In Myanmar kämpft die Arbeiterklasse gegen den Militärputsch. Sie spielt schon lange eine entscheidende Rolle in der Bewegung für Demokratie.
Die Straßen quellen über vor Protestierenden. Gruppen skandierender Studierender bahnen sich einen Weg durch die Mengen mit improvisierten Bannern gegen die Militärregierung.
Krankenhausdelegationen in weißen Kitteln mischen sich mit Arbeitern in Bauhelmen und vielen Tausend anderen. Das könnte eine Momentaufnahme aus dem Jahr 2021 sein. Ebenso gut könnte sie aus den Protestjahren 2007, 1998 und vielen anderen stammen.
Myanmar in Bewegung
Allen gemein war die Illusion, dass alle Beteiligten aus allen Klassen das gleiche Interesse in ihrem Kampf gegen das Regime verfochten. Diese Illusion besiegelte ihre Niederlage.
Auch die riesigen Demonstrationen heute sind voller Arbeiterdelegationen. Sie bieten die Chance, mit einer langen Vergangenheit brutaler Repression zu brechen. Sie können eine neue Geschichte von Revolten einleiten.
Wenn sie aber die Gelegenheit beim Schopf ergreifen wollen, müssen sich die einfachen Leute auf ihre eigene Macht statt auf wortgewandte Liberale verlassen.
Proteste gegen das Militär
Die Proteste des Jahres 1988 tauften die sie anführenden Studenten und Studentinnen »8888«. Der Anlass war ein scheinbar ganz nichtiger, nämlich ein Streit über Musik in einem Teeladen in der Stadt Yangon einige Monate zuvor.
Der Sohn eines niedrigen Regierungsbeamten hatte einen Studenten niedergestochen. Das Militär hatte versucht, die Tötung unter den Teppich zu kehren. Aber die Studenten, ohnehin von Jahren der Diktatur und der wirtschaftlichen Stagnation aufgebracht, zogen auf die Straße.
Massaker an Studierenden
General Ne Win, der starke Mann des Regimes seit 1962, schickte die Aufstandspolizei, um die Studenten niederzumetzeln. Sie töteten Hunderte und verhafteten Tausende.
Augenzeuge Bertil Lintner erinnert sich an eines der vielen Massaker:
»Als wir die Abwasserkanalbrücke hinter uns gelassen hatten, die wir ›Weiße Brücke‹ nennen, standen wir auf einmal vor einer über die ganze Straßenbreite gespannten Stacheldrahtsperre. Auf der anderen Seite hatten sich mit Schnellfeuerwaffen ausgerüstete Soldaten postiert, die zu unserem Entsetzen direkt auf uns zielten.
Als wir uns umdrehten, verfielen wir in Schockstarre. Es gab hunderte Lon Htein [Aufstandspolizei] mit Stahlhelmen, Gewehren und Bambusschildern … Es erschallte ein Befehl und die Lon Htein stürzten sich auf uns.
Knüppel wurden geschwungen und Knochen splitterten. Man hörte das Stöhnen und die Schreie der blutenden, zu Boden niedergestreckten Studenten … Nach etwa einer Stunde hörte die Gewaltorgie auf.
Leichen in ihren Blutlachen bedeckten die Straße. Die ›Weiße Brücke‹ war auf einmal rot.«
Arbeiterklasse in Bewegung
Die Unterdrückung brach aber der Bewegung nicht das Genick. Vielmehr trug sie dazu bei, dass sie sich auf die Arbeiterschaft und die Berufsstände ausbreitete.
Das Regime beschloss, den Fehdehandschuh hinzuwerfen. Es beförderte General Sein Lwin, der die Niederschlagung der Studentenproteste angeführt hatte, zum neuen starken Mann. Er rief bald darauf das Kriegsrecht aus.
Die darauf folgenden Wochen waren eine Zeit frenetischer Aktivität. Es gab Riesenproteste und einen von Millionen befolgten Generalstreik. Teile des Militärs kehrten dem Regime den Rücken. Für einen ganzen Monat waren die Generäle vollkommen handlungsunfähig.
Höhere Löhne und Demokratie
Die Arbeiter und Arbeiterinnen errichteten Nachbarschaftskomitees. Bauern auf dem Land schlossen sich ebenfalls den Protesten an.
