In Chile haben fast zwei Drittel in einem Referendum die neue Verfassung abgelehnt. Vor zwei Jahren sprachen sich noch drei Viertel für eine neue Verfassung aus. Über die Gründe sprachen wir mit Sam Flewett in Concón
marx21: Warum konnte der Konvent im Referendum keine Unterstützung für die neue Verfassung gewinnen, obwohl 2020 eine solide Mehrheit für eine neue Verfassung gestimmt hatte?
Sam Flewett: Es sind viele Analysen im Umlauf. Einige sprechen von einer »schweigenden Mehrheit«, andere geben Fake News die Schuld, wieder andere sprechen von einem Imageproblem des Konvents. Ich persönlich bin der Meinung, dass es dem Konvent nicht gelungen ist, die klare und glaubwürdige Botschaft zu vermitteln, dass die neue Verfassung den Lebensstandard der großen Mehrheit verbessern wird, weil er versucht hat, alles auf einmal zu ändern.
Die seit einem halben Jahr amtierende linke Regierung hat viele soziale Versprechen gemacht, aber bisher nur wenig davon umgesetzt. Die Popularität des linken Premierministers Gabriel Boric ist seit Anfang des Jahres dramatisch gesunken. Waren die Nein-Stimmen im Referendum auch ein Ausdruck von Frustration über die unerfüllten Versprechen der Regierung?
Boric hat keine Mehrheit im Kongress, so dass alle Reformen erst ausgehandelt werden müssen. Da alle relevanten Sozialreformen mit Staatsausgaben verbunden sind, muss die erste Reform, die umgesetzt werden muss, eine Steuerreform sein. Diese befindet sich derzeit im Parlament und wird in den nächsten Wochen zur Abstimmung gestellt.
Die Rentenreform wird demnächst ins Parlament eingebracht, aber 40 Jahre Neoliberalismus bedeuten, dass viele Menschen einem Rentensystem, das von der Orthodoxie des individuellen Sparens abweicht, misstrauisch gegenüberstehen. Die meisten glauben fälschlicherweise, dass die schlechten Renten auf Korruption in den Reihen der Verwaltung der Pensionsfonds zurückzuführen sind und nicht darauf, dass dem Rentensystem das Solidarprinzip fehlt.
Ein weiterer Grund ist, dass Boric einen weiteren Abzug aus den Pensionsfonds abgelehnt hat, obwohl er das aus der Opposition heraus noch unterstützt hatte. Das war also eine unpopuläre Entscheidung, aber angesichts der katastrophalen Auswirkungen, wohl eine notwendige.
Unpopuläre Entscheidung vor Referendum
Warum hätte ein weiterer Abzug aus den Pensionsfonds katastrophale Auswirkungen?
Die bisherigen Abzüge aus den Pensionsfonds waren eine Reaktion auf die mangelnde finanzielle Unterstützung durch die rechte Piñera-Regierung während der Pandemie und auch ein Mittel, um angeblich das private Pensionssystem der AFP zu schwächen. Die Abzüge und vor allem der politische Druck für weitere Abzüge gingen jedoch weiter, nachdem der Lockdown aufgehoben worden war und die Wirtschaft sich zu normalisieren begann.
Die Auswirkungen sind zweierlei. Erstens führt die Freisetzung einer großen Menge an Liquidität in eine Volkswirtschaft mit eingeschränkten Produktionskapazitäten zu einem weiteren Anstieg der Inflation. Zweitens hat die Liquidierung einer großen Menge von im Staatsbesitz befindlichen Vermögenswerten deren Preise gesenkt und die Kreditpreise erheblich in die Höhe getrieben. Die Hypothekenkosten sind heute um 50 Prozent höher als noch vor 18 Monaten. Mancherorts haben sich die Mieten verdoppelt, weil die Menschen keine Wohnungen mehr kaufen können und gezwungen sind, zu mieten.
Wo war die Unterstützung für die neue Verfassung im Referendum am stärksten?
In den städtischen Gebieten, insbesondere in Valparaíso und den südlichen Stadtteilen Santiagos. Bemerkenswert ist auch, dass einer der acht Stadtteile, die mehrheitlich für den Vorschlag stimmten, Ñuñoa war, eine liberaler Stadtteil der oberen Mittelschicht in Santiago.
Und wo war die Unterstützung am schwächsten?
In den traditionellen Regionen der Oberschicht und der oberen Mittelschicht Santiagos, sowie in den ländlichen Gebieten.
