In Katalonien und in Schottland kämpfen viele Menschen für die Unabhängigkeit. Manche Linke lehnen diese Kämpfe ab, weil sie die Arbeiterklasse spalten würde, andere unterstützen sie, weil sie darin Befreiungskämpfe sehen. Dave Sewell über nationale Bewegungen, Marxismus und Klasse. Aus dem Englischen von David Paenson
Ist die Region um Barcelona Teil eines Landes, das sich Spanien nennt, oder ist sie das Land Katalonien? Und spielt es überhaupt eine Rolle? Die Zusammensetzung von Nationen ist weitgehend zufällig und es gibt nur weniges, was die Menschen einer Nation nicht mit den Menschen aller übrigen Nationen gemein hätten. Für revolutionäre Sozialistinnen und Sozialisten ist die entscheidende Teilung jene zwischen Klassen – zwischen den lohnabhängig Beschäftigten, die die Gesellschaft am Laufen halten, und den Bossen, die sie ausbeuten. Diese Gemeinsamkeit eint sie über nationale Grenzen hinweg. Karl Marx und Friedrich Engels schlossen das Kommunistische Manifest mit dem berühmten Aufruf: »Proletarier aller Länder vereinigt euch!«.
Der Kampf gegen nationale Unterdrückung
Das heißt aber nicht, dass Sozialistinnen und Sozialisten nationale Kämpfe ignorieren oder ablehnen. Als die Kolonien ihre Unabhängigkeit von den europäischen Mächten erkämpften, schufen sie neue Nationalstaaten. Trotzdem waren diese Siege gegen Unterdrückung begrüßenswert. Im gleichen Geiste unterstützen heute viele Sozialistinnen und Sozialisten den Kampf der Palästinenser um ihre Rechte gegen Israel. Manchmal haben erfolgreiche Befreiungskämpfe in den Kolonien die Imperien in eine Krise gestürzt und Aufstände in den imperialen Machtzentren angespornt. Das gilt für das von Großbritannien beherrschte Irland, das von den Franzosen beherrschte Algerien und für die von Portugal beherrschten Kolonien in Afrika. Aber nicht alle nationalen Kämpfe gleichen sich. Weder Katalonien, noch Schottland übrigens, werden gleichermaßen unterdrückt, wie es Europas Kolonien wurden. Ihre Eliten beteiligten sich vielmehr selbst eifrig an den spanischen und britischen Eroberungen.
Welche Haltung nahmen Marx, Engels und Lenin ein?
Der russische Revolutionsführer Lenin trat dafür ein, »jede nationale Forderung, jede nationale Lostrennung unter dem Gesichtspunkt des Klassenkampfes der Arbeiter« zu werten. Auch Marx und Engels handelten nach dieser Maxime. Sie ergriffen Partei für die Unterstützer des ungarischen und österreichischen Nationalismus in Zentraleuropa, während sie hinter dem Nationalismus der kleinen slawischen Staaten Reaktionäre am Werk sahen, die den Fortschritt aufhalten wollten. Doch der Imperialismus hat wiederholt die Sprache der nationalen Befreiung übernommen, nicht nur zu Lenins Zeiten. Die USA haben die nationalen Kämpfe der Kosovaren und der Kurden gekapert, um ihre Kriege zu legitimieren. Die britischen Herrscher rechtfertigen ihre anhaltenden Besitzansprüche auf die Überbleibsel ihres Imperiums mit dem absurden Gerede vom Selbstbestimmungsrecht für Gibraltar und die Falkland-Inseln. Lenin schrieb: »Wollen wir den Sozialismus nicht preisgeben, so müssen wir jeden Aufstand gegen unseren Hauptfeind, die Bourgeoisie der Großmächte, unterstützen, wenn es nicht ein Aufstand einer reaktionären Klasse ist.« Arbeitereinheit ist also nicht das Gleiche wie staatliche Einheit.
Nationalisten und die Unabhängigkeit
Aber stärkt eine nationale Unabhängigkeitsbewegung nicht die Nationalisten? Das Beispiel Schottland ist hier interessant. Viele auf der Linken vertraten die Meinung, eine Unterstützung für die schottische Unabhängigkeit beim Referendum von 2014 wäre nur Wasser auf die Mühlen der Nationalisten und die Lohnabhängigen spalten würde. Aus Angst vor dem schottischen Nationalismus schlugen sie sich auf die Seite des britischen Nationalismus. Doch diese Haltung entfremdete Unterstützerinnen und Unterstützer der Unabhängigkeit aus der Arbeiterklasse von ihrer klassischen Heimat in der Labour Party und spielte in die Hände der schottischen Nationalisten. Die Botschaft der Labour-Linken an die Arbeiterinnen und Arbeiter in England und Wales war, dass sie mit ihren Herrschern ein gemeinsames Interesse an der »Union« hätten.
