Seit gut einer Woche erschüttern Massenproteste ausgerechnet jenes Land, das eine maßgebliche Rolle in der Abschottung Europas gegenüber Flüchtlingen spielt. Heinz Willemsen über die Überwindung nationalistischer Spaltungen und eine Staatskrise, die der EU überhaupt nich in den Kram passt.
Seit Tagen wird die mazedonische Hauptstadt Skopje von Demonstrationen erschüttert. Die Demonstranten richten sich gegen eine Amnestie des Staatspräsidenten für 56 hochrangige Vertreter aus Politik und Wirtschaft. Die Strafverfolgungs-Amnestie steht im Zusammenhang mit einem Abhörskandal der zunehmend autoritär agierenden Regierung, der seit mehr als einem Jahr das Land polarisiert. In der EU mehren sich deshalb die Befürchtungen, dass das Land nicht mehr länger, die ihm zugewiesene Rolle als Grenzzaun gegen die Flüchtlinge spielen kann.
Jahrzehnte der Verelendung
Mazedonien, früher Jugoslawiens südlichste Republik und seit 1992 unabhängig, ist nach dem Kosovo das ärmste Land auf dem Balkan. Beginnend mit der Austeritätspolitik der jugoslawischen Regierungen in den 1980er Jahren hat ein dramatischer Verarmungsprozess der Bevölkerung eingesetzt. Die Arbeitslosigkeit liegt seit Anfang der 1990er Jahre bei über 30 Prozent, unter Jugendlichen der großen albanischen Minderheit sogar bei über 80 Prozent. Das Durchschnittseinkommen beträgt gerade einmal 143 Euro.
Unter dem Titoismus durchlief Jugoslawiens unterentwickelteste Republik in den 1950er und 1960er Jahren einen Modernisierungsprozess mit hohen wirtschaftlichen Wachstumsraten. Im Zuge der allgemeinen Entwicklung der Weltwirtschaft ab Mitte der 1970er Jahre geriet aber auch Mazedonien in die Krise. 1987 war die Republik de facto bankrott. Nach Titos Tod im Jahr 1980 waren die Eliten in Politik und Wirtschaft, die im »Bund der Kommunisten Makedoniens« organisiert waren, ratlos wie sie mit dem Niedergang der Ökonomie umgehen sollten. Einig waren sie sich aber, dass der Lebensstandard der abhängig Beschäftigten drastisch gesenkt werden sollte.
Die Unabhängigkeit war von einem außenpolitischen Streit mit Griechenland überschattet. Weil Griechenland aufgrund der antiken Geschichte einen Monopolanspruch auf den Namen »Mazedonien« erhob, verhängte es bis 1995 eine totale Wirtschaftsblockade gegen den nördlichen Nachbarn. Dazu kam das UNO-Wirtschaftsembargo gegen Jugoslawien. Bis heute hat sich Mazedonien davon nicht erholt. Die aktuelle Politik ist scharf neoliberal, mit einer niedrigen Flat-Tax und Haushaltsstabilität.
Nationalismus würgt soziale Kämpfe ab
Ende der 1980er Jahre ging eine Welle von Streiks durch das Land. Erstmals wehrte sich die mazedonische Arbeiterklasse kollektiv gegen den Angriff auf ihren Lebensstandard. Allerdings litt sie unter den gleichen Schwierigkeiten wie in den anderen Staaten des »realen Sozialismus«. Der jungen Arbeiterklasse, einem Produkt der Industrialisierung der 1950er und 1960er Jahre, mangelte es an Erfahrung. Das Verbot von unabhängigen Gewerkschaften untergrub die Fähigkeit als eigenständige und organisierte Kraft aufzutreten. Deshalb gelang es dem »Bund der Kommunisten« den sozialen Unmut auf den sich anbahnenden außenpolitischen Konflikt mit Griechenland umzuleiten. Bei den Massenkundgebungen gegen Griechenland und in den Kampagnen zur Festigung des Nationalbewusstseins der Mazedonier ging die soziale Frage unter. Für Mazedonien galt das Gleiche, was ein Beobachter zur Funktion der »antibürokratischen Revolution« des damaligen serbischen Parteivorsitzenden Slobodan Milosević bemerkte: »Sie kamen als Arbeiter und gingen als Serben«.
