Im ihrem neuen Programmentwurf setzt sich DIE LINKE für die »Anerkennung des Existenzrechts Israels« ein. Das soll in der Nahostdebatte Klarheit schaffen, bewirkt aber das Gegenteil. Von Stefan Bornost
Die Linkspartei will die Anerkennung des »Existenzrechts Israels« in ihrem Parteiprogramm festschreiben. Fraktionschef Gregor Gysi sagt: »Angesichts des Holocaust können wir Deutsche uns nicht hinstellen und den Juden sagen, wir gönnen euch keinen eigenen Staat Israel. Deutsche Geschichte bindet nicht nur Konservative, sondern auch Linke.« Die stellvertretende Parteivorsitzende Katja Kipping äußert sich ähnlich: »Nach Auschwitz kann das Existenzrecht Israels nicht mehr in Frage gestellt werden.«
Die Nennung von Auschwitz und Holocaust legt nahe, dass es beim »Existenzrecht Israels« um die Frage geht, ob man Massenmord an Juden befürwortet oder nicht. Wer für das Existenzrecht Israels eintritt ist gegen einen neuen Holocaust. Und umgekehrt: Kritiker des Begriffs »Existenzrecht« und seiner Konsequenzen pflegen insgeheim Vernichtungsfantasien gegenüber Juden. So stellen Kritiker der LINKEN die Debatte dar, so war der Tenor der aktuellen Stunde im Bundestag zum vermeintlichen Antisemitismus in der LINKEN.
Scheindebatte
Doch diese Darstellung ist falsch. Linke Kritiker der Formulierung »Anerkennung des Existenzrechts Israels« treten selbstverständlich für das Recht der jüdischen Bevölkerung ein, im Gebiet des historischen Palästina in Frieden und Sicherheit zu leben. Auch geht es nicht um die Anerkennung Israels. Das ist ein diplomatischer Akt zwischen Staaten und keine Frage von linken Parteiprogrammen.
Warum viele Linke die Formel vom »Existenzrecht Israels« problematisch finden, macht eine Aussage von Transportminister Israel Katz vom August 2009 klar: »Die Weigerung, Israel als jüdischen Staat anzuerkennen, die Forderung nach einem Rückzug bis an die Linien von 1967 und nach dem vollständigen Rückkehrrecht für palästinensische Flüchtlinge – das bedeutet, Israels Existenz auszulöschen.« Das Existenzrecht Israels beinhaltet also laut Katz weit mehr als die körperliche Unversehrtheit seiner Bürger. Sie beinhaltet auch eine bestimmte Grenzziehung und die Festlegung auf die Verfasstheit als »jüdischer Staat«. Das ist auch der Kern der Debatte zwischen Befürwortern und Kritikern der Formel vom Existenzrecht.
Umstrittene Grenzen
Zur Frage der Grenzen: Israel hat keine festgelegten Staatsgrenzen. Das Land expandiert. Dies geschieht einerseits territorial, durch Annexion ganzer Landstriche – wie im Fall von Ostjerusalem im Jahr 1967 und den Golanhöhen 1981. Andererseits findet die Expansion durch Landbesetzungen und den Aufbau von Siedlungen in den nach 1967 zusätzlich besetzten Gebieten statt. Dieser Prozess läuft fortwährend. Am 11. August erteilte der israelische Innenminister Eli Jischai die Genehmigung für ein umstrittenes Bauprojekt im Gebiet Ramat Schlomo mit insgesamt 1600 Wohnungen. Dazu soll der Bau von 2600 weiteren Wohnungen in den Siedlungen Givat HaMatos und Pisgat Zeev kommen. Alle drei Siedlungsprojekte befinden sich auf besetztem Gebiet.
