Jean-Luc Mélenchon und »La France Insoumise« sind eine neue Version des linken Reformismus. Doch welche Perspektive bietet dieser? Eine Analyse von John Mullen
Bei der französischen Präsidentschaftswahl im April 2022 traten mit Marine Le Pen und Éric Zemmour gleich zwei Kandidat:innen der faschistischen Rechten gegen den amtierenden Präsidenten Emmanuel Macron an. Aber es gibt auch eine hoffnungsvolle Seite: Der linke Kandidat Jean-Luc Mélenchon konnte sein Rekordergebnis von 2017 sogar noch steigern und kam mit insgesamt 7,7 Millionen Stimmen im ersten Wahlgang auf 22 Prozent, nur 1,2 Prozentpunkte weniger als Marine Le Pen und die größte Stimmenzahl der radikalen Linken in Frankreich seit 1945.
Daraufhin bildeten die Linkspartei »La France Insoumise« (»Unbeugsames Frankreich«) mit Sozialdemokraten, Grünen und der traditionellen Kommunistischen Partei für die Parlamentswahl im Juni wegen des Mehrheitswahlrechts das Wahlbündnis »Nupes«. In jedem Wahlkreis trat nur ein Kandidat des Bündnisses an, um gegen Macrons marktliberales Bündnis »Ensemble« eine Chance zu haben. Spitzenkandidat von »Nupes« ist ebenfalls Jean-Luc Mélenchon.
»Nupes« erreichte in der ersten Runde 26 und in der zweiten 32 Prozent der Stimmen. Wegen des undemokratischen französischen Mehrheitswahlrechts erhalten sie dadurch aber nur 23 Prozent der Abgeordneten. Allerdings hat »Ensemble« mit 42 Prozent der Abgeordneten ebenfalls keine Mehrheit und in Frankreich gibt es traditionell keine Koalitionen verschiedener Parteien. Ob Macron tatsächlich regieren kann, ist bis auf Weiteres unklar.
Viel Raum für radikale Linke
Die Tatsache, dass nach fünf Jahren Macron im Amt des Präsidenten die 500 reichsten Familien Frankreichs ihren Reichtum verdoppelt haben, während die Zahl der in Armut lebenden Kinder um 40 Prozent gestiegen ist, aber auch die bemerkenswerte Kampfbereitschaft und das Klassenbewusstsein der französischen Arbeiter:innen in den letzten Jahren sorgen dafür, dass es viel Raum für die radikale Linke gibt. Mélenchon und sein Team vertreten die Ansicht, dass es möglich ist, eine »Bürgerrevolution« herbeizuführen, um »die Epoche des Volkes« einzuleiten, um die Titel von zwei seiner zahlreichen Schriften zu zitieren.
Es ist kaum verwunderlich, dass sich so viele inspiriert oder ermutigt fühlen. Das Programm der FI beinhaltet Dutzende von Maßnahmen zur radikalen Umkehrung der Tendenz, dass der Reichtum immer stärker von den 1 Prozent abgeschöpft wird. Es schlägt vor, die Preise für eine Reihe von Gütern des Grundbedarfs einzufrieren und eine kostenfreie Grundversorgung mit Strom und Wasser für jeden Haushalt zu gewährleisten. Es wird eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns und der Mindestrenten versprochen, während die von Macron und Hollande verabschiedeten Gesetze, die die Rechte der Beschäftigten auf gewerkschaftliche Organisierung und stabile Verträge einschränken, aufgehoben werden sollen. Das Programm sieht eine völlig kostenlose Gesundheitsversorgung vor. Gegenwärtig schließen die meisten Menschen eine Zusatzversicherung ab. Es verspricht die Rente mit 60 und eine kürzere Wochenarbeitszeit.
Programm der sozialen Bewegungen
Die Vision trägt auch der Dringlichkeit des Klimawandels Rechnung: Das Programm sieht den Ausstieg aus der Kernenergie bis 2030, den Umstieg auf 100 Prozent erneuerbare Energien und die Schaffung von anderthalb Millionen Klimaarbeitsplätzen vor. Die ökologische Landwirtschaft soll massiv gefördert werden, indem 300.000 Arbeitsplätze geschaffen werden und der Übergang zu einer 100 Prozent ökologischen Landwirtschaft rasch vollzogen wird.
