In der Geschichte der sozialistischen Arbeiterbewegung wurde intensiv über das Verhältnis von Linken zu nationalen Befreiungsbewegungen diskutiert. Wir werfen einen Blick zurück und stellen vor, wie Marx, Engels, Luxemburg und Lenin die Diskussionen um die nationale Frage führten. Von Gabi Engelhardt
Marxismus unterscheidet sich radikal von jeder Spielart nationalistischer Ideologie. Im Kommunistischen Manifest schreiben Marx und Engels: »Die Arbeiter haben kein Vaterland«. Sie sahen den Hauptkonflikt nicht zwischen den Nationen, sondern zwischen den Klassen: zwischen der internationalen Arbeiterklasse und der internationalen Kapitalistenklasse. Nationalist:innen sehen es genau umgekehrt: Die Welt ist aus ihrer Sicht in Nationen gespalten. Für Nationalist:innen kommen die nationalen Interessen vor den Interessen von Klassen, die bei ihnen wenn überhaupt nur eine untergeordnete Rolle spielen. Für den Nationalismus in seinen verschiedenen Formen müssen Arm und Reich »zusammenstehen«: Arbeiter:innen und Kapitalist:innen haben demnach ein gemeinsames Interesse – die Nation. Der Klassenkampf der Vielen stellt für den Nationalismus eine große Gefahr dar, weil er die Einheit der Nation unterhöhlt.
Marx, Engels und die nationale Befreiungsbewegung
Trotz ihrer prinzipiellen Ablehnung des Nationalismus unterstützten Marx und Engels aber auch nationale Bewegungen. Marx und Engels lebten während des Aufstiegs des Kapitalismus in Europa, in einer Epoche bürgerlich-demokratischer Revolutionen. Als größten Feind aller demokratischen Revolutionen bezeichneten sie 1848 das zaristische Russland und an zweite Stelle setzten sie die österreichische Monarchie. Russland, das zu der Zeit Polen unterdrückte, hatte in der Vergangenheit demokratische Revolutionen blutig niedergeschlagen, wie beispielsweise 1849 in Ungarn. Russland und Österreich verhinderten gemeinsam – durch direkte und indirekte Einmischung in die inneren Angelegenheiten Deutschlands und Italiens – die nationale Einigung beider Länder, die ein Fortschritt gegenüber der Kleinstaaterei gewesen wäre.
Unterstützung nationaler Bewegungen
Marx und Engels unterstützten konsequent alle nationalen Bewegungen, die sich gegen den Zaren und die Habsburger richteten. Gleichzeitig wandten sie sich gegen solche nationalen Bewegungen, die durch ihr Wirken dem Zaren oder den Habsburgern in die Hände spielten. Während Marx und Engels die polnische und ungarische (magyarische) nationale Bewegung unterstützten, kritisierten sie andere Bewegungen. So verurteilten sie zum Beispiel während der Revolution von 1848 die nationalen Bewegungen der Südslaw:innen – der Kroat:innen, Serb:innen und Tschech:innen –, weil sie überzeugt waren, dass diese Bewegungen objektiv dem Hauptfeind helfen: So unterstützten kroatische Truppen die zaristischen Truppen bei ihrem Einmarsch in Ungarn und tschechische Truppen halfen bei der Unterdrückung des revolutionären Wien. In allen Kriegen, an denen das zaristische Russland beteiligt war, nahmen Marx und Engels weder eine neutrale noch eine beiden Lagern gegenüber feindliche Haltung ein, sondern wendeten sich klar gegen Russland.
Russland und Österreich
Nach dem Tod von Marx und Engels entwickelte sich die Debatte um die nationale Frage vor allem in den sozialdemokratischen Parteien in Ländern wie Russland und Österreich weiter. Denn diese Staaten waren unterdrückerische Vielvölkerstaaten, in denen es daher zahlreiche nationale Konflikte gab. Im Falle des Zarenreiches, des »Gefängnisses der Nationen«, in dem die Russ:innen eine privilegierte Minderheit waren, befeuerte die Unterdrückung Polens den wichtigsten Nationalitätenkonflikt. Polen war seit dem 18. Jahrhundert unter den Nachbarländern Russland, Österreich und Preußen aufgeteilt, der größte Teil gehörte zum Zarenreich. Eine Reihe von Aufstandsbewegungen hatte Polen zum Vietnam des 19. Jahrhunderts gemacht. Über die nationale Frage in Polen entstanden innerhalb der sozialistischen Bewegung rasch wichtige Meinungsverschiedenheiten – Rosa Luxemburg war eine wichtige Protagonistin in diesen Debatten, auch weil sie zu dieser Zeit in Polen wirkte.