Selbstbestimmungsrecht und die Linke
Ganz anders ging die Linke zu Lenins Zeiten mit der Frage um: Denn das Eintreten der Bolschewiki für das Selbstbestimmungsrecht von Teilen des russischen Imperiums im Jahr 1917 trug dazu bei, die Arbeiterinnen und Arbeiter im gesamten Reich um das gemeinsame revolutionäre Ziel zu sammeln. Auch Marx argumentierte, die englische Arbeiterklasse würde erst dann ihre Herrscher besiegen können, wenn sie den Bruch mit ihnen vollzögen und die irische Unabhängigkeit unterstützten.
Woher kommen Nationen?
Der richtige Umgang mit nationalen Kämpfen setzt voraus, dass wir die Lüge von der Natürlichkeit von Nationen durchschauen. Nationen sind eine relativ neue, mit dem Aufstieg des Kapitalismus verbundene Erfindung. Bis ins späte Mittelalter hinein besaßen die Bewohner des englischen Königreichs keine gemeinsame Identität. Die meisten verließen kaum den Umkreis ihrer Dörfer, und wenn doch, hätten sie die Dialekte anderer Landesteile nicht verstanden. Es gab keine nationale Regierung, nur eine vage Untertanentreue einem fernen König gegenüber. Verschiedene Faktoren änderten allmählich das Bild.
Die Könige brauchten die Zustimmung zu höheren Steuern, um ihre Kriege zu finanzieren. Das eröffnete verschiedenen Klassen die Möglichkeit, nicht nur wegen lokaler Angelegenheiten zu revoltieren, sondern um ein Mitspracherecht im gesamten Königreich zu kämpfen. Die zentrale Rolle spielte dabei eine neue Klasse, die durch den Handel und nicht durch feudale Lehnspflichten reich wurde. Die fragmentierte städtische und dörfliche Landschaft behinderte die Ausdehnung ihrer Geschäfte. Sie brauchten einen größeren Markt mit gemeinsamen Regeln und einer gemeinsamen Sprache. Das schuf das Bedürfnis nach einer mächtigen Zentralregierung.
Der Nationalstaat im Kapitalismus
Viele Menschen aus der wachsenden und belesenen Mittelschicht begehrten eine Anstellung in einer solchen Regierung. Die Idee einer Nation vereinigte die Hoffnungen verschiedener Klassen in ihrem Widerstand gegen die Missstände des Feudalismus. Sie gab den Armen das Gefühl, sie hätten die gleichen Interessen wie die Kapitalisten und ihr Staat, statt in ihnen ihre Unterdrücker zu erblicken. Der Nationalstaat half auch einheimischen Kapitalisten in ihrem Kampf gegen ausländische Konkurrenten. So wurden Nationen zum bevorzugten Modell der kapitalistischen Entwicklung.
Die Kolonisten auf dem amerikanischen Kontinent kämpften um die Beendigung der britischen und der spanischen Herrschaft und um die Stärkung ihrer eigenen Macht. Frustrierte und von anderen Nationen bedrängte Eliten in Teilen Europas kämpften um die Schaffung von neuen Nationen. Unabhängigkeitskämpfe ersetzten den Kolonialismus durch nationalistische Regierungen, die der Entwicklung einer nationalen Kapitalistenklasse höchste Priorität einräumten. Diese Wellen nationaler Kämpfe widerspiegeln verschiedene Stadien in der Weltgeschichte. In der heutigen, beinahe vollständig von entwickelten Nationalstaaten zerstückelten Welt, gibt es kaum Platz für neue.
Schottland, Katalonien und die Unabhängigkeit
Wie sollen wir nun Schottland und Katalonien einordnen? Manchen Nationalstaaten, wie dem durch die Französische Revolution geschaffenen, gelang es, verschiedene Regionen zu einer Einheit zusammenzuknüppeln. Aber da, wo der Kapitalismus sich später entwickelte, hatten es nationale Bewegungen schwerer, sich zusammenzuschweißen. Der aus dem Widerstreit der Monarchien schließlich im 15. Jahrhundert entstandene einheitliche spanische Staat war von der Aristokratie dominiert. Der Kapitalismus konnte sich letztendlich dennoch entfalten, allerdings am erfolgreichsten außerhalb des Spanisch sprechenden Zentrums. Die angehenden Nationenbauer waren unter sich gespalten, die einen versammelten sich unter der Fahne des großen aber trägen Spaniens, während die kleineren Regionen Katalonien und das Baskenland eine dynamischere Entwicklung erfuhren.
