Vor einhundert Jahren kam in Italien mit Benito Mussolini der Faschismus an die Macht. Die Frage, wie es dazu kommen konnte, ist vor dem Hintergrund des Wiedererstarkens faschistischer Kräfte in ganz Europa so brisant wie nie. Von David Paenson
»Majestät, ich komme vom Schlachtfeld.« So stellte sich Benito Mussolini, in der Montur der Squadristen, der Schwarzhemden, gekleidet, am 30. Oktober 1922 dem italienischen König vor. Dieser beauftragte ihn mit der Regierungsbildung. Es folgten 21 Jahre grausamer faschistischer Diktatur.
Mussolini kam nicht vom Schlachtfeld. Er war von Mailand aus, wo er seine Parteizentrale hatte, im Nachtzug nach Rom gefahren. Dort putzte er sich in einem Hotel für die königliche Audienz heraus.
Dagegen harrten vierzig- oder fünfzigtausend seiner Schwarzhemden vor Rom in strömendem Regen und ohne Versorgung aus. Am nächsten Tag erhielten sie den Befehl zum »Marsch auf Rom«.
Die gesellschaftliche Krise
Italien kam geschwächt aus dem Ersten Weltkriegs. 600.000 Soldaten waren tot, es gab eine Million Versehrte. Die heimkehrenden Soldaten waren nach links radikalisiert, ihre Offiziere hingegen suchten nach rechten Antworten. Die Wirtschaft lag darnieder. Italien musste seine Kohleimporte aus England senken, der Bahnverkehr war eingeschränkt, die Menschen litten unter der Inflation. Angesichts der gesellschaftlichen Spaltung und mangelnder Gegenwehr der Arbeiterorganisationen konnte Mussolini seine kleinbürgerliche Bewegung der bewaffneten Schwarzhemden aufbauen.
Ein »Arbeiterprogramm«
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs kam es zu einer Welle von kämpferischen Streiks in der Industrie und unter den Landarbeiter:innen. Der Achtstundentag wurde errungen, die Landkooperativen kontrollierten Löhne und Arbeitsbedingungen. Die sozialistische Gewerkschaft CGdL war auf 2 Millionen Mitglieder angewachsen, die anarchistische zählte 300.000, die christliche 1,8 Millionen. Diese Bewegung wollten die Herrschenden zerschlagen. Mussolini bot sich mit seiner Bewegung dafür an.
Die Gründungsversammlung der faschistischen Partei fand am 23. März 1919 in einem vom Unternehmerverband Circolo degli Interessi Industriali e Commerciale zur Verfügung gestellten Saal. Neben 100 Faschisten verschiedener Prägung nahmen auch Ultrakonservative, Anarchosyndikalisten, ehemalige Frontkämpfer, Freimaurer, linke Kriegsbefürworter und Mitglieder der Kunstrichtung der Futuristen teil.
Mussolinis Programm war eine Reaktion auf den Aufschwung der Arbeiterbewegung. Es forderte »Technische Arbeitsräte auf nationaler Ebene«. Das erinnerte an die russischen Arbeiterräte, die Sowjets. Es forderte auch »eine echte Teilenteignung aller Güter«. Doch was ist eine »echte«, aber nur »teilweise« Enteignung? Eine außenpolitische Forderung war ein »friedlicher Wettbewerb der zivilisierten Staaten«.
Majestät, ich komme vom Schlachtfeld.
Wenige Tage vor dem Parteitag hatte Mussolini sogar eine von der rechten nationalistisch-syndikalistischen Unione Italiana del Lavoro organisierte Betriebsbesetzung unterstützt. Über der Fabrik hissten die Besetzer die italienische Flagge, um sich von der roten Fahne der Sozialisten abzugrenzen. Das Motto lautete »Im Interesse der italienischen Industrie und für das Wohl des Volks ganz Italiens«.
Mussolini war voll des Lobs für die dreitägige, aber gescheiterte Besetzung. Er hielt eine Rede bei »Avantgarde des nationalen Syndikalismus«. Es war aber alles nur Show. Denn ein Hauptaktionär des Betriebs war Spender von Mussolinis Zeitung Il Popolo d’Italia. Die Show spielte aber fortan eine wichtige Rolle in der faschistischen Folklore und Mussolinis Rede wurde immer wieder als Beleg für seine »Liebe zur Arbeiterklasse« zitiert. Die Fabrikbesetzer waren selbst keine Faschisten – im Herbst 1920 beteiligten sie sich an der landesweiten Fabrikbesetzung und hissten diesmal die rote Fahne.
