Die Bundesregierung und Kanzlerin Merkel inszenieren sich in der Flüchtlingskrise als die Guten. Doch sie haben die Misere mitverursacht: Ihre Asylpolitik bleibt bis heute repressiv und rassistisch, meint Paula Nikolai
Als Ende August die österreichische Polizei auf einem Standstreifen der A4 einen LKW mit 71 toten Geflüchteten entdeckte, zeigte sich Bundeskanzlerin Angela Merkel entsetzt. Dieser Vorfall verdeutliche die »Dringlichkeit der Flüchtlingsfrage«. »Das mahnt uns, das Thema Migration im europäischen Geist, im Geist der Solidarität anzugehen und Lösungen zu finden«, erklärte sie weiter. Ähnliche Worte hörte man auch, nachdem im April dieses Jahres allein in einer Woche 900 Menschen im Mittelmeer ertranken. Ähnliche Worte waren ebenfalls zu vernehmen als am Tag nach dem Leichenfund in Österreich weitere 111 Menschen vor der libyschen Küste starben. Doch den großen Worten folgen die falschen Taten. Anstatt die europäische Flüchtlings-und Asylpolitik zu verändern, geht es letztlich immer nur darum, die Instrumente und Strategien zu verbessern, um das Betreten europäischen Bodens möglichst zu verhindern. Darüber konnte auch dieser Monat nicht hinwegtäuschen: Während die Bilder von Bahnhöfen in München und Frankfurt, an denen Geflüchtete herzlich empfangen um die Welt gingen, treibt die große Koalition die Verschärfung des Asylrechts voran. Darüber hinaus hat es gerade einmal eine Woche gedauert, bis die vermeintliche »verständnisvolle Kanzlerin« die deutschen Grenzen nach Österreich komplett dicht macht und wieder Grenzkontrollen einführt – mit katastrophalen Folgen. Das ist nämlich das wahre Gesicht der so genannten »Willkommenskultur« der Regierung.
Steigende Flüchtlingszahlen
Dabei ist die Situation ernst: Dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR zufolge haben in diesem Jahr bereits mehr als 300.000 Menschen die lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer nach Europa auf sich genommen. Die meisten starteten in Libyen und kamen in Italien oder Griechenland an. Diese Zahlen stellen einen dramatischen Anstieg dar, im Jahr 2013 waren es noch 45.000. Doch keineswegs alle Geflüchteten kommen an. Viele werden unterwegs abgefangen oder sterben während der Überfahrt. Verschiedene Schätzungen gehen von 20.000 bis 25.000 Toten in den vergangenen 25 Jahren aus. Allein im Jahr 2015 kamen bisher geschätzte 2500 Menschen ums Leben oder werden vermisst. Die tatsächlichen Zahlen dürften noch deutlich höher liegen.
Die Zahl derjenigen, die den lebensbedrohlichen Weg von Nordafrika über das Mittelmeer wählen, ist deswegen so gestiegen, weil er mittlerweile fast die einzige Möglichkeit darstellt, nach Europa zu gelangen. Die Grenzübergänge zwischen Griechenland und der Türkei sind massiv ausgebaut worden. Auch Osteuropa hat seine Grenzen zu den benachbarten Nicht-EU-Staaten mehr und mehr verriegelt. Mit dieser Politik treiben die europäischen Regierungen die Menschen in die Arme der Fluchthelfer.
Immer wieder kommt das Argument auf, dass das europäische Asylrecht nicht alle Probleme lösen könne. Doch so »weit weg«, wie die Probleme in afrikanischen oder asiatischen Staaten scheinen, sind sie meistens nicht. Die Europäische Union trägt nämlich Mitverantwortung für die Bedingungen, die Menschen in die Flucht treiben.
Warum fliehen Menschen?