Immer wenn in Mazedonien Wahlen anstehen, mehren sich die ethnischen Spannungen zwischen der Mehrheitsgesellschaft und der großen albanischen Minderheit, zu der rund ein Viertel der Bevölkerung zählt. Das ist kein Zufall: Die Trickkiste findiger Stimmenjäger beim gezielten Schüren von Vorurteilen oder Animositäten gegenüber der jeweils anderen Volksgruppe scheint unerschöpflich, ganz gleich ob sie aus (post-)kommunistischen oder antikommunistischen Parteien kommen, ob sie mazedonisch oder albanisch sind. Auch jetzt stehen die angekündigten Wahlen am 5. Juni wieder Pate bei einem Konflikt. Diesmal geht es um ein überdimensioniertes 55 Meter hohes Kreuz im Skopjoter Stadtteil Butel. In der von Demonstrationen und Platzbesetzungen geprägten Auseinandersetzung stehen sich die beiden Regierungsparteien, die mazedonische VMRO-DPMNE und ihr albanischer Koalitionspartner DUI gegenüber. Sowohl die DUI als auch die VMRO wollen sich als kompromisslose Streiter für die Interessen der eigenen Volksgruppen profilieren.
Freunde von George Bush und Putin
Bis 1998 wurde Mazedonien von der Nachfolgepartei der Kommunisten, dem sozialdemokratischen SDSM regiert. Mit dem griechisch-mazedonischen Interimsabkommen 1995 wurde das griechische Embargo beendet. Damit verfing das Ausspielen der nationalen Karte nicht mehr im gleichen Maße wie vorher. Bei den Wahlen 1998 brach sich der soziale Unmut Bahn und brachte die VMRO-DPMNE an die Macht. Diese gibt sich in ihrer Programmatik strikt antikommunistisch und antijugoslawisch. Entscheidend für ihre Wahlerfolge in einem Land, in dem die jugoslawische Vergangenheit von der Mehrheit der Bevölkerung jedoch positiv beurteilt wird, war allerdings ihr Wahlversprechen, die Wirtschaft wieder anzukurbeln.
Für eine konservative Partei trägt die VMRO den ungewöhnlichen Namen »Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation«, der auf die antiosmanischen Nationalrevolutionäre des 19. Jahrhundert zurückgeht. Sie hat einen Beobachterstatus bei der christdemokratischen EVP im Europaparlament. Vor allem in ihren Anfangsjahren wurde sie massiv von der Paneuropa-Union von Otto von Habsburg, der Republikanischen Partei der USA und der Konrad Adenauer Stiftung unterstützt. Seit 2006 regiert Nikola Gruevski von der VMRO-DPMNE mit wechselnden albanischen Koalitionspartnern das Land. Mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2009 und der Blockade der EU-Mitgliedschaft durch Griechenland 2008 orientiert sich die VMRO verstärkt an Putin und Orban. Unter Gruevski hat das politische System zusehends autoritäre Züge angenommen. Die Regierungspartei kontrolliert nahezu alle Medien des Landes. Missliebigen Fernsehsendern wird die Lizenz entzogen. Die Justiz des Landes steht unter starkem Druck der Regierung und bei Demonstrationen kam es in den vergangen Jahren wiederholt zu Ausschreitungen der Polizei. Im Dezember 2012 wurden die Oppostionsparteien vor der Verabschiedung des Haushalts von der Polizei mit Gewalt aus dem Plenarsaal des Parlament abgeführt. Unter den Balkanstaaten gilt Mazedonien als der Staat, der den Weg zu einem autoritären Staat am weitesten zurück gelegt hat.
Widerstand und Überwindung des Nationalismus
Gruevski zimmerte sich einen Machtblock aus Familienmitgliedern, engen Vertrauten, Profiteuren und politischen Opportunisten. Ohne seine Zustimmung kann niemand einen Job bei der Polizei, dem Justizsystem, dem Staatsdienst und schon gar nicht in seiner Partei erhalten. Da ein Viertel aller Arbeitsplätze beim Staat sind, konnte sich die Regierung ein effektives Klientelsystem loyaler Anhänger aufbauen. Seit 2011 gibt es aber auch eine ansteigende Welle von sozialen Protesten und politischen Demonstrationen gegen die Regierung. Erstmals in der Geschichte des Landes standen in den Protesten Mazedonier und Albaner Seite an Seite. Als bei einem Polizeiübergriff auf der Wahlparty der VMRO 2011 ein Jugendlicher durch die Gewalt der Polizei starb, demonstrierten tagelang zehntausend Menschen durch Skopje und riefen abwechselnd in mazedonisch und albanisch: »Stoppt den Polizeiterror«.
Die aktuelle Krise hat mit dem Aufdecken eines Abhörskandals im Februar letzten Jahres begonnen. Die Regierung hatte über zwanzigtausend Personen abhören lassen. Die Protokolle der Abhörungen legten offen, wie die Regierung die Medien steuerte, Kritiker verhaften wollte und Korruptionsaffären vertuschte. Als dann im Mai in der Stadt Kumanovo bei einer Schießerei zwischen der Polizei und einer albanischen Splittergruppe der UÇK mehrere Menschen getötet wurden, zeigte sich die veränderte politische Stimmung im Land. Statt einem Anschwellen der ethnischen Konflikte, kam es im Sommer 2015 zu großen Protestdemonstrationen mit zehntausenden Teilnehmern gegen die Regierung. Die Proteste wurden zunächst von Basisorganisationen wie dem »Bündnis gegen Polizeibrutalität« oder den linken Gruppen »Lenka« und »Solidarnost« organisiert. Später sprangen auch die oppositionellen Sozialdemokraten vom SDSM auf den Zug auf.