Die nationalistische Position der polnischen Sozialistischen Partei
Die polnische Sozialistische Partei (PPS) nahm eine im Kern nationalistische Position ein. Sie gab dem Kampf um nationale Unabhängigkeit den absoluten Vorrang gegenüber allem anderen. Der Kampf der polnischen Arbeiter:innen um die eigene Befreiung stellte aus ihrer Sicht eine Ablenkung vom nationalen Befreiungskampf dar. Der Klassenkampf des Proletariats bedrohte die nationale Einheit des polnischen Volkes im Kampf gegen die russische Vorherrschaft. Die PPS lehnte sogar die Unterstützung von Massenstreiks der polnischen Arbeiter:innen während der ersten russischen Revolution von 1905 ab.
Rosa Luxemburgs Position
Die Gruppe von revolutionären Sozialist:innen um Rosa Luxemburg, die unter dem Namen »Sozialdemokratie des Königreichs Polen und Litauen« (SDKPiL) auftrat, setzte sich dagegen für einen radikalen proletarischen Internationalismus ein. Rosa Luxemburg beschränkte sich nicht darauf, zu zeigen, wie der Nationalismus der PPS die Einheit der polnischen und russischen Arbeiter:innen gefährdete. Sie argumentierte, dass die Forderung nach nationaler Unabhängigkeit Polens historisch überholt und reaktionär sei, weil dessen Wirtschaft untrennbar mit der russischen verzahnt sei. Wissenschaftlich untermauerte sie diese Position in ihrer Doktorarbeit über »Die industrielle Entwicklung Polens« (1897).
Darin wies sie nach, dass die Entwicklung des industriellen Kapitalismus in Polen und Russland zu einem einheitlichen wirtschaftlichen Organismus geführt habe, der beide Länder vereinige. Weder die polnische Bourgeoisie noch die polnische Arbeiterklasse hätten ein Interesse an nationaler Selbständigkeit. Erstere, weil sie vom russischen Markt abhängig war, letztere, weil sie denselben Hauptfeind wie das russische Proletariat hatte: Die zaristische herrschende Klasse. Nur das Kleinbürgertum, die wichtigste soziale Basis der PPS, würde fortfahren, Träumen von der nationalen Unabhängigkeit nachzuhängen.
Der Erste Weltkrieg
Während des Ersten Weltkrieges nahm die Auseinandersetzung über die nationale Frage an Schärfe zu. Die Zweite Internationale, die weltweite Vereinigung aller sozialdemokratischen Parteien, zerbrach darüber. Auf der einen Seite standen offene Patriot:innen aus der SPD wie Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Gustav Noske. Sie setzten sich offen für den Nationalismus ihrer eigenen herrschenden Klasse ein und unterstützten den Ersten Weltkrieg. Auf der anderen Seite entwickelte sich eine radikale Linke, die sich in ihrer Argumentation im wesentlichen Rosa Luxemburg anschloss. Sie stellte sich eindeutig gegen den imperialistischen Krieg, andererseits lehnte sie die Forderung nach nationaler Unabhängigkeit als historisch reaktionär ab. Bei den russischen Bolschewiki waren es vor allem Nikolai Bucharin und Georgi Piatakow, die diese Linie vertraten.
Lenins Einwand
Der russische Revolutionär Lenin nahm eine ganz andere Position ein. Er unterstützte die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung. Er meinte, dass die Arbeiter:innen in den imperialistischen Ländern dafür gewonnen werden müssten, die Rechte unterdrückter Nationen zu unterstützen. Nur indem sie in deren Unterdrückern ihre eigenen Herrscher erkannten, könnten sie sich von patriotischen und chauvinistischen Ideen lösen.
Aber Unterstützung für das nationale Selbstbestimmungsrecht war mehr als eine Methode zur Bekämpfung des sozialdemokratischen Patriotismus in den entwickelten kapitalistischen Ländern. Lenin sah diese Position als ein Element in seiner Strategie, die Menschen in den Kolonien gegen den Imperialismus zu mobilisieren. An diesem Punkt brach Lenin radikal mit der Vergangenheit. In der Zweiten Internationalen war die Frage nationaler Befreiung im Wesentlichen als ein europäisches Problem behandelt worden. Einige innerhalb der Internationalen meinten, die Kolonien sollten auch nach einem Sieg des Sozialismus in den entwickelten Ländern fortbestehen. Auf diese Weise sollte den »Barbaren« in Afrika, Asien und Lateinamerika der Zugang zur »Zivilisation« ermöglicht werden.