Erstmal ist zu erwähnen, dass europäische Regierungen seit Jahrzehnten aus Eigeninteressen autoritäre und repressive Gewaltregime, wie die von Muammar Al-Gaddafi in Lybien, Ben Ali in Tunisien und zu Beginn auch Saadam Husein im Irak und Bashar al-Assad in Syrien unterstüz(t)en. Auch zu Saudi-Arabien und anderen autokratisch geführten Golfstaaten pflegen sie enge Kontakte. Gerade die repressiven Regierungen in Nordafrika wurden unter anderem auch deswegen »geduldet«, da diese dabei halfen, Geflüchtete abzuwehren, bevor sie überhaupt die Boote Richtung Europa besteigen konnten. Die Grenzen Libyens, dem Haupttransitland für Menschen des gesamten afrikanischen Kontinents, blieben unter Gaddafi geschlossen. Im Gegenzug zahlte die Europäische Union Geld an den Diktator.
Auf »direkter« militärischer Ebene muss an erster Stelle der Waffen- und Rüstungsexport genannt werden, den die Europäische Union und allen voran Deutschland massiv betreiben. Seit dem 11. September 2001 und dem daraus resultierenden »Krieg gegen den Terror« expandierten die Rüstungsindustrie und ihre weltweiten Exporte. Auch in Deutschland steigt das Exportvolumen seitdem kontinuierlich an. Allein zwischen 2005 und 2009 hat die Bundesrepublik den Nominalwert seiner Rüstungsexporte verdoppelt. Hinter den USA und Russland konnte sich Deutschland so jahrelang an dritter Stelle der weltweit größten Rüstungsexporteure platzieren (im Jahr 2014 wurde es von China überholt und »rutschte« auf den vierten Platz). Laut Rüstungsexportbericht 2015 der Bundesregierung wurden allein im letzten Jahr die Einzelausfuhrgenehmigungen im Gesamtwert von 3,974 Milliarden Euro erteilt.
Deutschland hat auch auf den syrischen Bürgerkrieg eingewirkt, liefert es seit Beginn der 1990er Jahre doch regelmäßig Waffen nach Saudi-Arabien und Katar, von wo aus sie bewiesenermaßen nach Syrien gelangen. Die Frage nach direkten Waffenlieferungen wurde im Sommer 2014 heftig debattiert, nachdem der IS binnen kürzester Zeit viele Städte und Regionen unter seine Gewalt gebracht hatte. Eine »direkte« Lieferung nach Syrien fand jedoch aus geopolitischen Gründen damals nicht statt, da Berlin nicht die der PKK nahestehenden Volksverteidigungseinheiten (YPG) unterstützen wollte. Stattdessen lieferte Deutschland Waffen in den Nordirak. Schon vor Beginn des Bürgerkriegs im Jahr 2011 war die Lage in Syrien nicht rosig. Menschenrechtsverletzungen waren auch damals an der Tagesordnung. Dennoch lieferten deutsche Firmen zwischen 2002 und 2006 insgesamt 134 Tonnen Chemikalien aus Deutschland nach Syrien, die auch zur Herstellung von Chemiewaffen genutzt werden können. Neuesten Erkenntnissen nach wurden sogar noch im Jahr 2011 waffenfähige chemische Substanzen geliefert. Auch Israel und die Türkei gehören seit Jahren zu den größten Abnehmern deutscher Waffen. Berlin unterstützt also aktiv Wettrüsten und Destabilisierung im Nahen Osten.
Doch nicht »nur« mittels Waffenlieferungen greifen europäische Regierungen in militärische Konflikte ein. In zahlreichen Kriegen der vergangenen Jahrzehnte waren sie selbst involviert – beispielsweise in Sierra Leone, Kongo, Kosovo, Eritrea-Äthiopien, Afghanistan, Elfenbeinküste, Irak, Libyen und Mali. Kriege sind einer der Hauptgründe, weshalb Menschen fliehen. Das sollte man sich vor Augen halten, wenn man die Herkunftsländer der Asylsuchenden in Deutschland im Jahr 2014 betrachtet: Syrien lag mit 39.332 Erstanträgen vorne, gefolgt von Serbien (17.172 Erstanträge), Eritrea (13.198 Erstanträge), Afghanistan (9.115 Erstanträge) und Albanien (7.865 Erstanträge).