Das Programm reagiert auf die aktuellen sozialen Bewegungen, indem es eine Milliarde Euro für den Kampf gegen sexistische Gewalt reserviert. Und nach dem jüngsten Skandal der massiven Misshandlung älterer Menschen in der privaten Altenheimkette Orpea mit 1100 Heimen in ganz Frankreich würde eine FI-Regierung nur noch die Führung von Altenheimen durch gemeinnützige Organisationen oder durch die lokale Verwaltung zulassen.
Platz sechs der Bücher-Charts
Geplant sind entschlossene Maßnahmen, um die Reichen stärker zu besteuern und die Ausnutzung von Steuerparadiesen zu unterbinden. In Bezug auf die Erbschaftssteuer sieht Mélenchons Programm eine Höchstgrenze von 12 Millionen Euro für Erbschaften vor. Alles, was darüber hinausgeht, würde in die öffentlichen Kassen fließen und könnte, wie Berechnungen zeigen, zur Finanzierung von Studienbeihilfen für alle dienen. Für den Rest von uns wären Erbschaften bis zu 120 000 Euro völlig steuerfrei. Schließlich will France Insoumise die Verfassung ändern und die Macht des Präsidenten stark einschränken, um zu einer sechsten Republik überzugehen (die Fünfte wurde 1958 gegründet).
In einer Welt, in der uns Sparmaßnahmen, Privatisierung und Individualismus als unvermeidlich verkauft werden, ist das ein frischer Wind. Und die Reformen sind populär. Anfang Februar stand das Manifest auf Platz sechs der Liste der meistverkauften Bücher in Frankreich, und der YouTube-Kanal hatte 700.000 Abonnent:innen. In einer kürzlich durchgeführten Meinungsumfrage sprachen sich 88 Prozent für eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns aus, 90 Prozent waren der Meinung, dass die Altersrenten niemals unter dem Mindestlohn liegen sollten. Achtzig Prozent sagten, dass genügend Wasser für die Grundversorgung kostenlos sein sollte. 86 Prozent sind für das Ziel, 100 Prozent erneuerbare Energien zu nutzen, während 63 Prozent eine Änderung der Verfassung und die Gründung einer sechsten Republik fordern.
»Ökologie ohne Klassenkampf ist Gartenarbeit«
Neben ihrer Radikalität hat die FI-Kampagne auch einen rebellischen Ton, der es ihr schon 2017 ermöglichte, Millionen von Wähler:innen anzuziehen, die zuvor bei Wahlen zu Hause geblieben waren. In Versammlungen wiederholt Mélenchon gerne den Slogan »Ökologie ohne Klassenkampf ist eigentlich nur Gartenarbeit«. Und er besteht darauf, dass »das einzige, was die Ausbeutung begrenzen kann, der Widerstand gegen die Ausbeutung ist«.
Wie der Rest der radikalen und revolutionären Linken in Frankreich mobilisiert auch La France Insoumise nicht ausreichend für den Kampf gegen Islamophobie. Macrons Verbot von Gruppen, die Opfer von Islamophobie unterstützten, wurde von der gesamten Linken nur mit wütenden Pressemitteilungen beantwortet. Die jüngsten Positionen von Mélenchon, die von antirassistischen Gruppen aus multiethnischen Arbeitervierteln unterstützt werden, stellen jedoch einen historischen Wandel in Frankreich in dieser Frage dar, da die Islamophobie ihre Vorherrschaft auf der Linken verliert. Der faschistische Kandidat Eric Zemmour wirft Mélenchon vor, »sich vor dem Imam zu verkriechen«. Regelmäßig wird Mélenchon mittlerweile dafür angegriffen, »weich gegenüber dem islamischen Fundamentalismus« zu sein.