Es wurde zunehmend klar, dass die Arbeiter und die Armen ihre wirtschaftlichen Forderungen nach höheren Löhnen und besseren Lebensbedingungen mit dem Kampf um Demokratie verbanden. Für sie gehörten sie zusammen. Gruppen von Arbeitern und Studenten stürmten Regierungsgebäude. Ihnen wäre die endgültige Zerstörung des Regimes beinahe gelungen.
Aber gerade in dem Augenblick, als die Protestbewegung ihren Höhepunkt erreichte, traten Widersprüche in ihren Reihen auf.
Mittelschicht von Myanmar
Eine kleine, aber bedeutende Schicht von Freiberuflern und anderen in gehobeneren Positionen, die die Führung der Bewegung stellten, begann, sich vor den Selbstaktivitäten an der Basis zu fürchten.
Diese Gutbetuchten sahen offensichtlich keinen Widerspruch in einer Demokratie, die die Mehrheit der Menschen zu einem Leben in Armut verdammte.
In einem kalkulierten Schachzug trat Lwin zurück. Das Regime ernannte einen Zivilisten zum neuen Regierungschef.
Die Armee hoffte, damit der »respektablen« Führung der Demokratiebewegung eine Handhabe zu bieten, die »rowdyhafteren« Elemente unter Kontrolle zu bringen.
Aung San Suu Kyi betritt die Bühne
Das war der Moment, als die bis dahin wenig beachtete Aung San Suu Kyi ins Rampenlicht trat.
Suu Kyi war die Tochter des ermordeten Kämpfers gegen die britische Herrschaft, Aung San – in den Augen vieler »der Vater der Nation«.
Sie hatte in Oxford studiert, war mit einem Europäer verheiratet und hatte für die UNO gearbeitet.
»Nationalliga für Demokratie« gegründet
Jetzt gründete sie, zusammen mit verrenteten Armeeoffizieren, die einen Groll gegen die Junta hegten, eine Oppositionspartei, die Nationalliga für Demokratie (NLD). Die NLD erkannte die Notwendigkeit von Protesten an, wollte sie aber lediglich als Hebel nutzen, um Parlamentswahlen zu erzwingen, nicht, um radikale Veränderung durchzusetzen.
In ihrem schnellen Aufstieg zum öffentlichen Gesicht der Bewegung war sie bemüht, diese weg von Konfrontationen auf einen Kurs der Verständigung umzuorientieren.
Auf einer riesigen Kundgebung Ende August forderte sie die Menge dazu auf, »ihre Zuneigung für die Armee nicht zu verlieren«. Sie pochte darauf, dass Demokratie nur durch »friedliche Mittel« erreichbar sei.
Regime gruppiert sich neu
Aber Suu Kyis Erscheinen diente lediglich dazu, dem Regime Zeit zu geben, sich neu zu gruppieren und die Oppositionsbewegung, einschließlich Suu Kyi selbst, zu vernichten.
Sobald die Armee diese Zögerlichkeit in deren Reihen wahrnahm, zahlte sie es ihr mit unermesslicher Gewalt heim. Truppen kehrten nach Yangon zurück und töteten wahllos, jede und jeden, auf die sie trafen.
Sie massakrierten abertausende unbewaffnete Zivilisten. Zu ihren Gräueltaten zählte auch das Verbrennen von Anführern der Proteste bei lebendigem Leib.
Arbeiterklasse in der Defensive
Viele derjenigen, denen die Flucht gelang, unter ihnen auch Suu Kyi, wurden später ins Gefängnis geworfen oder unter Hausarrest gestellt.
Die Arbeiterbewegung hatte für eine kurze Zeit die Initiative in ihrer Hand gehalten. Dieser Moment war nun vorbei.
In den Jahren danach unternahm das Regime den Versuch, sich einen demokratischen Mantel zu geben. Es veranstaltete eng kontrollierte Wahlen und begrenzte Reformen wurden zugestanden – alles, um sich gut auf der internationalen Bühne darzustellen.
Neue Proteste in Myanmar
Steigende Treibstoffpreise im Jahr 2007 waren dann der Anlass für kleinere Straßenproteste, in die sich die Studenten mit Gusto warfen.
Nachdem Regimeschergen auf die Marschierenden das Feuer eröffneten, gesellten sich buddhistische Mönche zu der Bewegung. Es dauert nicht lange, bis die Proteste gegen Preiserhöhungen wieder den Sturz des Regimes forderten.
