Gewaltlosigkeit, Ghettoaufstände und Klassenfrage: Michael Ferschke über die Stärken und Schwächen der politischen Strategie von Martin Luther King und die Radikalisierung der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen in den USA
Die Bewegung der amerikanischen Schwarzen für Gleichberechtigung war ein direkter Vorläufer und ein Bestandteil der 68er-Revolte in den USA. In den 50er Jahren trat diese Bewegung gegen den tief verankerten Rassismus in den Südstaaten an. Ende der 60er Jahre erreichte der Unmut über die Unterdrückung der Schwarzen auch die Ghettos der Großstädte im Norden der USA. Diese Entwicklung ging einher mit einer Radikalisierung der Bewegung. Das anfängliche Bündnis mit dem liberalen Bürgertum zerbrach, als die Schwarzen damit begannen, grundsätzliche soziale Veränderungen einzufordern.
Gewaltiger sozialer Wandel
Die lange Expansions- und Wachstumsphase des Kapitalismus seit Ende der 30er Jahre veränderte die Lebenssituation der Schwarzen in den USA nachhaltig. Angetrieben von den technologischen Fortschritten in der Landwirtschaft und der Konzentration von industrieller Produktion und Verwaltung fand eine massive demographische Verschiebung statt. Alleine in den Jahren 1956-1967 stieg die Arbeitsnachfrage außerhalb des Agrarsektors in den Vereinigten Staaten um 25 Prozent – das entspricht einem Zuwachs um 13 Millionen Jobs. Mehr und mehr Schwarze lebten nicht länger auf dem Lande, wo sie als Farmarbeiter oder Hausangestellte gearbeitet hatten, sondern zogen in die Städte, um dort neue Jobs in der Industrie zu übernehmen. In den 60er Jahren lebte erstmals auch im Süden die Mehrheit der Schwarzen in städtischen Gebieten, im Norden waren es bereits über 90 Prozent.
Aus diesen sozialen Veränderungen speiste sich die Dynamik der Bürgerrechtsbewegung in den 50er und 60er Jahren – sie verbesserten die Ausgangsbedingungen für einen kollektiven Kampf der Schwarzen gegen den Rassismus. Im Süden forderte die Bürgerrechtsbewegung zunächst die formale Gleichstellung: Abschaffung der Rassentrennung und das Wahlrecht. Die Welle von Ghettoaufständen in den amerikanischen Großstädten warf schließlich auch ein Schlaglicht auf die drastische soziale Diskriminierung der Schwarzen in ganz Amerika.
King und die Bürgerrechtsbewegung
In den früheren Sklavenhaltergesellschaften des Südens herrschte auch Jahrzehnte nach der Niederlage im Bürgerkrieg (1865) ein institutionalisierter Rassismus vor. Durch die so genannten „Jim Crow«-Gesetze wurde die Rassentrennung manifestiert. Diese Gesetze schrieben unter anderem getrennte Räume, Sitzplätze und Toiletten für Weiße und Schwarze in Schulen, Restaurants, Bussen und Bahnen, sowie auf öffentlichen Plätzen vor – die privilegierten Plätze waren dabei jeweils für Schwarze versperrt. Auch das Wahlrecht wurde den Schwarzen verweigert.
In den 50er Jahren bauten schwarze Aktivisten und liberale Weiße unter der Führung des schwarzen Predigers Martin Luther King eine Bürgerrechtskoalition auf. Kings Strategie zielte auf ein Zusammenspiel von schwarzem Mittelstand und der Demokratischen Partei ab. Mittels spektakulärer gewaltfreier Aktionen sollte die Unterstützung der demokratisch geführten Bundesregierung erwirkt werden, damit diese sowohl die rassistische Gesetzgebung als auch die dazugehörige Alltagspraxis von Behörden und Bewohnern der Südstaaten zu Fall bringen würde.
In der Tat war der Kampf um Gleichberechtigung im Süden mit massiven physischen Auseinandersetzungen verbunden. Die Kombination aus dem Prinzip der Gewaltlosigkeit und der Hoffnung auf die Unterstützung durch die Staatsmacht des Nordens war dabei eine zentrale Schwäche von Kings Strategie. Denn wo diese Unterstützung durch die Bundesregierung ausblieb, riskierten die Bürgerrechtsaktivisten Leib und Leben.