Mélenchon auf der Straße gegen Islamophobie
Im Dezember 2019 fand in Paris die erste Massendemonstration gegen Islamophobie statt, an der Mélenchon teilnahm. Diese Demonstration führte zu Unstimmigkeiten innerhalb der Kommunistischen Partei und innerhalb von La France Insoumise. Im Gegensatz zu anderen weigerte sich Mélenchon jedoch, sich für seine Teilnahme zu entschuldigen. Seitdem ist seine Verteidigung von Muslimen gegen Rassismus lauter und deutlicher geworden. Die FI-Fraktion war die einzige im Parlament, die gegen die islamfeindlichen Gesetze – angeblich gegen »muslimischen Separatismus« – stimmte, die Macron letztes Jahr durchgesetzt hatte. Mélenchon erklärte, »Separatismus« sei »ein dummes Konzept«, das erfunden wurde, »um Muslime zu stigmatisieren«. Er erinnert sein Publikum nun regelmäßig daran, dass »der Hass auf Muslime ein zentraler Faktor der Spaltung ist, der es den Mächtigen ermöglicht, an der Macht zu bleiben«. Es ist kein Zufall, dass einige einflussreiche schwarze antirassistische Gruppen dazu aufrufen, für ihn zu stimmen, obwohl sie sich in der Vergangenheit oft nicht für »weiße Politik« engagieren wollten. Eine der Gruppen erklärte dies damit, dass Mélenchon »mit dem islamfeindlichen Konsens gebrochen hat« und weil er »die Kreolisierung der Gesellschaft« verteidigt (ein Begriff, den Mélenchon oft verwendet) sowie eine »weiße Identität« für Frankreich ausdrücklich ablehnt.
Der Kampf gegen die Macht des Kapitals hatte schon immer drei Hauptaspekte: erstens den konkreten Kampf – die Erlangung von Lohnerhöhungen, Gewerkschaftsrechten oder unbefristeten Verträgen; zweitens den politischen Kampf – die Durchsetzung von Gesetzen, die unserer Klasse helfen (sei es ein größeres Gesundheitsbudget oder die Homo-Ehe) und schließlich den ideologischen Kampf, um die Idee zurückzudrängen, dass es »keine Alternative« zu brutaler Austerität und Militarismus gibt, und um die Idee voranzutreiben, dass der Kapitalismus gestürzt werden kann. Wie nützlich ist die FI in diesen Aspekten?
Mélanchon ermutigt Streikende
Wäre Mélenchon in die zweite Runde der Präsidentschaftswahl gekommen, hätte dies ein politisches Erdbeben zur Folge gehabt. Doch bereits sein starkes Abschneiden in der ersten Runde bedeutet eine Ermutigung für konkrete Kämpfe. Die massiven Streiks bei der Bahn und im Bildungswesen haben zuletzt gezeigt, dass es zu einer Gegenbewegung kommen wird – eine große Zahl radikaler linker Stimmen wird dazu beitragen.
La France Insoumise hat bereits jetzt 17 Abgeordnete, die in die Nationalversammlung gewählt wurden, darunter ein Callcenter-Mitarbeiter, Adrien Quatennens, eine Bibliothekarin, Danièle Obono, und eine Pflegehelferin, Caroline Fiat. Sie haben seit 2017 eine sehr aktive parlamentarische Arbeit geleistet, bei der es ihnen gelegentlich sogar gelungen ist, Gesetzesänderungen im Interesse der 99 Prozent durchzusetzen. Meist wurden ihre Gesetzesentwürfe oder Änderungsanträge zwar abgelehnt, ermöglichten aber eine Debatte im Parlament und in den Medien über eine Vielzahl sozialer Fragen. In der Frage des polizeilichen Rassismus schlug die FI beispielsweise einen Änderungsantrag vor, der alle Polizeibeamt:innen, die den Ausweis einer Person kontrollieren, dazu verpflichten würde, der betreffenden Person eine Bescheinigung auszustellen. Dies würde die Situation insbesondere von schwarzen und arabischen Männern verbessern, da wiederholte Kontrollen mehrmals am Tag nicht mehr möglich wären. Die Abgeordneten der FI haben mit ihrer Anprangerung von Polizeigewalt mehrfach für Aufsehen gesorgt.