Ein weiterer Bereich, in dem die EU vor allem auf den afrikanischen Kontinent einwirkt, ist die wirtschaftliche Ebene. So hat unter anderem ihr Fischereiabkommen mit afrikanischen Küstenstaaten dafür gesorgt, dass europäische Konzerne die großen Fischreserven aus der Tiefsee holen, während die lokalen Fischereibetriebe ihre Existenzgrundlage verlieren. Auch die jahrelang betriebenen europäischen Agrarsubventionen schadeten dem afrikanischen Kontinent massiv, wirkten diese doch direkt auf die Weltmarktpreise ein. Als Konsequenz entstand eine direkte, aber ungleiche Konkurrenz zwischen den afrikanischen und den europäischen Produkten. Dadurch wurden einheimische Produkte in den Erzeugerländern oftmals viel teurer verkauft als die aus Europa importierten. Dies steigerte die afrikanische Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten. Laut der UN-Welternährungsorganisation FAO sind mittlerweile 75 Prozent der afrikanischen Staaten von der Einfuhr von Nahrungsmitteln abhängig. Diese Entwicklung bedroht die Existenzgrundlage lokaler Landwirte und erschwert das Wachstum afrikanischer Volkswirtschaften, da 37 der 52 Staaten Afrikas reine Agrarnationen sind.
Verschärfte Asylpolitik
Was hier nur angerissen werden konnte, zeigt deutlich: Es gibt viele Gründe zu fliehen. Anstatt »Verantwortungen« für diese Entwicklungen zu übernehmen, machen die EU und speziell Deutschland das Gegenteil: Seit Mitte der 1990er verschärfen sie kontinuierlich ihre Asyl- und Flüchtlingspolitik. Vor allem nach dem 11. September 2001 rückte der Faktor »innere Sicherheit« zunehmend ins Zentrum ihrer Asylpolitik.
Zugleich verschärfte die EU Maßnahmen gegen «illegale« Einwanderinnen und Einwanderer. In diesem Kontext muss auch die Gründung der EU-Grenzagentur Frontex im Jahr 2004 gesehen werden. Deren Hauptaufgabe ist die Koordination der EU-Außengrenzen und die Ausbildung von Grenzschützerinnen und Grenzschützern. Ihr Aktionsgebiet liegt vor allem im Mittelmeerraum. Letztlich zielt Frontex darauf ab, Migration unmöglich zu machen.
Als im April dieses Jahres innerhalb einer Woche 900 Menschen im Mittelmeer ertrunken sind, kam seitens der EU immer wieder das Wort »Seenotrettung« auf, doch gehandelt wurde in diese Richtung bisher nicht. In einem Ende April vorgelegten Zehnpunkteplan, fiel das Wort kein einziges Mal, vielmehr wurde als einzige Lösung vorgeschlagen, die Ausgaben für die »Trition«-Operation zu verdreifachen, die Ende Oktober das Seenotrettungsprogramm »Mare nostrum« ablöste. Letzteres wurde abgesetzt, da die EU nicht bereit war die monatlichen Kosten von 9,3 Millionen Euro zu übernehmen, die vorher die italienische Regierung allein getragen hatte.