Die Zeitung
Mussolinis Tageszeitung Il Popolo d’Italia (Das Volk Italiens) spielte eine zentrale Rolle im Aufbau der faschistischen Massenbewegung. Sie war der Kitt, der die unterschiedlichen Fasci in den einzelnen Städten zusammenhielt. Die Redaktion in Mailand war Start- und Endpunkt unzähliger Demonstrationen. So auch eines gewalttätigen Überfalls auf die Redaktionsbüros der sozialistischen Zeitung Avanti! am 15. April 1919. Die Faschisten zerstörten alles. Dank einer Spendensammlung konnten bald neue Büros errichtet werden.
Ein Jahr später brüstete sich Mussolini: »Am 15. April offenbarten sich die Mailänder Sozialisten – für jedermann sichtbar – als Philister und Feiglinge. Sie waren nicht imstande, eine Geste der Revanche zu planen oder zu versuchen. […] Und das gesammelte Spendengeld […] reicht nicht aus, um die historische Bedeutung dieses Tages auszulöschen, an dem die maximalistische Puppe […] in das stinkende Flusswasser des Navigliokanals fiel.«
Die »Maximalisten« bildeten den in Worten revolutionären Flügel der Sozialistischen Partei (PSI). Mussolini hatte ihre Schwäche erkannt. So begnügte sich der Herausgeber der Avanti! Giacinto Serrati mit der Erklärung: »Das Blut der Opfer […] wird den Sozialismus zu neuer Blüte treiben.«
Der 15. April blieb wesentlicher Bestandteil der faschistischen Legendenbildung. So schuf der futuristische und kubistische Maler Enrico Prampolini für eine faschistische Kunstausstellung im Jahr 1932 zwei riesige Bilder zum Andenken an das blutige Ereignis.
Die Schwarzhemden
Mussolini baute seine Truppen von Schwarzhemden systematisch auf und trainierte sie in Angriffen auf die Zentralen der Arbeiter- und Landarbeiterbewegung. Angelo Tasca, Mitbegründer der italienischen Kommunistischen Partei (PCI), fasst das Ausmaß der faschistischen Gewalt wie folgt zusammen:
»Im ersten Semester 1921 haben die Faschisten in ganz Italien 17 Zeitungsredaktionen und Druckereien, 59 Volksheime, 110 Arbeitskammern, 83 Lokale der Landarbeiterligen, 151 sozialistische Büros und 150 Kulturheime zerstört. Beinahe alle diese Zerstörungen sind zwischen März und Mai erfolgt.«
Die faschistische Gewaltorgie setzte allerdings erst richtig ein, als die kämpferische Arbeiterbewegung ihren Höhepunkt überschritten hatte, nach den großen Fabrikbesetzungen im Herbst 1920.
Biennio Rosso
Biennio Rosso, die Zwei Roten Jahre, bezeichnen die Streikwellen nach 1919. Gegen Ende dieser Ära, während des Monats September 1920, besetzten 500.000 Metaller ihre Betriebe und hielten die Produktion in Eigenregie aufrecht. Es herrschte Aufbruchstimmung. Manche redeten sogar davon, direkt wirtschaftliche Beziehungen mit den russischen Sowjets aufzunehmen.
Aber die Führungen des PSI und der Gewerkschaft hatten andere Pläne. Am Morgen des 10. September sprachen die Sozialisten noch von der »revolutionären Entscheidungsschlacht« und der gewerkschaftliche Dachverband CGdL von der »gewerkschaftlichen Kontrolle der Industrie«. Am selben Abend beschlossen sie gemeinsam, den Arbeitskampf einzustellen. Die Unternehmer machten unter Vermittlung des liberalen Ministerpräsidenten Giovanni Giolitti einige Zugeständnisse, aber die Dynamik der Bewegung war gebrochen.
Drei Wochen nach Beendigung der Fabrikbesetzungen unterstellte Kriegsminister Ivanoe Bonomi – selbst ehemaliger Redakteur der Avanti! – 60.000 vor der Entlassung stehende Reserveoffiziere unter Weiterzahlung von vier Fünfteln ihres Soldes der Befehlsgewalt Mussolinis. Hier zeigt sich, wie der Staat schon Ende 1920 bereit war, Teile seines Gewaltmonopols in faschistische Hände zu geben. Die Herrschenden wollten sich mit dem von Giolitti ausgehandelten Kompromiss aber nicht begnügen: Die Organisationen der Arbeiterklasse mussten zerschlagen werden und Mussolini war ihr Mann.