Lenin griff diese Sichtweise an. Schließlich hatte die erste sozialistische Revolution in einem rückständigen Land stattgefunden und so gezeigt, dass solche Länder nicht erst die Entwicklung der Industrieländer nachvollziehen mussten, um zum Sozialismus zu gelangen. Lenin sah die arbeitenden Menschen in den Kolonien daher nicht als Problem an, sondern als Kraft, die für den Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus zu gewinnen war.
Gegen diejenigen Revolutionär:innen, die in den nationalen Kämpfen eine Ablenkung vom Klassenkampf sahen, schrieb Lenin 1916, als die Iren in Dublin im Osteraufstand gegen die britische Besatzung kämpften, folgendes: »Zu glauben, dass die soziale Revolution denkbar ist ohne Aufstände kleiner Nationen in den Kolonien und in Europa, ohne revolutionäre Ausbrüche eines Teils des Kleinbürgertums mit allen seinen Vorurteilen, ohne die Bewegung unaufgeklärter proletarischer und halbproletarischer Massen gegen das Joch der Gutsbesitzer und der Kirche, gegen die monarchistische, nationale usw. Unterdrückung – das zu glauben heißt, der sozialen Revolution entsagen. Es soll sich wohl an einer Stelle das eine Heer aufstellen und erklären: ›Wir sind für den Sozialismus‹, an einer anderen Stelle das andere Heer aufstellen und erklären: ›Wir sind für den Imperialismus‹, und das wird dann die soziale Revolution sein! Nur unter einem solchen lächerlich-pedantischen Gesichtspunkt war es denkbar, den irischen Aufstand einen ›Putsch‹ zu schimpfen. Wer eine ‚reine‘ soziale Revolution erwartet, der wird sie niemals erleben. Der ist nur in Worten ein Revolutionär, der versteht nicht die wirkliche Revolution.«
Mittel, um internationale Einheit der Arbeiterklasse herzustellen
Die Unterstützung nationaler Befreiungsbewegungen bedeutete für Lenin jedoch keinesfalls, auch deren Ideologie zu teilen. Im Gegenteil: Er betrachtete das Recht auf nationale Selbstbestimmung als Mittel, die internationale Einheit der Arbeiterklasse herzustellen, nicht sie zu zerstören. Im Interesse des Proletariats liegt eine Verschmelzung der Nationen. Diese könne jedoch nur erreicht werden »durch die Übergangsperiode der völligen Befreiung, das heißt Abtrennungsfreiheit aller unterdrückter Nationen.«
Lenin legte allergrößten Wert darauf, zwischen den Aufgaben der Revolutionär:innen einer unterdrückenden Nation und denen einer unterdrückten Nation zu unterscheiden. Für die Sozialist:innen einer Unterdrückernation ist der Hauptgegner der Nationalismus der Unterdrücker im eigenen Land. Sozialist:innen in diesen Ländern müssten unter allen Umständen aktiv für das Recht der unterdrückten Nation auf nationale Selbstbestimmung eintreten. Einmal, um den Chauvinismus in der eigenen Arbeiterklasse kompromisslos bekämpfen zu können. Zum anderen, um den unterdrückten Nationen ein lebendiges und konkretes Beispiel von Internationalismus zu geben.