Das Problem ist, dass Triton Teil von Frontex ist und somit recht wenig mit Seenotrettung zu tun hat. Auch Frontex-Chef Gil Arias-Fernandez hat dies in einem Interview mit dem »Tagesspiegel« verdeutlicht: »Frontex ist für die Überwachung der Grenzen zuständig und hat nicht den Auftrag, Flüchtlinge zu retten«. Die Triton-Mission könne daher auch die Seenotrettungs-Operation Mare Nostrum »weder übernehmen noch ganz oder teilweise ersetzen«. Denn: »Anders als die Flotte von Mare Nostrum fahren wir nicht raus, um gezielt nach Flüchtlingsbooten zu suchen.« Geflüchtete können demnach durch Triton nur gerettet werden, falls sie zufällig an Frontex-Booten vorbei kommen. Mit anderen Worten: Der EU geht es weiterhin um die Abwehr von Geflüchteten anstatt um ihre Rettung.
Die anderen Maßnahmen des Zehnpunkteplans gehen in dieselbe Richtung. Sie stellen die konsequente Fortführung einer Abschreckungspolitik dar; versperrt alle Fluchtwege; stellt alle Geflüchteten unter Generalverdacht, eigentlich »keinen wirklichen Grund« zur Flucht zu haben; kriminalisiert die Fluchthilfe; verbietet den Flug- und Fährgesellschaften unter hohen Strafen Asylsuchende zu befördern; ermöglicht es nicht, direkt Asyl in Botschaften zu beantragen; kooperiert mit Staaten, aus denen Menschen fliehen, und bezahlt diese dafür Fluchtrouten zu sperren. Es handelt sich um eine Politik, die das Sterben von zigtausend Menschen ignoriert und bewusst in Kauf nimmt.
Abschreckung und Kriminalisierung dominieren auch die deutsche Flüchtlings- und Asylpolitik. Die Drittstaatenregelung, aus welcher die Dublin-Verordnungen resultierten, führte Berlin 1993 ein: Menschen, die Asyl in der Bundesrepublik Deutschland suchen, aber über fremde Länder einreisen, in denen keine politische Verfolgung stattfindet, haben seitdem keine Möglichkeit mehr, als Asylberechtigte anerkannt zu werden.
Angela Merkel hat diese Regelung im August dieses Jahres für syrische Geflüchtete ausgesetzt, aber letztlich profitierte Deutschland seit über zwanzig Jahren davon. Das Bundesamt hat im Jahr 2014 173.072 Asylerstanträge entgegengenommen. Gegenüber 2013 (109.580 Erstanträge) bedeutete dies einen Zuwachs von 57,9 Prozent. Auch die Zahl der Folgeanträge stieg im Jahresvergleich von 17.443 auf 29.762 (plus 70,6 Prozent). Damit liegt Deutschland in absoluten Zahlen erstmals seit 1999 auf Platz eins bei eingegangen Asylanträgen. Was diese Zahlen aber nicht verraten ist, dass im Jahr 2014 rund 45.000 Anträge ohne weitere Prüfung abgelehnt wurden, da die Geflüchteten über andere EU-Staaten einreisten. Ebenso wenig sagen sie darüber aus, das Deutschland bei der Zahl der Asylanträge pro Einwohner nur an zehnter Stelle steht.
Die besondere Diskriminierung Asylsuchender in Deutschland
Diskriminierung und Kriminalisierung hat viele Ebenen, eine davon stellt die Unterbringung von Asylsuchenden in Deutschland dar. In der Regel werden sie zuerst in einem Erstaufnahmelager untergebracht, wo sie die ersten drei Monate bleiben müssen. Danach leben sie zumeist in Gemeinschaftsunterkünften, auch Sammelunterkünfte genannt. Die Erstaufnahmeunterkünfte werden von den Bundesländern selbst finanziert, während die Kommunen und Landkreise für die Verwaltung und Finanzierung der Sammelunterkünfte zuständig sind und von Landesebene eine Pauschale pro Asylbewerberin oder Asylbewerber erhalten.
Plätze in Sammelunterkünften sind keineswegs automatisch billiger als ein Mietzuschuss für Wohnungen. Sie müssen daher primär als politisches Instrument angesehen werden. 6,5 Quadratmeter Wohnfläche stehen jeder asylsuchenden Person zu. Oftmals teilen sich bis zu fünf einander fremde Menschen ein Zimmer. Die Lager befinden sich zumeist isoliert außerhalb von Ortschaften oder Städten. Kontakte oder soziale Beziehungen außerhalb der Unterkünfte bestehen selten und sind auch nicht erwünscht.