Die Mönche übernahmen die Führung der neubelebten Bewegung und veröffentlichten einen Aufruf zu Massenprotesten. Darin stand: »Wir erklären den bösartigen Militärdespotismus, der unsere Bevölkerung in allen Lebensbereichen, auch die Geistlichen, in Armut und Elend stürzt, zum Feind aller unserer Bürger.«
Vertrauen in Aung San Suu Kyi
Diesmal allerdings war das Vertrauen in Suu Kyi und ihre NLD wesentlich stärker. Arbeiteraktionen hielten sich sehr in Grenzen.
Es herrschte das Gefühl, dass das Militär bald einer demokratischen Herrschaft Platz machen würde.
Aber die wiederbelebte Protestkampagne wurde auch diesmal vom Militär und der Polizei unterdrückt und ebbte bald ab.
Nicht zuletzt die US-Intervention in die Politik des Landes leistete ihren Beitrag zur Niederschlagung.
Kompromiss mit dem Regime
Die Regierung Barack Obamas erblickte enorme strategische Vorteile darin, sich das Land als Bündnispartner gegen ihren wichtigsten Wirtschaftskonkurrenten, China, zu sichern.
Das Regime nahm Verhandlungen mit der NLD auf, die nach einigen Jahren in einem »Kompromiss« mündeten.
Er sah die Aufhebung von Suu Kyis Hausarrest und das Abhalten von Wahlen vor, die aber dem Militär einen großen Teil der Sitze im Parlament sicherten.
Dieses Arrangement stieß auf große Zustimmung unter den Mittelschichten.
Frieden mit der Armee
Bei den Parlamentswahlen im Jahr 2015 errang die NLD einen haushohen Sieg. Suu Kyi wurde später zur Premierministerin ernannt. Sie schloss ganz schnell ihren Frieden mit der Armee.
Die neue Regierung und das Militär setzten sich nunmehr an die Arbeit, die immer noch lebendige Klassenwut wegen ökonomischer Missstände durch eine Welle ethnischen Nationalismus vom Kurs abzubringen.
Sie führten die unter britischer Herrschaft eingeführten und unter dem Militärregime fortgeführten rassifizierenden Bevölkerungskategorien wieder ein und erklärten manche als lediglich »assoziierte Bürger« von Myanmar.
Rohingya als Zielscheibe
Andere wurde noch schlimmer dämonisiert. Die muslimischen Rohingya im Bundesstaat Rakhaing wurden zu einer bevorzugten Zielscheibe von Suu Kyis Regime.
Die Armee erhielt freie Hand, sie in ihren Städten und Dörfern zu überfallen – um danach jene niederzuschlagen, die versuchten, sich mit Waffen zur Wehr zu setzen.
Was danach folgte, war eine Kampagne systematischer ethnischer Säuberung, die durchs Militär angeordnete Vergewaltigungen, Mord und das Niederbrennen von Häusern umfasste.
Vertrieben aus Myanmar
Hunderttausende Rohingya wurden aus Myanmar in das benachbarte Bangladesch vertrieben. Sie warten immer noch auf eine Rückkehrmöglichkeit.
Heute sind wieder Tausende auf die Straßen geströmt, um gegen die Absetzung von Suu Kyis Regierung zu protestieren. Es scheint, dass sogar die kleinlaute Bedrohung, die sie für die Kontrolle durch das Militär darstellte, in dessen Augen nicht tragbar ist.
Die Generäle befürchten, dass ihre NLD-Partei ein Türöffner für eine radikalere Demokratiebewegung darstellen könnte, die sie aus ihren Machtpositionen endlich verdrängen würde.
Macht der Arbeiterklasse
Die Lehre, die wir aus den vergangenen drei Jahrzehnten ziehen müssen, ist, dass die Arbeiter und Arbeiterinnen die Macht besitzen, die Generäle zu stürzen.
Sie können eine wesentlich demokratischere Gesellschaft von der Wurzel bis zum Blatt aufbauen, als sie Suu Kyi und ihre Gefolgsleute es sich jemals erträumt oder zu bieten haben.
Zuerst erschienen in Socialist Worker.
Aus dem Englischen von David Paenson
Foto: Wikimedia Commons (CC BY-SA 4.0)
Schlagwörter: Arbeiterklasse, Demokratie, Putsch