Die lautstarke Unterstützung der FI im Parlament und in den Medien für die erfolgreiche Kampagne in den Jahren 2019-2021, um Macrons Plan zur Zerschlagung des Rentensystems zurückzudrängen, war sicherlich wertvoll, ebenso wie die Unterstützung für die Gelbwesten. Die Abgeordneten organisierten während einer Parlamentsdebatte eine Schweigeminute für die während der Bewegung getöteten und verletzten Gelbwesten.
Doku über den Kampf der Pflegerinnen
FI-Abgeordnete verstehen es, die Medien auf sich aufmerksam zu machen. Als sich vor einigen Jahren einer von Macrons Ministern über diejenigen lustig machte, die gegen die Kürzung des Wohngeldes um »nur fünf Euro« protestierten, erregten die Abgeordneten von France Insoumise viel Aufmerksamkeit, indem sie mit einigen Einkäufen ins Parlament kamen, um dem Minister zu zeigen, was man mit fünf Euro alles kaufen kann. Vor einigen Wochen schwenkte François Ruffin im Parlament einen riesigen Scheck über mehrere Milliarden Euro, als Symbol für das Geld, das Macron während seiner Präsidentschaft dem Großkapital zukommen ließ.
In der Schlüsselfrage des Antifaschismus war es Mélenchon, der 2012 den Mut hatte, sich direkt gegen Marine Le Pen in ihrem eigenen Wahlkreis zu stellen, und die FI spielte eine zentrale Rolle bei der Organisation der wenigen Massendemonstrationen gegen Faschismus im vergangenen Jahr. Ein Abgeordneter der FI, François Ruffin, ist für die beiden besten massenwirksamen politischen Dokumentarfilme der letzten 30 Jahre verantwortlich: »Je veux du soleil« (2019) über den Aufstand der Gelbwesten und »Debout les femmes« (2021) über die Arbeit und die Kämpfe von Putzfrauen und Pflegehelferinnen.
Mélenchon: 8000 bei Veranstaltung + 300.000 per Video
France Insoumise sieht den Wahlkampf als eine Zeit entscheidender politischer Bildung und Debatte. Drei von Mélenchons jüngsten langen Fernsehinterviews wurden auf dem Youtube-Kanal von FI mehr als 1,5 Millionen Mal aufgerufen. Er ist ein außerordentlich guter Redner. Seine Veranstaltung in Montpellier im Februar mit dem Titel »Die Reichen sind Müßiggänger« wurde von 8.000 Menschen besucht und 300.000 mal auf Youtube aufgerufen. Für den politischen Kampf unserer Klasse leistet La France Insoumise einen wichtigen Beitrag.
Natürlich ist Mélenchon auch das Ziel zahlreicher Verleumdungskampagnen, die ihn lautstark als größenwahnsinnig, rassistisch, islamistisch, antisemitisch und neuerdings auch als Freund Putins darstellen. Diese Verleumdungen kommen in der Regel von der Rechten, der Sozialistischen Partei, den Grünen oder den Massenmedien, werden aber gelegentlich auch von Leuten aus der radikalen Linken aufgegriffen. Tatsächlich sind die Vorwürfe ziemlich aus der Luft gegriffen. Dennoch gibt es auch Kritikpunkte an der Politik und Strategie von Mélenchon und der FI.
Per Parlament zum Sozialismus?
So zielt das Programm von Jean-Luc Mélenchon auf eine »Bürgerrevolution« ab, die an den Wahlurnen stattfinden und zu einem schnellen und radikalen Bruch mit der Politik der letzten Jahrzehnten führen soll, in denen der Reichtum immer schneller in die Taschen des einen Prozents floss. La France Insoumise will die Staatsgewalt nutzen, um mit dem neoliberalen Kapitalismus zu brechen.