Das Referendum wurde in den armen Gemeinden verloren
Kann man eine Aussage darüber treffen, in welchen Teilen der Bevölkerung das Referendum verloren wurde?
Es hat den Anschein, dass es in den armen und vor allem in den armen ländlichen Gemeinden verloren wurde. In den städtischen Gebieten war nicht viel davon zu spüren, dass die Menschen aus der Arbeiterklasse für ihre Seite stimmten, und in den ländlichen Gebieten stimmte nur einer von vier für den Vorschlag. Es stimmt, dass auch die reichen Gemeinden den Vorschlag abgelehnt haben, aber ihre Zahl ist im Zusammenhang mit der Wahlpflicht irrelevant.
Wie sah der öffentliche politische Prozess im Vorfeld des Referendums aus?
Der Wahlkampf verlief im Vergleich zu den Präsidentschaftswahlen sehr viel verhaltener, dennoch gab es in den meisten Städten im ganzen Land Aktivitäten. Die Befürworter des Vorschlags hielten eine Kundgebung mit einer halben Million Menschen im Zentrum von Santiago ab, um das offizielle Ende der Kampagne zu feiern, was jedoch nicht ausreichte, um das Ergebnis noch zu ändern. Es gab nur sehr wenige inhaltlichen Diskussionen über den Vorschlag selbst, zumal sich die Ablehnungskampagne auf andere Themen wie Kriminalität und Inflation konzentrierte, um die Wähler zu verunsichern.
Polarisierung zwischen Rechts und Links
Wer organisierte die Unterstützung für den Vorschlag?
Die linken Parteien und sozialen Bewegungen.
Von wie vielen Organisationen sprechen wir?
Die politische Landschaft in Chile ist zersplittert. Es gab etwa ein Dutzend politischer Parteien, die den Vorschlag unterstützten, wobei die zentristischen Christdemokraten in der Mitte gespalten waren. Es ist schwer, die sozialen Bewegungen als solche zu beziffern.
Wer hat die Kampagne gegen die Verfassung organisiert?
Rechte Parteien und Abspaltungen von einigen Mitte-Links-Parteien. Außerdem die großen Wirtschaftsverbände.
Wie viel Geld floss in jede Kampagne?
In die Ablehnungskampagne flossen weitaus mehr Mittel als in die Befürworterkampagne, wobei ich mir über die genauen Zahlen nicht sicher bin.
Wie haben die Befürworterinnen und Befürworter der neuen Verfassung reagiert?
Mit Trauer und Unglauben. Vielen ist nicht klar, warum das Ergebnis bei der Abstimmung so schlecht war.
Misstrauen in das politische System von Chile
Einige deutsche Medien erklärten, dass Chile ein traditionell konservatives Land ist. Kann das das Ergebnis im Referendum erklären?
Ich würde sagen, dass weniger der Konservatismus als vielmehr ein völliger Mangel an Vertrauen in das politische System die Ursache ist. Angesichts einer langen Geschichte gebrochener Versprechen ist es nicht schwer, in den Köpfen der Wählerinnen und Wähler Zweifel an einer möglichen Verschwörung zur Enteignung von Häusern armer Menschen zu säen oder daran, dass das vorgeschlagene indigene Justizsystem Kriminelle frei herumlaufen lässt.
Andere behaupten eben, die Regierung sei nicht in der Lage gewesen, die Gewalt im Süden einzudämmen. Kannst Du einen kurzen Überblick über den Konflikte dort?
Der Konflikt dauert schon seit Jahrhunderten an, hat sich aber in den letzten Jahren verschärft. Die indigene Mapuche-Bevölkerung versucht, ihr Land zurückzuerobern, das ihnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewaltsam entrissen wurde. Ein antikolonialer Kampf, um es einfach auszudrücken. Die Araucanía ist einer der wenigen Teile Amerikas, der nicht von Spanien kolonisiert wurde, sondern von dem gerade unabhängig gewordenen chilenischen Staat, der die Mapuche-Bevölkerung schließlich besiegte.
Weder die jetzige noch die vorherige Regierung hat die Situation im Süden verbessern können. Allerdings gibt es jetzt Hinweise darauf, dass das organisierte Verbrechen einige der militanten Gruppen im Süden infiltriert, was die Sache weiter verkompliziert.
Antikolonialer Kampf beeinflusst Referendum
Welchen Nutzen hätte das organisierte Verbrechen von der Unterwanderung militanter Gruppen? Oder militante Gruppen davon, sich mit dem organisierten Verbrechen einlassen?