Die Palästinenser beschuldigen Israel, durch den Siedlungsbau die Annexion weiterer Gebiete vorzubereiten und dadurch die Hoffnung auf einen palästinensischen Staat endgültig zu zerschlagen. Viele Palästinenser kennen die Worte der ehemaligen israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir aus dem Jahr 1969: „Wie können wir besetzte Gebiete zurückgeben? Da gibt es keinen, dem wir diese zurückgeben können. So etwas wie Palästinenser gibt es nicht.« Zwei Jahre später fügte Meir hinzu, dass Israels »Grenzen dadurch bestimmt werden, wo Juden leben, nicht wo es auf der Landkarte eine Linie gibt.« Gleichzeitig ordnete sie an, die »Grüne Linie«, die Grenze Israels bis zum Krieg 1967, aus offiziellen Landkarten zu entfernen. Im Jahr 2007 versuchte die damalige Erziehungsministerin Yuli Tamir die Grüne Linie wieder in den Schulbüchern einzuführen und damit zumindest eine mögliche spätere Grenze anzudeuten. Jedoch scheiterte sie an den Mehrheiten im Parlament. Der damalige Ministerpräsident Ehud Olmert sagte dazu: »Es gibt eine Verpflichtung zu betonen, dass die Position der Regierung und der öffentliche Konsens die Rückkehr zu den Grenzlinien von 1967 ausschließen.«
Historische Begründung
Auch die amtierende Regierung hält sich die Eingliederung des Westjordanlandes offen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hielt am 14. Juni 2009 an der Bar-Ilan-Universität eine vielbeachtete außenpolitische Grundsatzrede. Dort hieß es: »Die Verbindung des jüdischen Volkes mit diesem Land existiert seit über 3500 Jahren. Judäa und Samaria, die Orte, an denen unsere Vorväter Abraham, Isaak und Jakob schritten, unsere Vorväter David, Salomo, Jesaja und Jeremia – dies ist kein fremdes Land, dies ist das Land unserer Vorväter. Das Recht des jüdischen Volkes auf einen Staat im Lande Israel ergibt sich nicht aus der Abfolge von Katastrophen, die im Verlauf von 2000 Jahren über das jüdische Volk hereinbrachen: Verfolgungen, Vertreibungen, Pogrome, ›Ritualmord‹-Anschuldigungen, Morde, die im Holocaust ihren Höhepunkt erreichten, eine beispiellose Tragödie in der Geschichte der Nationen. (…) Das Recht, unseren souveränen Staat hier zu errichten, im Lande Israel, ergibt sich aus einer einfachen Tatsache: Eretz Israel ist die Geburtsstätte des jüdischen Volkes.«
Hierbei ist bemerkenswert, dass Netanjahu einen Anspruch auf Judäa und Samaria formuliert – das ist die israelischen Bezeichnung für das Westjordanland. Dieser Anspruch wird nicht mit der Katastrophe des jüdischen Volkes begründet, sondern historisch.
Denn Israel ist eine starke Regionalmacht im Nahen Osten, besitzt eine Hightecharmee, Atomwaffen und die Unterstützung der USA sowie fast aller europäischer Staaten. Mit einer existenziellen Bedrohungslage, gar durch die Palästinenser, kann die israelische Regierung eine Annexion schwerlich legitimieren.
Rückgriff auf die Bibel
Deshalb werden die Ansprüche historisch begründet, verdichtet in der Bezeichnung »Eretz Israel«. Anders als die amtliche Bezeichnung »Medinat (Staat) Israel« ist »Eretz (Land) Israel« ein ideologisch aufgeladener Begriff, dessen Umfang noch unbestimmbarer ist als die ohnehin schon vagen territorialen Ansprüche des Staates. Der Begriff geht direkt auf die Erzählungen der Bibel von einem ewigen Bund zwischen Gott und dem jüdischen Volk zurück, der unter anderem das Versprechen auf den unwiderruflichen Besitz eines Gebietes »vom Flusse Ägyptens bis zum großen Fluss, dem Euphrat« (Genesis 15, 18) enthalten haben soll.