Für Antikapitalist:innen gibt es jedoch allen Grund, mit solchen Forderungen vorsichtig zu sein. Ob in Großbritannien 1964 oder 1974, in Frankreich oder Spanien 1981 oder in Australien 1972: Forderungen nach radikalen Veränderungen durch Wahlen haben sich im Allgemeinen als Enttäuschungen erwiesen, um es gelinde auszudrücken. Harold Wilson, Labour-Premierminister des Vereinigten Königreichs in den 1960er Jahren, schrieb in seinen Memoiren, wie verblüfft er war, als er feststellte, wie wenig Macht er im Vergleich zu den riesigen kapitalistischen Konzernen hatte, die die Kapitalinvestitionen aus der britischen Wirtschaft herausziehen konnten, und in den 1970er Jahren zeigte der IWF dem britischen Labour-Premierminister James Callaghan, wer das Sagen hatte, wenn es hart auf hart kommt.
Linke Regierung ohne Macht
Um eine französische Erfahrung zu betrachten, auf die ich später in diesem Artikel zurückkommen werde – die Wahl des sozialistischen Präsidenten François Mitterrand im Jahr 1981 – wer könnte besser verstehen, was linke Regierungen tun können und was nicht, als Mitterrands Frau, Danielle Mitterrand. Sie erzählt, wie sie mit ihrem Mann über die Macht der Regierung diskutierte:
»Ich fragte François immer: ›Jetzt, wo du die Macht hast, warum tust du nicht, was du versprochen hast?‹ Er antwortete mir, dass er nicht die Macht habe, sich gegen die Weltbank, gegen den Kapitalismus, gegen den Neoliberalismus zu stellen. Er sagte, er habe eine Regierung gewonnen, aber nicht die Macht. Auf diese Weise lernte ich, dass es in diesen Gesellschaften, die dem Kapitalismus unterworfen sind und von ihm beherrscht werden, nicht viel nützt, an der Regierung zu sein, der Präsident zu sein. Diese Erfahrung habe ich vierzehn Jahre lang gemacht [Mitterrand war von 1981-1995 Präsident]. Auch wenn er versuchte, die negativsten Seiten des Kapitalismus zu vermeiden, begannen seine Träume sehr schnell zu zerfallen.«
Syriza und Podemos haben enttäuscht
In jüngerer Zeit haben die Erfahrungen neuartiger linker Organisationen wie Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien, die beide vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs kompromittierter sozialdemokratischer Parteien auf den Plan traten, gezeigt, dass sie zwar Hoffnungen und Erwartungen wecken konnten, aber angesichts des organisierten Widerstands der herrschenden Klasse nicht den Anforderungen gerecht wurden. Die harte Austerität, die derzeit in Griechenland herrscht, ist eines der tragischen Ergebnisse dieses Scheiterns.
Revolutionär:innen müssen diese Erfahrungen der Vergangenheit analysieren und geduldig die Grenzen der parlamentarischen Politik erklären, wobei sie aber auch berücksichtigen müssen, was in jeder Situation neu ist. Die Positionen von Mélenchon eröffnen uns wichtige Möglichkeiten. Und er weicht der Frage, warum frühere linke Regierungen die Interessen der Arbeiterklasse verraten haben keineswegs aus. Im Gegenteil: Er hat in letzter Zeit Vorträge darüber gehalten, was in den 1980er Jahren falsch gelaufen sei und warum Mitterrand enttäuscht habe.
Mélanchon analysiert Mitterand
In der ersten Abhandlung legt er eine historische Analyse des Wahlsiegs der Sozialistischen Partei im Jahr 1981 vor, der das Ende eines politischen Prozesses darstellte, dessen Hauptbeschleuniger, wie er betont, »die zehn Millionen streikenden Arbeiter« im Jahr 1968 waren. Er unterstreicht, dass die von Mitterrand eingeleiteten Reformen weitreichender waren, als es oft anerkannt wurde: die Verstaatlichung von Dutzenden von Banken, Elektrizitätswerken, Maschinenbauunternehmen und Autobahnen, die Verdoppelung des Budgets des Kultusministeriums und die Besteuerung der Reichen. Und er beharrt darauf, dass es nicht vernünftig sei, Mitterrand und anderen linken Führern zu unterstellen, sie hätten ihre Forderungen freiwillig verraten.