Eine Besonderheit in der deutschen Asylregelung stellt die sogenannte Residenzpflicht dar. Laut § 56 und § 85 des Asylverfahrensgesetzes dürfen Asylsuchende grundsätzlich nur mit einer Sondergenehmigung der zuständigen Ausländerbehörde ihrer Stadt oder des Landkreises, in dem sie untergebracht sind, verlassen. Ein Verstoß dagegen wird mit einem Bußgeld bestraft, im Wiederholungsfall droht ein Strafverfahren und Haft. Auf diese Weise wird eine Form von Ghettoisierung und Stigmatisierung betrieben. Sammelunterkünfte sind eine Art »erzwungene Parallelgesellschaft«. Neben der psychologischen Komponente, dass den Asylsuchenden von Anfang an kommuniziert wird, dass sie nicht willkommen seien, steht hinter diesem sozialen Ausschluss auch die Absicht, Abschiebungen zu erleichtern. Gibt es keinen öffentlichen Aufschrei von Nachbarinnen und Nachbarn, kirchlichen Trägern oder Sportvereinen fallen Ausweisungen leichter. Je »sichtbarer« die Geflüchteten und Teil des sozialen Lebens sind, desto schwieriger wird es für staatliche Institutionen sie später »loszuwerden«.
Das sind alles Folgen einer Politik, die vor allem CDU und CSU in den letzten Jahrzehnten vorangetrieben haben – also zwei Parteien, die sich auch immer wieder rechtspopulistischer Rhetoriken und Positionen bedienten: ob nun bei der »Asylflut«-Kampagne zwischen 1991 und 1993, der Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft unter rot-grün oder die ganzen Debatten um »Wirtschaftsflüchtlinge«. Die Unterscheidung zwischen »guten« und »schlechten« Einwandern: die, die »wirklich« Schutz brauchen und die »nur« wirtschaftlichen Gründen fliehen, bleibt bis heute bestehen und wird auch von der jetzigen Bundesregierung gepflegt.
Flüchtlingspolitik: Die zynische Haltung der Bundesregierung
Die rechte Gewalt gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte nimmt derzeit erschreckend zu. Mit Pegida gab es im vergangenen Winter die größte rassistische Mobilisierung der Nachkriegszeit. Als Antwort hierauf fällt der Regierung Merkel nichts Besseres ein, als das deutsche Asylrecht weiter zu verschärfen. Anfang Juli verabschiedete der Bundestag das Gesetz zur »Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung«. Dahinter verbirgt sich: Die Bundesregierung will die Inhaftierung von Schutzsuchenden dramatisch ausweiten. Geflüchtete, die Mithilfe von Schleppern nach Deutschland gekommen sind oder anders Grenzkontrollen umgangen haben, die keinen Pass besitzen oder falsche Angabe gegenüber Behörden machen, können nun eingesperrt und schnellstmöglich abgeschoben werden. Also mehr oder weniger alle Geflüchteten.
Neben einer erneuten Kriminalisierung ist dieses Gesetz vor allem zynisch, suggeriert es doch, dass es «legale« Einreisemöglichkeiten nach Deutschland gebe. Dies ist, wie oben dargelegt, aber nicht der Fall. Ende August legte Innenminister Thomas de Maizière ein Arbeitspapier mit dem Titel »Zur Eindämmung der Arbeitsmigration« vor. Darin schlägt er vor, dass Asylbewerberinnen und Asylbewerberlänger in Erstaufnahmeeinrichtungen untergebracht werden sollen, um so Abschiebungen zu beschleunigen. Auch die Residenzpflicht soll verschärft werden. Darüber hinaus möchte er Bargeldzahlungen für Asylsuchende wieder durch Sachleistungen ersetzen (gegenwärtig erhält eine asylsuchende Person 359 Euro im Monat, was immer noch 10 Prozent unterhalb des Hartz-IV-Regelsatzes liegt). Außerdem sollen weitere Balkanstaaten zu sicheren Herkunftsstaaten deklariert werden. De Maizière hatte bereits im Oktober 2014 aktiv den Asylkompromiss vorangetrieben, durch den die Länder Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzogowina als sichere Herkunftsländer anerkannt wurden.