Mussolini, der »Freund der Arbeiterklasse«, stand somit stets in engem Kontakt mit den Eliten der Großgrundbesitzer und Industriellen, aber auch mit ausländischen imperialistischen Mächten – so erhielt er beispielsweise vom britischen Geheimdienst MI5 ab 1914 bis 1925 wöchentliche Überweisungen von 100 Pfund (heute 8.000 Euro).
Eine geeinte Linke hätte Mussolini stoppen können
Die faschistische Gefahr wurde von den Führungen der Arbeiterbewegung gänzlich unterschätzt. Auf die Gewaltakte der Schwarzhemden reagierten sie mit regionalen Streiks. Diese zielten aber lediglich darauf ab, Druck auf die Behörden auszuüben, damit diese gegen die Faschisten vorgehen. Es gab keine landesweit koordinierte Aktion – beispielsweise gegen die faschistische Parteizentrale in Mailand.
Dabei gab es eine Gelegenheit, als im Juni 1921 sich die antifaschistische Volksmiliz, die Arditi del popolo, gründete. Zu ihr gehörten Syndikalisten, Sozialisten, Kommunisten, Anarchisten, Republikaner und auch einige frühere Militäroffiziere. Nach wenigen Monaten zählte sie 20.000 Mitglieder. Mussolini erblickte in ihr eine Gefahr für seine eigene Bewegung. Die Arditi wurden aber von den großen Arbeiterorganisationen boykottiert. Sie blieben auf sich allein gestellt – mit ihrer eigenen Kultur und eigenen Symbolen des Antifaschismus.
In dieser Lage begann Mussolini Verhandlungen mit dem PSI über einen »Nichtangriffspakt«. Die monatelangen Gespräche wiegten den PSI in falscher Sicherheit. Dieses Manöver war ein Meisterstück Mussolinis. Der PSI und die Gewerkschaftsführung empfahlen nun ihren Mitgliedern, zu Hause zu bleiben und Zusammenstößen mit den Faschisten aus dem Weg zu gehen. »Bleibt in euren Wohnungen; reagiert nicht auf die Provokationen. Auch Schweigen und Feigheit sind zuweilen echter Heldenmut.«
Der erst am 21. Januar 1921 gegründete PCI unter der Führung Amadeo Bordigas handelte genau so unverantwortlich, als er seine eigenen »klassenbewussten« roten Squadre gründete, die bis zu 6.000 Mitglieder hatten. Mitgliedern des PCI war es – trotz der dringlichen Warnung Lenins – verboten, die Arditi del popolo zu unterstützen. Man könne sich nicht zwei Befehlsgewalten zugleich unterstellen.
Die Kräfte, Mussolini und seine Bewegung zu stoppen, waren also vorhanden. Aber die sozialistischen Führer begriffen die Bedrohung nicht, während der PCI einen sektiererischen Kurs verfolgte.
Faschistische Massenbewegung
Bisweilen revoltierte Mussolinis eigene Parteibasis in den Städten und unter den Agrariern gegen ihn. In Bologna tapezierte sie am Vorabend einer großen Parteiversammlung die ganze Stadt mit Plakaten »Gegen den Verräter Mussolini«, weil Mussolini ihr weitere gewalttätige Überfälle untersagt hatte. Mussolini hatte aber erkannt, sich im richtigen Augenblick mäßigen zu müssen: »Es geht für die Faschisten darum, dass sie nun nicht selbst den Sinn für das Maß verlieren. Ein solcher Verlust könnte einen großen Sieg zunichte machen oder sabotieren. Wenn man einmal gesiegt hat, ist es gefährlich, das Ausmaß des Sieges noch übersteigern zu wollen.«
Mussolini legte seinen Sitz im Exekutivkomitee der Faschisten vorübergehend nieder. Schließlich gelang es ihm, das Ruder mit einer Kompromisslösung wieder an sich zu reißen: »Soll der Faschismus Partei werden? Nach langen Überlegungen und eingehender Prüfung der politischen Lage bin ich zu dem Schluss gelangt, die Frage mit Ja zu beantworten […] Es muss eine derart festgefügte und disziplinierte Partei geschaffen werden, die sich, falls sich dies als notwendig erweisen sollte, sofort in ein Heer verwandeln kann, das auf der Ebene der Gewalt agieren könnte […] Man wird der Partei eine Seele, das heißt ein Programm geben müssen.«
Giulia Meloni und Björn Höcke stützen sich noch nicht auf eine faschistische Straßenbewegung. Aber ihr Wahlsieg wird die Straßenfaschisten ermutigen. Es gilt, die Entstehung einer neuen faschistischen Massenpartei – ob in Italien, Deutschland oder anderswo – zu verhindern.
Titelbild: Marsch auf Rom
Schlagwörter: Faschismus, Italien, Mussolini