Stattdessen macht Mélenchon mangelnden politischen Mut, eine fehlende Strategie des linken Flügels der Linken und eine fehlende Mobilisierung der Massen für die Hinwendung zur Sparpolitik verantwortlich, die nur zwei Jahre nach der Wahl Mitterrands erfolgte. Er nimmt sich die Zeit, die Argumente zur Verteidigung des linken Reformismus und seiner Perspektiven ausführlich darzulegen. Dies verdient ernsthafte und gründliche Antworten von Revolutionär:innen, aber solche Antworten sind in der französischen Linken leider sehr selten.
Mélanchon liebt sein Land
Abgesehen von der Debatte über die Durchführbarkeit einer radikalen Umgestaltung der Gesellschaft durch das Parlament möchte ich zwei weitere Aspekte der Politik von La France Insoumise analysieren, die in der radikalen Linken oft eher abschätzige Kommentare als überzeugende Antworten hervorgerufen haben. Dies ist zum einen der Einsatz von linkem Patriotismus und der Symbole der französischen Nation, also der Trikolore und der Marseillaise, und zum anderen die außenpolitischen Positionen Mélenchons und der FI.
Zum ersten: Mélenchon hatte kein Problem damit, als er kürzlich in Burkina Faso erklärte: »Ich liebe mein Land«. Er freue sich auf eine Zeit, in der Frankreich, nachdem es aus der Nato ausgetreten ist und kolonialistische Haltungen abgelegt hat, eine positive Rolle in den internationalen Beziehungen spielen wird. Marxist:innen betonen demgegenüber immer, dass die Werktätigen kein Vaterland haben. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir nicht die Besonderheiten des linken Patriotismus im heutigen Frankreich analysieren müssen, und es ist sicherlich unsinnig, den linken Patriotismus von Mélenchon mit dem der extremen Rechten gleichzusetzen.
Die Führung der FI ist der Ansicht, dass nationale Symbole und Nationalstolz keine feste Bedeutung haben. Für die Rechten symbolisieren Flagge und Hymne den vermeintlichen Ruhm des Kolonialismus, aber, so Mélenchon, die revolutionären Ursprünge der Trikolore und der Marseillaise bedeuten, dass sie auch von der Linken genutzt werden können. Die Rechten wollen den Menschen weismachen, dass die Seele Frankreichs mit der christlichen Tradition und den großen weißen Männern zu tun hat, aber Mélenchon besteht darauf, dass die Seele Frankreichs die Barrikaden von 1789 oder 1848, die Pariser Kommune von 1871, die großen Streiks von 1936 und 1968 oder der Widerstand gegen die Nazis während der Besatzungszeit sind. Seine Vorstellung von Frankreich, so sagt er, ist die »Kreolisierung« – die Vermischung von Kulturen und ethnischen Gruppen, um etwas Neues und Lebendiges zu schaffen.
Nationalhymne und »Macron raus«
Linker Patriotismus klingt natürlich weniger verrückt, wenn das nationale Motto »Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit« lautet. Und die FI ist nicht die einzige progressive Kraft, die sich für patriotische Symbole entscheidet. Auch in der Gelbwesten-Bewegung spielen Trikolore und Marseillaise bei Demonstrationen oft eine wichtige Rolle – und das nicht wegen des rechtsradikalen Einflusses, der nach dem Beginn der Gelbwesten-Bewegung auch schnell wieder zurückging. Man konnte auf den Demonstrationen Gruppen sehen, die die Marseillaise sangen, unterbrochen von Sprechchören wie »Macron raus« und anderen Bewegungsliedern wie: »Hier sind wir, hier sind wir. Auch wenn es Macron nicht gefällt, hier sind wir! Für die Ehre der Arbeiter und den Aufbau einer besseren Welt. Auch wenn es Macron nicht gefällt, hier sind wir!«
Doch auch wenn der Patriotismus von Mélenchon ein fortschrittlicher Patriotismus ist, ist er deshalb noch nicht unproblematisch. Ein unmittelbares Problem ist, dass Patriotismus, auch linker Patriotismus, eine Identifikation mit den Interessen »des Landes« voraussetzt. Das eigene Land im Fußball oder bei der Olympiade zu unterstützen, ist noch das geringste Problem. Wir sollen uns gut fühlen, wenn »Frankreich« Marktanteile im Flugzeugbau gewinnt, wir sollen traurig sein, dass sich nicht die in Frankreich entwickelten Impfstoffe durchgesetzt haben, und wir sollen uns Sorgen machen, wenn China »zu viel« Einfluss im französischsprachigen Afrika gewinnt. Wir sollen entsetzt sein über die Aussicht, dass ein Gebiet, das derzeit zur Französischen Republik gehört – Martinique oder Guadeloupe zum Beispiel –, in die Unabhängigkeit gehen könnte. Selbst wenn das Programm der FI den Austritt aus der Nato und den Aufbau einer neuen Beziehung zum französischsprachigen Afrika vorsieht, wird die fortgesetzte Identifikation mit dem Nationalstaat mit einer Identifikation mit der internationalen Arbeiterklasse in Konflikt geraten.