Zur Zeit der Staatsgründung wurde dies auch so ausgelegt. Staatsgründer Ben Gurion äußerte sich während des Unabhängigkeitskriegs 1948 dementsprechend: »Ein christlicher Staat sollte (im Libanon) errichtet werden mit der südlichen Grenze am Ufer des Litsani. Wir werden ein Bündnis mit ihm schließen. Dann werden wir die Arabische Legion aufreiben, Amman bombardieren, wir werden auch Transjordanien eliminieren; Syrien wird an uns fallen. Wenn Ägypten weiter gegen uns zu kämpfen wagt, werden wir Port Said, Alexandria und Kairo bombardieren und auf diese Weise werden wir den Krieg beenden und die Rechnung unserer Urväter mit Ägypten, Assyrien und Aram begleichen.«
Legitimation von Vertreibungen
Mittlerweile ist von einer Annexion Syriens (mit Ausnahme des Golans) und Jordaniens keine Rede mehr. Anders sieht das offensichtlich mit dem Westjordanland aus. Deshalb hat die israelische Regierung scharf abwehrend auf Obamas Vorschlag reagiert, die Grenzen von 1967 zum Ausgangspunkt von Gesprächen zu machen. Diese Unklarheit über den Grenzverlauf Israels ist ein wesentlicher Grund, der Formel vom Existenzrecht Israels skeptisch gegenüber zustehen. So fragt Brian Klug, ein britisch-jüdischer Philosoph an der Universität Oxford: »Was bedeutet es, von einem Staat zu sagen, er habe ein ›Existenzrecht‹, wenn wir die Ausdehnung des Territoriums, auf dem dieses Recht ausgeübt wird, gar nicht kennen?« Aus dem Grund hat zum Beispiel die PLO 1993 den Staat Israel anerkannt, aber nicht das »Existenzrecht«. Das mag nach Wortklauberei klingen, ist aber real der Unterschied zwischen einem einfachen diplomatischen Akt zwecks Verhandlungsführung und der Legitimation früherer und möglicher weiterer Vertreibungen.
Kein lebensfähiger Staat
Der Verfassungsrechtler John V. Withbeck machte die Tragweite mit einem Vergleich deutlich: »Selbst die US-Regierung forderte im 19. Jahrhundert die überlebende Urbevölkerung Amerikas nicht dazu auf, öffentlich die ›Rechtmäßigkeit‹ der ethnischen Säuberung durch die Bleichgesichter zur Vorbedingung für die Diskussion darüber zu machen, welche Reservate man für sie schaffen solle.«
Mit dem Zuerkennen eines Existenzrechts für einen israelischen Staat, der möglicherweise die jetzt zusätzlich besetzten Gebiete umfasst, wäre erst recht kein eigenständiger, lebensfähiger Palästinenserstaates möglich. Das sollte auch denjenigen in der LINKEN zu denken geben, die das Existenzrecht ins Parteiprogramm schreiben wollen. DIE LINKE kann nicht ohne Widerspruch beides fordern: Sowohl den Rückzug auf die Grenzen von 1967 inklusive Zweistaatenlösung als auch ein Existenzrecht Israels, dessen Inhalt im Wesentlichen die israelische Regierung definiert. Beides schließt einander aus.
Bürgerrechte für alle?
Die andere wichtige Dimension der Existenzrechtsfrage berührt die interne Verfassung: Was ist mit dem Begriff Israel gemeint: Der Staat als solcher, der allen seinen Bürgern gleiche Rechte gewährt, also auch den zwanzig Prozent Palästinensern mit israelischer Staatsangehörigkeit? Oder ein exklusiv jüdischer Staat? Dazu gibt es innerhalb des israelischen Establishments keine zwei Meinungen: Das Existenzrecht bezieht sich auf den Charakter Israels als »jüdischer Staat«. Darüber, was »jüdischer Staat« genau heißt, gibt es im israelischen politischen Spektrum immerhin verschiedene Meinungen. In der Diktion der Ultraorthodoxen ist dies ein Staat, in dem die »Halacha« gilt, die göttliche Religionsgesetzgebung – das jüdische Gegenstück zur Scharia. Die Orthodoxen sind in Israel nicht marginal: Sie sind durch die Nationalreligiöse Partei und die Parteien der Nationalen Union im Parlament vertreten und verfügen mit Gush Emunim, dem »Block der Getreuen«, über eine sehr starke außerparlamentarische Lobby. Knapp 30 Prozent der israelischen Bevölkerung bezeichnen sich als »tief religiös«.
Religiös motivierte Gesetze
Entsprechend finden sich viele Elemente der Halacha in der israelischen Gesetzgebung – im Scheidungsrecht wird zum Beispiel die Frau klar benachteiligt. Auch die Gesetze zum Verbot von Schweinezucht und Schweinefleischverkauf sind religiös motiviert. Außerdem sind wesentliche religiöse Institutionen wie das Oberrabinat, die Lokalrabbinate, die religiösen Räte und das religiös-staatliche Schulsystem Staatsorgane. Wichtige Lebensbereiche wie Heirat, Scheidung, Friedhöfe werden von religiösen Institutionen verwaltet.