Kompromisslose Opposition gegen den Imperialismus
In den unterdrückten Ländern dagegen müssen die Revolutionäre ihre kompromisslose Opposition gegen den Imperialismus mit Unterstützung für die internationale Einheit des Proletariats verbinden. Dies erfordert einen ideologischen und politischen Kampf gegen den bürgerlichen Nationalismus und jeden Versuch, den Klassenkampf dem nationalen Kampf unterzuordnen. Lenin kritisierte Luxemburgs anti-nationale Haltung als zu einseitig. Er unterstützte sie, insofern sie sich als Mitglied der unterdrückten Nation gegen den Nationalismus in den Reihen der polnischen Arbeiterbewegung wandte. So schrieb er 1916 in dem Text »Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung«:
»Die Lage ist zweifellos sehr verwirrt, aber es gibt aus ihr einen Ausweg, bei dem alle Beteiligten Internationalisten bleiben: die russischen und die deutschen Sozialdemokraten, indem sie die bedingungslose »Freiheit der Lostrennung« Polens verlangen, und die polnischen Sozialdemokraten, indem sie für die Einheit des proletarischen Kampfes in einem kleinen Lande und den großen Ländern kämpfen, ohne für die gegebene Epoche oder die gegebene Periode die Losung der Unabhängigkeit Polens aufzustellen.«
Kritik übte er an Luxemburgs Forderung, dass sich auch die Revolutionär:innen in den Unterdrückerländern gegen die Unabhängigkeit Polens stellen sollten. Darüber zu entscheiden, fand Lenin, sei allein der polnischen Arbeiterklasse vorbehalten. Die deutsche und russische Arbeiterbewegung sollte vielmehr das Recht der Polen auf die Bildung eines eigenen Nationalstaates betonen. Die Unterstützung nationaler Bewegungen durfte allerdings unter keinen Umständen dazu führen, die politische und organisatorische Unabhängigkeit der Arbeiterbewegung dem Nationalismus zu opfern.
Der zweite Weltkongress der Kommunistischen Internationalen beschloss 1920 folgende Thesen zur »nationalen und kolonialen Frage«:
»Notwendig ist ein entschlossener Kampf gegen den Versuch, der nicht wirklich kommunistischen revolutionären Freiheitsbewegung in den zurückgebliebenen Ländern ein kommunistisches Mäntelchen umzuhängen. Die kommunistische Internationale hat die Pflicht, die revolutionäre Bewegung in den Kolonien und den rückständigen Ländern nur zu dem Zweck zu unterstützen, um die Bestandteile der künftigen proletarischen Parteien – der wirklich und nicht nur dem Namen nach kommunistischen – in allen rückständigen Ländern zu sammeln und sie zum Bewusstsein ihrer besonderen Aufgaben zu erziehen, und zwar zu den Aufgaben des Kampfes gegen die bürgerlich-demokratische Richtung in der eigenen Nation. Die Kommunistische Internationale soll ein zeitweiliges Zusammengehen, ja selbst ein Bündnis mit der revolutionären Bewegung der Kolonien und der rückständigen Länder herstellen, darf sich aber nicht mit ihr zusammenschließen, sondern muss unbedingt den selbstständigen Charakter der proletarischen Bewegung – sei es auch in ihrer Keimform – aufrechterhalten.«
Sozialist:innen müssen sich gegen jede Besatzung und wirtschaftliche Ausbeutung der (ehemaligen) Kolonien stellen
Diese Thesen gaben Lenins Position wider: Sozialist:innen haben immer die Aufgabe, die internationale Einheit der Unterdrückten und Ausgebeuteten herzustellen und sich an ihrem Kampf um Befreiung zu beteiligen. In den imperialistischen Zentren bedeutet dies, das Recht der wirtschaftlich und politisch schwächeren Länder auf eine eigenständige Entwicklung zu verteidigen. Sozialist:innen müssen sich gegen jede Besatzung und wirtschaftliche Ausbeutung der (ehemaligen) Kolonien stellen. Der Hauptfeind der Arbeiterklasse in den imperialistischen Staaten ist ihre eigene herrschende Klasse, die nicht nur die Lohnabhängigen dort, sondern auch in den ärmeren Ländern unterdrückt.
Emanzipation ist der Anspruch an die nationale Frage
In den abhängigen Ländern kann der Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung bedeuten, für nationale Unabhängigkeit zu streiten. Die arbeitenden Menschen dort müssen sich aber nicht nur gegen die imperialistischen Mächte erheben, sondern auch gegen politische Kräfte in ihren eigenen Ländern. Revolutionär:innen in den vom Imperialismus unterdrückten Nationen müssen ihre Unterstützung des nationalen Befreiungskampfes also davon abhängig machen, ob er die Selbstemanzipation der Arbeiterklasse in ihren Ländern beflügelt oder hemmt. In beiden Fällen heißt dies, sich nicht auf die Seite der eigenen herrschenden Klasse zu stellen, sondern einen unabhängigen Pol aufzubauen, der für die Interessen der Lohnabhängigen und ihrer Familien kämpft.
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Foto: Tod des Weltimperialismus
Schlagwörter: Friedrich Engels, Imperialismus, Karl Marx, Lenin, Nationale Befreiung, Rosa Luxemburg