Nationalflagge oder Hammer und Sichel?
Ein weiterer schwerwiegender Nachteil, wenn patriotische Symbole verwendet werden, um eine linke politische Kraft aufzubauen, ist, dass diese Symbole nicht für alle die gleiche Bedeutung haben. Welche Bedeutung haben Symbole wie die französische Flagge für Menschen aus den ehemaligen Kolonien oder aus afrikanischen Ländern, die noch heute vom französischen Imperialismus misshandelt werden? Die Mobilisierung dieses wichtigen Teils der französischen Arbeiterklasse mit nordafrikanischer Herkunft wird durch patriotische Symbole kaum erleichtert werden. Auch wenn linker Patriotismus viele Menschen ansprechen mag, birgt er also politische Gefahren.
Einige Linke haben Mélenchon vorgeworfen, sich von Symbolen wie der roten Fahne und Hammer und Sichel abzuwenden. Damit wird die Bedeutung missverstanden, die diese Symbole in Frankreich oft haben, dem Land, das vor fünfzig Jahren die stärkste kommunistische Partei Europas hatte. Angesichts der Verbrechen des Stalinismus und des Bündnisses der KP mit der Sparpolitik der Sozialistischen Partei, die immer mehr rote Fahnen schwenkt, ist die Ablehnung dieser Symbole durch die meisten Arbeiter nicht überraschend.
Marseillaise oder Die Internationale?
Die Frage, welche Symbole verwendet werden sollen, hat zuweilen zu bizarren Situationen geführt. Bei der letzten Sitzung der Sommerschule 2018 war geplant, die Marseillaise zu singen. Die meisten FI-Abgeordneten standen auf der Bühne und sangen mit, während die Musik über die Lautsprecheranlage übertragen wurde. Es war nicht geplant, auch die Internationale zu singen. Doch als die Marseillaise zu Ende war und die Abgeordneten klatschten, begannen einige der hunderten Anwesenden im Saal die Internationale anzustimmen. Nach zwanzig langen Sekunden des Zögerns stimmten auch die Abgeordneten mit ein. Natürlich ist dies nur eine Anekdote, aber sie hat ihre Bedeutung. Die Mehrheit der Anwesenden sang beide Hymnen mit, was meines Erachtens ein Zeichen für eine Atmosphäre ist, in der eine ernsthafte Debatte über Patriotismus und Internationalismus möglich ist und in der Marxist:innen viel zu sagen haben.
Die Frage des Patriotismus ist natürlich eng mit der Außenpolitik verbunden. Frankreich ist ein großer imperialistischer Staat. Als es zum Beispiel gerade seinen Einsatz in Mali beendete (ein durchschlagender Misserfolg), wurden auf der Rechten Stimmen laut, die sich über den schwindenden Einfluss Frankreichs in Afrika Sorgen machten. In einem Fernsehinterview wurde Mélenchon angegriffen, weil er erklärte: »Mali gehört den Maliern« und sagte, wenn die malische Regierung beschließe, dass sie keine französischen Truppen mehr im Land haben wolle, würde er sie als Präsident nach Hause holen. Die Fernsehjournalist:innen waren geschockt von der Idee, dass Frankreich nicht das gottgegebene Recht habe, seine Truppen ungefragt dorthin zu schicken, wo es wolle.