Die Gewalt des rassistischen Mobs
Ein Beispiel hierfür stellte die 1961 gestartete Kampagne zur Desegregation der Buslinien in den Südstaaten der USA, die „Freedom Rides« (Freiheitsfahrten), dar. Schwarze und weiße, vorwiegend studentische Aktivisten fuhren mit den Greyhound-Linienbussen durch die Südstaaten, um dort ein Zeichen gegen die Rassendiskriminierung zu setzen. Die teilnehmenden Aktivisten stießen jedoch im Mai 1961 in Alabama auf wütende Mobs weißer Rassisten und wurden brutal zusammengeschlagen.
Noch massivere Ausschreitungen gab es bei den groß angelegten Aktionen zur Registrierung der Schwarzen als Wähler in Mississippi 1964 – dem „Mississippi Freedom Summer«. Knapp 1.000 vorwiegend weiße Aktivisten waren aus dem Norden angereist – unter ihnen viele der späteren führenden Aktivisten der Studentenbewegung. Schon zu Beginn der Kampagne waren drei der Angereisten von Rassisten in der Nähe von Philadelphia ermordet worden. Während der folgenden zwei Monate töteten Gegner der Bürgerrechtsbewegung weitere drei Menschen, verprügelten etwa 80 und verübten Brandanschläge auf 53 Kirchen und 30 weitere Gebäude.
Meist kamen nach solchen Eklats die Rassisten ungeschoren davon, während die Polizei die Bürgerrechtler kriminalisierte. Dies führte in den Reihen der Aktivsten zu Enttäuschung und Verbitterung gegenüber der Demokratischen Regierung – gerade weil der Justizminister Robert F. Kennedy für die Wahlregistrierungsaktivitäten Unterstützung durch die Bundesbehörden zugesagt hatte. Diese schauten jedoch häufig nur tatenlos zu, wenn die lokalen Polizeikräfte gegen die Bürgerrechtler vorgingen. Angesichts solcher Erfahrungen stellten viele Aktivisten auch das von Martin Luther King erhobene Prinzip der Gewaltlosigkeit in Frage.
Welche Gleichberechtigung?
Die massiven Mobilisierungen der Bürgerrechtsbewegung entfalteten einen so großen Druck auf die amerikanische Regierung, dass bis Mitte der 60er Jahre die formale Rassentrennung in den Südstaaten durch diverse Gleichstellungsgesetze beendet wurde.
Durch die formalrechtliche Gleichstellung verbesserte sich jedoch nur für einen Teil der schwarzen Bevölkerung die Lebenssituation ausreichend. Am meisten profitierte die schwarze Mittel- und Oberschicht, weil sich für sie nun Wege zur politischen Integration eröffneten – unter andrem in der Demokratischen Partei. Die Probleme der schwarzen Arbeiterklasse, der Niedrigverdiener und Arbeitslosen, waren allerdings weniger in der fehlenden juristischen Gleichstellung als vielmehr in der dramatischen sozialen Ungleichheit verwurzelt.
1966 betrug das Durchschnittseinkommen einer schwarzen Familie nur 58 Prozent dessen einer weißen. Das zeigte sich besonders in Großstädten wie Detroit, Los Angeles, New York oder Washington. Die Mehrheit der Schwarzen lebte dort weiterhin de facto in Segregation: in vorwiegend von Schwarzen bewohnten ärmlichen Wohngegenden, mit vorwiegend von Schwarzen besuchten schlecht ausgestatteten Schulen und sie bekamen bestenfalls schlecht bezahlte Jobs mit lausigen Arbeitsbedingungen. Über 25 Prozent der schwarzen Jugendlichen waren Arbeitslos. Diese Jugendlichen waren zudem häufig Schikanen durch die weiße Polizei ausgesetzt.