In Großbritannien entwickelte sich der Kapitalismus frühzeitig. Der englische und schottische Nationalismus waren zur Zeit der Union bereits fest verankert. Sie überlebten in und mit dem neuen britischen Nationalismus, der auf dem expandierenden Weltreich gründete. Diese Nationalismen waren nicht progressiv. Im Jahr 1909 beispielsweise setzten die katalanischen Bosse die Waffe des Nationalismus gegen aufständische Arbeiter ein.
Wie die Unabhängigkeitsbewegung in Schottland und Katalonien wachsen konnte
Sowohl in Katalonien als auch in Schottland war die Unterstützung für die Unabhängigkeit bis vor wenigen Jahrzehnten begrenzt. Sie wurde zu einem zentralen Anliegen vor allem wegen des Versagens der reformistischen Parteien und im Windschatten der Finanzkrise von 2008. Das eröffnete die Tore für eine neuartige nationalistische Bewegung. Unter den Unterstützern für die Unabhängigkeit finden sich einige Großunternehmer und viel mehr kleinere Geschäftsleute nebst Politikern, Bürokraten und Intellektuellen, die nach mehr Einfluss hungern. Aber wachsen konnten diese Bewegungen vor allem durch das Hinzugewinnen von Millionen Menschen aus der Arbeiterklasse. Die vielen Stimmen ärmerer Menschen für die schottische Unabhängigkeit im Jahr 2014 waren eine Kampfansage an die konservative Regierung und ein Votum für eine andere Gesellschaft.
Das katalanische Referendum hätte gar nicht erst stattfinden können, wenn nicht Millionen Menschen aus der Arbeiterklasse es nicht tatkräftig verteidigt hätten. Nationalistische Regionalregierungen bemühten sich um die Stimmen aus der Arbeiterklasse und eröffneten somit Arbeiterinnen und Arbeitern einen Raum, in dem sie ihre eigenen Forderungen formulieren konnten. Politische Persönlichkeiten griffen diese Forderungen auf und machten Versprechungen. Beispielsweise auf einem Massenprotest für Flüchtlinge verkündete die katalanische Regierung, die Unabhängigkeit sei der Schlüssel für die Aufnahme von mehr Menschen. Währenddessen spricht sich die schottische Regierung in Worten gegen Internierungslager für Migranten und gegen die nuklearen Trident-U-Boote aus.
Was kann die Unabhängigkeit bringen?
Aber weder Schottland noch Katalonien würden sich nach der Unabhängigkeit in sozialistische Paradiese verwandeln. Politikerinnen und Politiker, die Polizei, faschistische Organisationen und die Bosse beider Länder werden angreifen, egal in welchem Nationalstaat sie sich befinden. Sozialistinnen und Sozialisten müssen sich auf diese Angriffe vorbereiten – und sie nicht kleinreden, indem sie den Nationalismus schönfärben. Zugleich dürfen sie den Nationalisten durch Abseitsstehen von den Kämpfen um Unabhängigkeit kein Monopol überlassen.
Nicht alle in die Unabhängigkeit gesetzten Hoffnungen sind illusionär. Die Feindschaft seitens der herrschenden Klasse ist Beweis genug, dass sie darin eine Bedrohung für ihr System sehen. Die katalanische Unabhängigkeit würde den spanischen Staat in die Krise stürzen. Sie würde eine breite Bresche in den Mauern der Nato und der Europäischen Union schlagen. Und jedweder Versuch seitens Kataloniens, in diese Institutionen wieder aufgenommen zu werden, würde breite Debatten über Militarisierung, Grenzkontrollen und Kürzungsmaßnahmen, um das alles zu finanzieren, entfachen. Das ist ein Kampf, den Linke unterstützen sollten. Und die Lehren, die Menschen ziehen – beispielsweise wie eine Basisorganisierung die Polizei effektiv in die Schranken weisen kann – werden sie nicht so schnell wieder vergessen.
Im heutigen Katalonien ist der Kampf um Unabhängigkeit durch die Aktionen und Argumente von Arbeiterinnen und Arbeitern geprägt. Ihr Sieg würde einen neuen Nationalstaat schaffen – aber ihr Kampf könnte uns einer Welt ohne Nationalstaaten näher bringen.
Zum Text:
Der Artikel erschien zuerst auf Englisch in der britischen Zeitung »Socialist Worker«. Aus dem Englischen von David Paenson.
Schlagwörter: Arbeiterklasse, Friedrich Engels, Internationalismus, Kapitalismus, Karl Marx, Katalonien, Marxismus, Nationalismus, Schottland, Unabhängigkeit, Unabhängigkeitsbewegung, Wladimir Lenin