Was bleibt vom 1934 ermordeten Anarchisten und Antimilitaristen Erich Mühsam? Eine ganze Menge, wie Christa Weber und Christof Herzog beweisen. Von David Jeikowski
Die Hamburger Punkband Slime stand im Frühjahr 2012 vor einem Problem. Seit Mitte der Achtziger war die Gruppe mit ihren markanten Texten so etwas wie die Souffleuse aller Autonomen und Punker: »Legal, illegal, scheißegal« geht auf sie zurück, das Schmäh-Akronym »A.C.A.B« haben sie maßgeblich zu verbreiten geholfen. Doch als sich die Band nach 18 Jahren zu einem erneuten Comeback entschied, hatte sich ausgerechnet Stephan Mahler, ihr Drummer und Songwriter, bereits in den musikalischen Ruhestand verabschiedet. Warum also nicht ein Rückgriff auf die Texte des Dichters Erich Mühsam? Dieser war mit seiner konsequenten Ablehnung von Sittsamkeit und Staatsmacht doch ein Bürgerschreck par excellence, ein Punk-Prototyp samt rebellischer Haarpracht. Der Titel des erwartungsgemäß lauten Albums brachte die gemeinsame Geisteshaltung gekonnt auf den Punkt: »Sich fügen heißt lügen«.
Militarismus kennt keine Gnade
Dreht man nun, wie das Weber-Herzog-Musiktheater, den Entstehungsprozess um, geht also von Mühsams Lebenswerk und -zeit aus und komponiert dazu passende Musik, so kann das Ergebnis auch verblüffend anders ausfallen. Dies liegt natürlich zuallererst an den Künstlern selber – Christa Weber ist gelernte Schauspielerin und Autorin, Christof Herzog ist studierter Komponist und Kammermusiker – aber auch an der Auswahl der Texte.
Neben aufrichtig-emotionalen (»Die Sonne lacht«), teilweise anzüglichen Gedichten (»Liegst du lang«) bleiben vor allem die plastischen Beschreibungen von Kriegsgetümmel und Militarismus im Gedächtnis. »Sengen, brennen, schießen, stechen/ Schädel spalten, Rippen brechen« kreischt sich Christa Weber in Ekstase, während eine Klarinette das gespenstische Spiel frenetisch begleitet. Auch der Chorus, eine vergleichsweise harmonische Verschnaufpause (»So lebt der edle Kriegerstand/ (…) mit Gott für König und Vaterland), wird jäh durch ein Paarbeckenschlag und Offiziersgeschrei unterbrochen: »Stillgestanden! Hoch die Beine!/ Augen geradeaus, ihr Schweine!«. Die nächste Schlacht geht jedoch nicht gut aus: »Angeschossen, hochgeschmissen/ Bauch und Därme aufgerissen/ (…) Mutter! Mutter!! Sanitäter!!! …« Die letzten Wörter bleiben im Halse stecken. Seichte Töne erklingen, die letzte Ehre wird erwiesen. Doch die Feier des gefallenen Kriegers schlägt um in eine Feier des Kriegerstands, der Tote wird zum Märtyrer, es wird wieder exerziert. Der Militarismus kennt keine Gnade, nur Gott und »König und Vaterland«. Gruselig!
Mühsam und die Münchner Räterepublik
Mag sich das deutsche Militär auch in seiner Außendarstellung modernisiert haben, lässt sich eine Kontinuität im Inneren schwer leugnen. Ob zur Stärkung des Kampfgeistes oder der Gemeinschaft, der Alkohol scheint damals wie heute integraler Bestandteil des Heers, wie das nächste Lied aufzeigt. Dass hier zwischendurch immer wieder »Ein Prosit der Gemütlichkeit« angestimmt wird, ist sicher ebenso wie das nächste Stück, »Die Resel von Konnersreuth«, ein kritischer Verweis auf »das Volk der Bajuwaren« und Mühsams langen Aufenthalt unter ihnen. 1919 war er maßgeblich an der Gründung der Münchner Räterepublik beteiligt, wofür er später zu 15 Jahren Haft verurteilt werden sollte.
Immer wieder erschrickt man, wie aktuell die Texte sind. Zu so vielen Zeilen des 1878 geborenen Lyrikers lassen sich mühelos aktuelle Bezüge herstellen: »Die Stadt Berlin (…) spart an allen Ecken/ Mag Kranken-, Schuldienst und Verkehr/ verdrecken und verrecken!/ Im Westen kennen sie den Dreh,/ wie Baugeld man zur Stell’ schafft:/ Man spekuliert aufs Portemonnaie/ der besseren Gesellschaft«. Was ist das anderes als eine Beschreibung der aktuellen Wohnungs- und Sozialpolitik diverser deutscher Großstädte? Wenn Mühsam von einem Lampenputzer erzählt, der sich als besonders revolutionär geriert, aber nicht mehr mitspielen will, wenn ausgerechnet die von ihm stets sorgsam geputzten Lampen für den Barrikadenbau genutzt werden sollen – was ist das anderes als die Frage nach der Integrität einer sich als revolutionär verstehenden Partei (damals explizit der SPD, heute analog der Linkspartei)?
Einmal eingehört, eine große Bereicherung
Christof Herzogs burleskartigen, größtenteils auf Violine und Klarinette basierenden Kompositionen bedürfen einer gewissen Eingewöhnung popgewöhnter Ohren, ebenso wie Christa Webers von quietschig-kreischend bis wollüstig-glucksend reichendes Stimmrepertoire. Einmal eingehört, bereichert es jedoch ungemein.
Erich Mühsam ist schon lange tot, 1934 wurde er im KZ Oranienburg ermordet. Seine antifaschistischen Texte scheinen jedoch nicht weniger aktuell als damals. Während seiner Inhaftierung in Bayern schrieb er: »Ich schwur den Kampf. Darf ich fliehn?/ Noch leb ich – wohlig oder hart./ Kein Tod soll mich der Pflicht entziehn –/ und meine Pflicht heißt: Gegenwart«
Angaben zur CD:
Weber-Herzog-Musiktheater
Erich Mühsam – Lieder, Songs, Gedichte
Housemaster Records 2016
Foto: seven_resist
Schlagwörter: Album, Dichter, Kultur, Musik