Wer von »Flüchtlingskrise« redet, darf vom Kapitalismus nicht schweigen
Vor allem seit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise haben die Gründe zu fliehen durch Armut und militärische Auseinandersetzungen drastisch zugenommen. In Europa beobachten wir derzeit, was in Griechenland passiert. Doch die Auswirkungen der Krise in afrikanischen und asiatischen Staaten sind nicht weniger schlimm.
So unterschiedlich die Gründe auch sein mögen, sind sie alle Ausdruck der aktuellen kapitalistischen Strukturen: Strukturen, in welchem Kapital international beweglich sein kann, Menschen aber nicht.
Auch wenn beispielsweise die Fluchtgründe aus Syrien oder Eritrea nicht mehr gegeben sein würden, andere Länder und andere Fluchtgründe würden folgen. Kriege und Krisen sind Teil vom Kapitalismus – einer Wirtschaftsform, die, wie Marx es schrieb, auf Ausbeutung von Lohnarbeit und der konkurrenzgetriebenen Akkumulation des Kapitals beruht. Diese Wirtschaftsform, schürt die Konkurrenz zwischen verschiedensten Regionen der Welt und zwingt sie wirtschaftlich und in der letzten Instanz auch militärisch zu konkurrieren. Diese Konkurrenz hat viele Opfer, nämlich Menschen, die keinen anderen Ausweg sehen als ihre Heimatregion zu verlassen. Wer von »Flüchtlingskrise« redet, darf vom Kapitalismus nicht schweigen.
Der Kampf für eine andere Flüchtlingspolitik
Wirkliche Veränderungen in der Flüchtlingspolitik können wir weder von der Europäischen Union noch von der Bundesregierung erwarten, sondern müssen sie erkämpfen.
Anders als Anfang der 1990er Jahre, zur Zeit der Anschläge von Rostock-Lichtenhagen, werden diese Kämpfe immer mehr geführt. So organisieren sich immer mehr Menschen und gehen kollektiv gegen rechte Hetze vor. Zudem führen sie einen Kampf um die Meinungshoheit und stellen Gegenöffentlichkeit her. Ein sehr wichtiger und entscheidender Schritt hierfür war die Bewegung von Geflüchteten selbst, die sogenannte Refugee-Bewegung, die ab 2012 in ganz Deutschland entstanden ist und ihre Forderungen und ihren Kampf nach Berlin getragen hat. Auch die großen No-Pegida-Bewegungen haben gezeigt, dass Zehntausende die rechte Hetze gegen Muslime, Muslimas und Geflüchtete nicht hinnehmen wollen. Darüber hinaus engagieren sich viele tausende ehrenamtlich in Flüchtlingsinitiativen, caritativen Organisationen, Bündnissen oder als Einzelpersonen. Die Bandbreite dieser kommunalen Initiativen reicht von kostenloser Rechtsberatung und Deutschunterrichten bis hin zum gemeinsamen Kochen mit Geflüchteten oder gemeinsamen Gärtnern. Darüber hinaus haben sich in vielen Orten, in denen »Bürgerinitiativen« gegen Flüchtlingsunterkünfte entstanden, auch immer breite Gegenbündnisse gegründet. Diese (kommunalen) Initiativen stellen einen wichtigen Gegenpol zu den staatlichen Repressionen da, denen viele Geflüchtete ausgesetzt sind. Doch Ehrenamt kann die verfehlte Asylpolitik nicht allein auffangen und ersetzen. Es bedarf konkreter politischer Lösungen und Forderungen. Viele der auf Ausgrenzung ausgerichteten und repressiven Regelungen gegen Geflüchtete sind Bundesgesetz oder auf europäischer Ebene geregelt. Als Mitglieder der LINKEN sollten wir aber auch auf kommunaler und Landesebene alle Möglichkeiten ausschöpfen, Veränderungen vorzunehmen. Zudem sollten wir klar aufzeigen, wie eine andere Asyl- und Flüchtlingspolitik aussehen kann und sollte.