Ghettoaufstände und Klassenfrage
Die Wut über diese Zustände entlud sich ab 1964 jährlich in einer Welle von Ghettoaufständen. Die konkreten Auslöser waren zumeist brutale Polizeiübergriffe auf schwarze Jugendliche. Die heftigsten Auseinandersetzungen fanden im Sommer 1967 in Detroit statt: ganze Häuserblocks standen in Flammen und die Armee marschierte mit Panzern und Hubschraubern ein. 40 Menschen wurden getötet – hauptsächlich durch die Armee. Es gab 2.250 Verletzte und 4.000 Menschen wurden verhaftet.
Die von Martin Luther Kings geschmiedete Koalition zerbrach an der Frage der sozialen Diskriminierung der Schwarzen. Ein Teil der schwarzen Mittelschicht zeigte sich mit den erreichten Erfolgen zufrieden und hatte kein Interesse an weiteren Mobilisierungen. Die weißen Liberalen aus der Demokratischen Partei wandten sich ebenso ab, weil sie nicht bereit waren, dem Kapital die Reichtümer abzutrotzen, die für die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit nötig gewesen wären.
Ein von der Regierung in Auftrag gegebener Report zur Analyse der Ghettoaufstände von 1968 schlug der Regierung als Konsequenz Investitionen in Höhe von 30 Milliarden Dollar vor: für Sozialprogramme, Wohnungen, Schulen usw. Der demokratische Präsident Johnson räumte daraufhin ein, dass der Kongress Mittel in solcher Höhe nicht bewilligen würde.
Gleichzeitig ließ Johnson den Krieg in Vietnam immer weiter eskalieren. King sprach sich erstmals 1967 öffentlich gegen den Krieg aus und verknüpfte diese Position mit der sozialen Frage indem er thematisierte, dass Milliarden Dollar in einen unsinnigen Krieg verheizt würden, während zu Hause das Geld für nötige Sozialprogramme fehle. Bereits ein Jahr zuvor hatte der Schwergewichts-Boxweltmeister Muhammad Ali die Verbindung zwischen dem Krieg und der Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung in den USA gezogen, als er die Einberufung zur Armee mit den Worten verweigerte: „Kein Vietnamese hat mich je ‚Nigger‘ genannt«.
King wird zur Bedrohung für die Herrschenden
Als deutlich wurde, dass die Demokraten Martin Luther King weder in seiner Ablehnung des Vietnamkriegs noch im Kampf für soziale Gleichheit unterstützen würden, versuchte dieser eine neue Bewegung von unten aufzubauen. Nun wurde er zu einer Bedrohung für die Herrschenden, sie setzten sogar das FBI auf ihn an. Die Suche nach Bündnispartnern führte King im April 1968 nach Memphis, wo 1.300 schwarze Müllarbeiter für die Anerkennung ihrer Gewerkschaft kämpften. Zu seiner Rede versammelten sich 15.000 Menschen. King machte zuerst klar, dass der Kampf um Gleichberechtigung mit der Umverteilung des Reichtums verbunden sei. Dann empfahl er den Zuhörern, dass sie in einem gemeinsamen Streik ganz Memphis lahm legen sollten. Die Aktion wurde für den 8. April geplant. Am 4. April wurde King in Memphis auf dem Balkon seines Hotels erschossen.
Nach der Ermordung Kings kam es zu den massivsten Ghettorevolten der US-Geschichte, mit Aufständen in über 100 amerikanischen Städten. Martin Luther Kings Projekt einer breiten Koalition für soziale Gleichheit blieb unvollendet.
Eine neue Linke trat auf den Plan, um den Jugendlichen in den Ghettos eine radikale politische Orientierung zu bieten. Sie lehnten Kings Prinzip der Gewaltlosigkeit ab und strebten stattdessen die Organisation einer bewaffneten Selbstverteidigung der Schwarzen gegen die Diskriminierung durch die Polizei an. Die wichtigste Kraft hierbei war die Black Panther Party. Sie knüpfte an die Ideen des 1965 ermordeten Schwarzenführers Malcolm X an und erweiterte sie um ein revolutionär-sozialistisches Selbstverständnis.
Foto: Thomas Hawk
Schlagwörter: Black Panther Party, Bürgerrechtsbewegung, Malcolm X, Martin Luther King, Rassismus, USA, Vietnam