In einem Großteil des von den militanten Gruppen beanspruchten Landes wird in großem Umfang industrielle Forstwirtschaft betrieben. Eine der wichtigsten kriminellen Aktivitäten dort ist der Diebstahl von Holz im Wert von fast 100 Millionen US-Dollar pro Jahr. Es ist schwer zu sagen, was dort unten wirklich geschieht…
Die indigenen Mapuche kämpfen seit Jahrzehnten gegen ihre Unterdrückung. Hat die Regierung Boric wirklich etwas für die Menschen verändert?
In den sechs Monaten seit dem Amtsantritt von Boric hat sich im Süden nichts Nennenswertes geändert.
Wurde Präsident Boric dafür kritisiert, dass er die Militärpräsenz und den Ausnahmezustand im Süden fortgesetzt hat, obwohl er bei den Wahlen viel Unterstützung von indigenen Gruppen erhalten hat?
Er wurde kritisiert, aber in der Praxis hatte er kaum eine andere Wahl. Entweder verhängt er den Ausnahmezustand oder die Lkw-Fahrer legen das Land lahm, wie sie es während der Sommerferien im Februar und im März/April taten.
In welchem Verhältnis stehen die Lkw-Fahrer zum Konflikt in der Araukanía?
Die Lkw-Fahrer und vor allem ihre Besitzer haben eine lange Geschichte der rechten Agitation in Chile, die bis ins Jahr 1972 zurückreicht, als sie CIA-Gelder annahmen, um das Land stillzulegen und damit den Weg für Pinochet zu ebnen. Da sie mit der extremen Rechten in Verbindung gebracht werden, stehen sie auch der Siedlergemeinschaft im Süden nahe, die eines der Hauptziele der militanten Gruppen ist. Lkw-Fahrer waren ebenfalls Ziel von Angriffen militanter Gruppen, weshalb sie streikten und mehr Polizeipräsenz auf den Autobahnen forderten.
Aufgrund seiner einzigartigen langen und schmalen geografischen Form und in Abwesenheit eines modernen Eisenbahnsystems ist Chile besonders anfällig für Lkw-Streiks. Mit nur vier Lkw, die quer auf den beiden Spuren der Panamericana-Autobahn geparkt sind, lässt Chile sich zum Stillstand bringen. Auch im Norden des Landes gab es Anfang des Jahres einen Lkw-Streik gegen venezolanische Flüchtlinge.
Weder Rechts noch Links kann sich durchsetzen
Wird es jetzt einen neuen Vorschlag geben, um die Entscheidung für eine neue Verfassung zu erfüllen?
Das glaube ich erst, wenn ich es sehe. Es hat jedoch den Anschein, dass sich der Ton der Rechten zugunsten einer neuen Verfassung geändert hat.
Ist die derzeitige Verfassung nicht genau das, was die Rechten wollen?
Die derzeitige Verfassung ist das, was sie wollen, aber auf der anderen Seite ist es politisch nicht mehr machbar, sie aufrechtzuerhalten. Die Rechten und alle anderen brauchen auch Stabilität, die die alte Verfassung nicht mehr garantieren kann.
Wie reagiert die Regierung auf das Ergebnis im Referendum?
Es gab eine Kabinettsumbildung, aber die Rechte drängt auf eine weitere Abschwächung ihrer Pläne, wichtige Änderungen im wirtschaftlichen Bereich einzuführen. Leider hat das Ergebnis die Verhandlungsposition der Regierung erheblich geschwächt.
Wie reagieren die radikale Linke, die Gewerkschaften und die außerparlamentarischen Bewegungen darauf?
Mit Verzweiflung. Von wichtigen Gewerkschaftsgruppen wie der Lehrervereinigung habe ich bisher nichts Nennenswertes gelesen.
Hat die neue Regierung die Ursachen für den Aufstand im Jahr 2019 beseitigt?
Nein.
Wie geht es jetzt weiter?
Die Verfassung, die Renten, die Ungleichheit müssen alle noch angegangen werden. Dass wir keine Mehrheit im Parlament haben, erschwert die Dinge, vor allem vor dem Hintergrund einer weltweiten Wirtschaftskrise und einer lokalen Inflation von 14 Prozent.
Vielen Dank für das Gespräch, Sam.
Schlagwörter: Chile, Lateinamerika, Referendum