Linke Atombomben?
Das außenpolitische Programm von Mélenchon ist sicherlich eine willkommene Ohrfeige für die Verteidiger:innen des Imperialismus. Sein Plan ist jedoch, die französische Staatsmacht auf eine andere Art und Weise zu nutzen. Dies wird etwa in seiner Erklärung zur internationalen Souveränität und Bündnispolitik deutlich: »Natürlich treten wir aus der Nato aus (…) Zunächst einmal möchte ich unsere militärische Souveränität wiederherstellen. Frankreich mit seiner nuklearen Abschreckung muss unabhängig bleiben und seine Waffen selbst herstellen, ohne von amerikanischen Importen abhängig zu sein. Warum sollten wir die Streitigkeiten der Letten oder Esten mit Russland übernehmen, die schon seit tausend Jahren andauern? Warum sollten wir die physischen Grenzen der Ukraine garantieren? Ich will ein bündnisfreies, alternativ-globalistisches Frankreich.«
Wir sehen hier also, dass Mélenchons Plan darin besteht, Atomwaffen als internationales Machtmittel beizubehalten, aber diese Macht anders einzusetzen. Diese Position ist in vielerlei Hinsicht eine logische Erweiterung des linken Patriotismus. Und obwohl die Blockfreiheit einer enthusiastischen Unterstützung des Krieges vorzuziehen ist, sind wir weit davon entfernt, den Imperialismus zu stürzen, und sehr weit davon entfernt, die Arbeiter:innen daran zu erinnern, dass die Loyalität zu ihrer Klasse auf internationaler Ebene unermesslich mehr in ihrem Interesse ist als die Loyalität zu ihrem Land. Mélenchon erklärte kürzlich: »Wenn ich dieses Land führe, sollte sich jeder, der uns herumschubsen will, in Acht nehmen!«
Revolutionäre in La France Insoumise
Für Marxist:innen und Revolutionär:innen in Frankreich ist es wichtig, eine unabhängige Stimme zu Mélenchon und der FI zu erhalten. Aber eine unabhängige Stimme ist nur dann nützlich, wenn man sie dort zu Gehör bringt, wo die Massen der politisch Aktiven sind, die Veränderungen wollen – und das ist in Frankreich heute vor allem La France Insoumise. Da es kein Hindernis für revolutionäre Strömungen gibt, innerhalb der FI aktiv zu sein, ist dies der beste Ort dafür.
In einer Zeit, in der die meisten Arbeiter:innen sich des Unterschieds zwischen einer sozialen Revolution und einer »Bürgerrevolution an der Wahlurne« nicht bewusst sind, ist es besonders wichtig, dass Revolutionär:innen an solidarischen Debatten in einem Milieu von vielen Tausenden von Aktivist:innen teilnehmen, nicht in einem Milieu von ein paar Hundert. Mindestens drei kleine revolutionäre Gruppen, zwei mit jeweils etwa hundert Mitgliedern (Gauche révolutionnaire und Révolution!) und eine größere Strömung (Ensemble Insoumis) sind innerhalb der FI aktiv.
Seit seinem Austritt aus der Sozialistischen Partei und der Gründung der Linkspartei (Parti de gauche) im Jahr 2009 hat Mélenchon sieben oder acht Bücher über politische Strategien und den Kampf gegen den Neoliberalismus geschrieben. Marxist:innen sollten sich ernsthaft mit diesen Ideen des neuen linken Reformismus auseinandersetzen.
Zum Autor: John Mullen ist Marxist und Aktivist in der Region Paris sowie Unterstützer von La France Insoumise
Bild: Kergourlay / Wikimedia
Schlagwörter: FI, Frankreich, Front de gauche, Jean-Luc, La France insoumise, Le Pen, LFI, Macron, Mélenchon, Nouvelle Union Populaire écologique et sociale, NUPES, Parti de Gauche, Präsident, Premierminister, Wahlen