Unter den Nichtorthodoxen, die etwa 70 Prozent der jüdischen Bevölkerung ausmachen, findet sich ein breites Spektrum von Auffassungen zu Synagoge und Staat. Nur eine Minderheit von liberalen oder ausgesprochen weltlichen Juden meint, dass Religion Privatsache sei und keinen Einfluss auf den Staat nehmen sollte. Etwa 50 Prozent dagegen sind »Traditionalisten«, die religiöse Vorschriften zum Teil befolgen und zum Teil nicht befolgen und für eine Präsenz, aber nicht Dominanz der Religion in der Politik sind. (Diese Aufschlüsselung folgt Materialien der Bundeszentrale für politische Bildung zum Thema Israel).
Benachteiligte Araber
Die enge Verknüpfung zwischen Religion und Staat wirft die Frage des Status der Nichtjuden in der israelischen Gesellschaft auf. Schließlich stellen die »israelischen Araber« ein Fünftel der Bevölkerung. Diese Bevölkerungsgruppe ist im jüdischen Staat klar benachteiligt. Der Untersuchungsbericht einer Kommission der israelischen Regierung stellte im Jahr 2000 fest, dass der Umgang der Regierung mit dem arabischen Sektor hauptsächlich von Nachlässigkeit und Diskriminierung gekennzeichnet sei und dass »die Regierung nicht die nötige Sensibilität gegenüber den Bedürfnissen der arabischen Bevölkerung zeigt und nicht genug dafür unternimmt, die staatlichen Ressourcen gerecht zu verteilen«. 36 der 40 Städte in Israel mit der höchsten Arbeitslosigkeit sind arabische Städte. Dem israelischen Zentralbüro für Statistik zufolge lagen im Jahr 2003 die durchschnittlichen Gehälter arabischer Arbeitskräfte um 29 Prozent niedriger als die jüdischer Arbeitskräfte. Im Jahr 2006 waren nur fünf Prozent der Angestellten im öffentlichen Dienst Araber.
Laut einer Untersuchung der hebräischen Universität Jerusalem von 2007 über die Ressourcenverteilung im Bildungssektor wurde in jüdische Kinder dreimal so viel Geld investiert wie in arabische. Einer Studie der Universität von Haifa aus dem Jahr 2003 zufolge existiert eine Tendenz, dass arabische Bürger höhere Gefängnisstrafen erhalten als jüdische Einwohner. Ein im März 2010 von verschiedenen israelischen Bürgerrechtsgruppen herausgegebener Bericht bemerkt zudem, dass die gegenwärtige Knesset die »rassistischste in der israelischen Geschichte« sei. In den Jahren 2008 und 2009 seien 21 Gesetze verabschiedet worden, die die arabische Minderheit diskriminierten.
Automatische Diskriminierung
Die Definition Israels als »jüdischer Staat« – statt eines weltlichen Staats, in dem Juden und Araber gleichberechtigt zusammenleben -, führt automatisch zur Diskriminierung des arabischen Teils der Bevölkerung. Das Existenzrecht Israels, das grundsätzlich als Existenzrecht des jüdischen Charakters des Staates gedacht ist, rechtfertigt diese Diskriminierung. Das kann nicht im Sinne der LINKEN sein, die sich den Kampf gegen Diskriminierung auf die Fahnen geschrieben hat.
Leider drängt sich der Verdacht auf, dass die Konsequenzen einer Proklamierung des Existenzrechts Israels durch DIE LINKE nicht durchdacht wurden. Insgesamt spielen die reale Situation vor Ort, die umstrittenen Grenzverläufe und die Situation der arabischen Israelis in der deutschen Nahostdebatte nur eine Nebenrolle. Es besteht die Gefahr, dass DIE LINKE einen Kampfbegriff der israelischen Regierung zur Rechtfertigung der Entrechtung der Palästinenser gutgläubig übernimmt. Deshalb sollten die Delegierten des Programmparteitags gegen eine Unterstützung der Forderung nach einem »Existenzrecht« Israels votieren.
Zur Person:
Stefan Bornost ist Autor von marx21.
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Schlagwörter: Israel