Unter dem Druck von EU und USA trat Gruevski schließlich im Januar zurück. Der Westen fürchtete ein Abgleiten des Landes ins Chaos, mit unvorhersehbaren Konsequenzen für den Versuch die Flüchtlinge an der Weiterreise nach Mitteleuropa zu hindern. Die EU versuchte daher einen Kompromiss zwischen der VMRO und dem SDSM auszuhandeln. Seitdem regiert in Skopje eine Allparteienregierung in der auch der SDSM vertreten ist. Zu der Verhandlungslösung der EU gehört auch die für den 5. Juni angesetzte Neuwahl. Der SDSM will diese jedoch wegen des Vorwurfs manipulierter Wählerlisten boykottieren.
Auslöser der aktuellen Proteste war die Ankündigung des Staatspräsidenten Ivanov (VMRO) 56 wegen der Abhöraffäre angeklagten Politikern eine Amnestie zu erteilen. Die Proteste werden von unterschiedlichen Gruppen getragen. Neben dem Bündnis »Protestiram« und der im November von Mitgliedern von Lenka, Solidarnost und verschiedenen Basisorganisationen gegründeten neuen Partei Levica (Linke) haben auch die Sozialdemokraten zu den Demonstrationen aufgerufen.
Die VMRO und der Staatspräsident beschuldigen den Westen und George Soros hinter den Protesten zu stehen. Die mazedonische Tageszeitung Dnevnik titelte am Samstag »Ukrainisches Idyll für Mazedonien: Die wilden Horden von Soros auf der Suche nach Territorium«. Die regierungsnahe Zeitung Republika beschuldigt Anhänger des ehemaligen griechischen Finanzministers Janis Varoufakis die Proteste zu schüren. Unterstützung erhält Gruevski dabei von dem russischen Außenminister Lawrow, der von einem »ukrainischen Szenario« für Mazedonien spricht. Der Anlass für die Einmischung des Westens wäre der Wunsch des mazedonischen Ministerpräsidenten Gruevski, sein Land für Turkish Stream zu eröffnen. Durch diese Pipeline, die das geplatzte South-Stream Projekt ersetzen soll, soll russisches Erdgas abseits des Transitlandes Ukraine nach Südosteuropa strömen.
Staatskrise auf der Balkanroute
Tatsächliche dürfte der Westen aktuell in Bezug auf Mazedonien ganz andere Sorgen haben als russisches Erdgas. Im Konflikt innerhalb der EU, wie die Flüchtlinge am effektivsten vom Einlass nach Europa abgehalten werden können, hat die Regierung Österreichs unter dem Beifall der CSU am stärksten gegen Merkel opponiert. Merkel hat einen Deal mit der Türkei zustande gebracht, um die Flüchtlingszahlen zu begrenzen, aber gleichzeitig die Grenzen innerhalb Europas offen zu halten. Österreich dagegen setzt auf eine nationalstaatliche Lösung und hat ein Bündnis mit den Balkanstaaten unter Ausschluss von Griechenland organisiert. Dafür spielt Mazedonien eine Schlüsselrolle. Die rigorose Schließung der Grenze im Februar durch Mazedonien hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die Zahl der Flüchtlinge nach Westeuropa stark gesunken ist. Angesichts der innenpolitischen Konfrontation in Mazedonien zeigt sich, dass Österreich auf einen genauso unsicheren und autoritären Kantonisten setzt, wie Merkel mit der Türkei.
Nicht Destabilisierung, sondern die Einhegung des innenpolitischen Konfliktes durch einen Herrschaftskompromiss zwischen VMRO und SDSM ist das Ziel der EU. Deshalb versucht die EU die Regierung Mazedoniens seit letztem Jahr unter Druck zu setzen. Unlängst haben Österreich und andere EU Staaten den mazedonischen Grenzschutz und den Sicherheitsapparat aufgerüstet, damit die Grenze zu Griechenland effektiver abgeriegelt wird. Die innenpolitische Konfrontation könnte dieses Ziel nun gefährden.
Foto: Mite Kuzevski
Schlagwörter: Asyl, Balkan, Balkanroute, EU, Flucht, Flüchtlinge, Grenze, Griechenland, Idomeni, Jugoslawien, Makedonien, Mazedonien, Nationalismus, Protest, Refugees, Türkei