»Wohnen« ist beispielsweise ein Thema, bei dem auf Länderebene eingegriffen werden kann. Wer Geflüchtete in Sammelunterkünfte steckt, entmündigt sie und nimmt ihnen von Anfang an die Möglichkeit, gesellschaftlich und politisch »auf eigenen Füßen zu stehen«. DIE LINKE lehnt deshalb Sammel- und Gemeinschaftsunterkünfte ab und fordert die Unterbringung von Geflüchteten in Wohnungen an. Bis diese Forderung durchgesetzt ist, bedarf es neben der Erschließung von Wohnraum für Geflüchtete auch Mindeststandards für Gemeinschaftsunterkünfte.
Der Zugang zu Sozialwohnungen muss im Wohnungsbindungsgesetz für Asylsuchende und Geduldete gewährleistet sein. Geflüchtete haben es auf dem »freien Wohnungsmarkt« oft schwer, eine Wohnung zu bekommen. Hierfür muss eine gezielte Unterstützung und Begleitung stattfinden. Auch in Bezug auf Gesundheitsversorgung kann auf Landesebene Druck aufgebaut werden. Bremen und Hamburg haben es vorgemacht: Asylsuchende können und sollten in die gesetzliche Krankenversicherung aufgenommen werden.
Auf Bundesebene müssen wir weiterhin gegen Bundeswehreinsätze und Waffenexporte kämpfen. Statt diskriminierenden Sondergesetzen sollen Geflüchtete in das allgemeine System der sozialen Sicherung und Gesundheitsversorgung einbezogen werden (Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetz). Ein uneingeschränkter Zugang zum Arbeitsmarkt ist unabkömmlich. Außerdem muss es Aufgabe des Bunds (und nicht der Kommunen und Länder) werden, die menschenwürdige Aufnahme und Unterbringung zu gewährleisten.
Unsere Slogans sollten sein: Weg mit einer Flüchtlingspolitik, die auf Abschreckung setzt! Weg mit einer Flüchtlingspolitik, die Geflüchtete kriminalisiert! Weg mit dem Krieg gegen Schlepper, weil er in Wahrheit ein Krieg gegen Geflüchtete ist!
Es muss endlich legale Wege für Flüchtlinge nach Europa geben, also offene Grenzen. Außerdem müssen endlich die Fluchtursachen bekämpft werden. Das bedeutet: Nein zu Bundeswehreinsätzen, zu Waffenproduktion und -exporten.
Solange die Ursachen, die Menschen zur Flucht zwingen, nicht bekämpft werden, solange werden Menschen fliehen. Auch die radikale Abschottungspolitik der EU und Deutschlands wird daran nichts ändern. Wie eine andere Asyl- und Flüchtlingspolitik aussehen sollte, ist daher eine der im Moment zentralsten und wichtigsten Aufgaben linker Politik. Die Kämpfe für offene Grenzen und eine würdevolle und demokratische Flüchtlings- und Asylpolitik vor Ort stellt eine der größten Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts dar.
Foto: enric borràs
Foto: EU Humanitarian Aid and Civil Protection
Schlagwörter: Asyl, Asylrecht, EU, Flucht, Flüchtlingskrise, Flüchtlingspolitik, Inland, Migration