen sie in den Kurfürsten die Garanten der fortgesetzten Ausbeutung der Bauernschaft. Auf ähnliche Weise galten den Stadtoberen die Kurfürsten am Ende als Schutzschild gegen die Erhebungen. Selbst den kleineren Bürgern fiel es nicht schwer, sich mit den Siegern über einen Aufstand zu versöhnen, dem sie sich aus Feigheit nicht angeschlossen hatten.
Mit der Anerkennung der neuen und gestärkten Macht der Kurfürsten nahm die städtische Ober- und Mittelschicht auch hin, dass es nicht ihre Interessen waren, die die zukünftige deutsche Gesellschaft prägen sollten.
Opfer der Feigheit
Der deutsche Protestantismus war eins der Opfer dieser Feigheit. Das Luthertum hatte sich selbst zum Gefangenen der Geschichte gemacht, als es die Fürsten zum Handeln drängte. Die Furcht der Lutheraner vor dem Aufstand ließ sie die alte Disziplin wieder einführen. Einer der engsten Bundesgenossen Luthers, Philipp Melanchthon, forderte eine weitere Einschränkung der Freiheiten, denn es sei nötig, dass »ein solch wild, ungezogen Volk als Teutschen sind, noch weniger Freiheit hette, dann es hat«. Diese Disziplin erzwangen jetzt die Kurfürsten. Das Luthertum entwickelte sich nach der Niederlage der Aufstände zu einer doppelt nützlichen Waffe. Einerseits konnte es gegen den katholischen Kaiser gewendet werden, der die Fürstenmacht beschneiden wollte, andererseits diente es der ideologischen Kontrolle der von ihnen ausgebeuteten Schichten. Auf diese Weise wurde eine Religion, deren Nährboden die Krise des deutschen Feudalismus gewesen war, in Gegenden Nord- und Ostdeutschlands, wo die Bauern wieder in die Leibeigenschaft gezwungen wurden, zum offiziellen Glaubensbekenntnis – so wie das Christentum selbst als Reaktion auf die Krise des römischen Reichs aufgekommen war, nur um sich in die Ideologie eben dieses Reichs zu verwandeln.
Der Autor:
Chris Harman (1942–2009) war ein britischer Sozialist und Autor. Bei vorliegendem Text handelt es sich um einen Auszug aus seinem Buch »Wer baute das siebentorige Theben? Wie Menschen ihre Geschichte machen«, das Ende 2016 im Laika-Verlag erschienen ist.
Foto: Abode of Chaos
Schlagwörter: Christentum, Kirche, Reformation